Rabenkinder

Kurzgeschichte

von  kalira

Rabenkinder

Es wird damit beginnen, dass ich Vaters Schnapsflasche in der Vogeltränke entdecken und mir Vater als einen großen, schwarzen Vogel vorstellen werde. Wie er auf dem Rand schwankend nippt, um seinen unvorstellbaren Durst zu lindern, nippt und stärker ins Schwanken gerät, solange, bis er die schwarzen Flügel ausstrecken müssen und doch den Sturz nicht wird abwenden können. Und weil ich den Abend schon zum Morgen zählen werde, weiß ich bereits jetzt, dass ich meinen Vater, diesen alten, schwarzen Vogel, nicht länger werde ausstehen können.

Vater war immer schon unerreichbar gewesen. Er versteckte sich irgendwo zwischen seinen breiten Schultern und seiner schmalen Stirn. Wenn etwas von ihm zutage trat, dann waren es leise Flüche, die eher seine Angst als seine Wut hörbar machten. Er schlug dann mit der Hand auf den Tisch, aber nie so, dass das Geschirr klirrte, stieß seinen Stuhl zurück, schaute uns einem nach dem anderen ins Gesicht und verließ das Zimmer. Ich kenne Vater immer nur auf der Flucht. Nur wenn wir zusammen zum See fuhren, die Angeln auswarfen und uns still verhielten, blieb auch er reglos. Er lehnte seinen Blick gegen die Wasseroberfläche und bemerkte oft nicht, wenn seine Angelpose unter Wasser gegangen war. So werde ich ihn in Erinnerung behalten wollen, so auf das Wasser blickend. Auch dann noch, wenn der große, schwarze Vogel längst abgestürzt sein wird.

Ich sitze aufrecht vor dem Krankenbett meiner Schwester und rede mir ein, in Weiß gestrichenen Räumen existieren keine Totenbetten. Das Sterben funktioniert nicht im Hellen. Ihre Haut ist fahl und irgendwie selbst ein Krankenzimmer, in dem sie liegt und nicht gesunden wird. Sie liegt dort hinter ihrer weißen Haut in ihre Laken gewickelt und stirbt. Weshalb sie nicht vor Ort und Stelle, noch direkt am Unfallpunkt gestorben ist, denke ich, und möchte es nicht denken, weiß aber, es wäre besser, wäre für alle weniger schmerzhaft gewesen, wenn der Krankenwagen aufgehalten und das Herz meiner Schwester nicht wieder in Betrieb genommen worden wäre. Wiederbeleben bedeutet nicht immer zum Besseren, sagte ich der Ärztin, die tatsächlich ein abgestandenes Lächeln als Trost versuchte.
Seither liegt meine Schwester in diesem Bett und wird nicht mehr zu sich kommen. Im Gegenteil, von ihr ist weniger und weniger da, bald gar nichts mehr. Erst versagen die Nieren, dann die Lunge. Das sieht man kaum, weil es sich hinter ihrer fast durchsichtigen Haut zuträgt. Aber jetzt haben sie ihr ein Bein abgenommen. Haben ihren Körper zerteilt und ein Einzelstück weggenommen. Sie schrumpft, denke ich, schrumpft aus dem Leben bis hin zum Tod, der in diesen weißen Wänden unmöglich sein wird.

Ich lehne meinen Kopf an das Glas, das mich in ein oder zwei Tagen von meiner Schwester trennen wird. Der Zugang zu ihr wird auch den engsten Verwandten verwehrt bleiben. Weil auch die engsten Blutsverwandten nicht mehr aushelfen können, aber eine Gefahr mit möglicher Todesfolge darstellen. Ich lehne gegen das Glas und stelle mir die Geschichte vor, die damit beginnt, dass ich die Schnapsflasche eines großen, alten Vogels finde.

Unsere Eltern waren schön und schlank. Bis zu den Schultern ging beiden das Haar, unserem Vater in dunkelblonden Locken, seiner jungen Frau in glatten Strähnen. Sie hätten zusammen auf Weltreise gehen und nicht mehr heimkehren können, stattdessen bewirtschafteten sie den Hof der Familie. Mutter kochte große Töpfe Kartoffeln und Vater schnitt Gras, fütterte die Hasen, die Hühner, machte Heu und baute uns Indianerbogen, mit denen wir durch den Park streiften. Einmal baute er uns eine Klapper für das Fahrrad. Ein Stück Plastik, das er an der Achse mit Draht befestigt hatte und das beim Fahren in die Speichen ragte. Ein Lärm, der kundtat, wir waren unterwegs.
Der alte, schwarze Vogel. Irgendwann war er da, war aus meinen schönen Vater herausgetreten und hatte von ihm nur das Gesicht übrig gelassen. Ich sah ihn meist im Garten, sah ihn die Vogeltränke säubern, die Beete harken, den Komposthaufen schichten. Zwischen den meterhohen Sonnenblumen wandelte er wie durch einen Wald, und manchmal dachte ich, er ist jetzt genauso, wie er am Wasser war. Still und ruhig, die sinkende Pose nicht bemerkend.

Wie viele menschliche Organe lassen sich maschinell ersetzen, wie viel vom Leben kann künstlich erhalten werden, fragte ich die Ärztin mit dem Lächeln, und sie nickte nur. Vielleicht haben Ärzte, abgesehen von ihren Fachtermini, keine Worte und ich nickte ihr nach. Was bleibt noch, wenn man alle Gliedmaßen entfernt, die Atmung kontrolliert hat und der Rest am dünnen Faden einer Infusionsflasche hängt? Und wie lange lässt das Herz sich täuschen? Ich habe Phantomschmerzen. Überall dort, wo meine Schwester nicht ist, tut es weh.

Vater und Mutter wurden mit der Zeit zwei unterscheidbare Variablen. Es waren nicht mehr unsere Eltern und uns beiden unbekannt. Plötzlich waren da meine Schwester und ich und in etwas Abstand zu uns, aber auch zueinander, war dort unsere Mutter und anderswo Vater. Wir verstehen es nicht, die Gleichung so aufzulösen, dass Familie rauskommt. Manchmal muss man sich mit der Unlösbarkeit einer Aufgabe abfinden. Und manchmal ist es genau diese Unmöglichkeit, die zu beweisen ist.

Ich habe also Vaters Schnapsflasche in der Vogeltränke gefunden. Ich ahnte, aber ich wusste nicht, oder ich gestand es mir nicht ein. Doch ein deutlicheres Versteck hätte der Vogel sich nicht suchen können. Zum ersten Mal bemerkte ich die Ähnlichkeit zwischen meinen Vater und einem Raben. Seine Flügel waren gestutzt, seine Federn zerzaust, unnütz. Also stolperte er durch die Tage wie ein Rabe über gefurchte Felder. Ziellos und stolz. Er gab sich die Schuld am Unfall meiner Schwester, weil sie vorher bei ihm gewesen war, weil sie ihn mit dem Rücken an die Wand gestellt und mit dem Finger fest in sein nicht offenes Versteck gezeigt hatte. Sie hatte den alten, schwarzen Vogel bei den Flügeln gepackt und herausgefordert.

Ich schaue durch das Glas zu ihr, wie unwirklich sie dort liegt ohne Lunge, ohne Nieren, ohne Bein. Vielleicht vergehen die Tage auch ohne dich, flüstere ich. Vater wird weiter schwanken, wird solange schwanken, bis er abhebt und stürzt. Ich werde die Gleichung nicht umstellen und das Rätsel von Familie nicht lösen.

Das abgetrennte Bein müsse bestattet werden, müsse auf eine Bahre gelegt, in einen maßgeschneiderten Sarg gebettet und beerdigt werden. Ich schaue durch das Glas auf die weiße Gestalt, die meine Schwester ist und stelle mir vor, während sie dort liegt, einen Teil von ihr unter die Erde zu bringen. Stelle mir mich an diesem kleinen ausgegrabenen Erdloch vor, wie ich weine, wie der alte Vogel schwankt und nicht versteht, weshalb er das Bein seiner Tochter begraben lassen soll. Wie wir schweigen und den maßgeschneiderten Sarg, der ein Kindersarg sein könnte, hinab lassen und mit Erde beschmutzen werden. Stelle mir meine Schwester bei bester Gesundheit vor, wie sie den Arm um mich legen und spöttisch in das Erdloch spucken würde. Da soll ich reinpassen? Sie würde ebenso wie der schwarze Vogel nicht begreifen, dass es ein Teil von ihr ist, den wir vergraben werden.

Mutter taucht selten auf. Sie ist eine Kuckucksmutter. Wir sind eine Federviehfamilie. Sie hat uns geboren und in das Nest meines Vaters gelegt. Ein Nest, hoch oben in den Spalten der Klippen. Und deswegen hat mein Vater diesen Fluchtkörper, weil er ständig versucht war, diesem Nest zu entkommen, dieser Einsamkeit und vielleicht auch diesen zwei kreischenden Jungvögeln, die so ganz anders waren, als er es ist. Vielleicht sind wir nicht die Kinder dieses großen, alten und schwarzen Vogels.

Es wird damit enden, dass ich das Bein meiner Schwester werde ausgraben lassen. Ich werde an ihrem Grab stehen, auf dieser schmalen Grasnarbe, die es umfassen wird und an das Heu, den Bullen, die Fahrradklapper und die Stunden am See denken. Vater wird mit seinen gestutzten Flügeln nicht länger abheben, nur noch hinstürzen können und Mutter wird bleiben, wo sie immer schon war. Irgendwo, wo wir nicht sind.

Und vielleicht vergehen ja dann die Tage.

Unsere Eltern sind schön gewesen, sie hätten auf Weltreise gehen und nicht wieder heimkehren sollen. Mutter ist eine grauhaarige Alte geworden. Ihr Rücken krümmt sich gegen den Wind, und wenn sie etwas sagt, dann immer im Ton einer Vorgesetzten. Wenn Mutter einem die Tür öffnet, befiehlt sie einzutreten, sie bittet nicht, sondern verlangt, dass man ohne Widerrede tut, was sie sagt. An den Fluchtmanövern ihres Mannes hat sie sich nie gestört. Während Vater in seiner trunkenen Abwesenheit glänzte, geriet das Leben meiner Mutter nur an Eckpunkten mit unseren zusammen. Sie war ein leuchtender Stern in ihrer mangelnden Anwesenheit. Sie hatte kaum Kenntnis von uns genommen. Nicht als uns die Milchzähne verloren gingen, oder meine Schwester wegen einer Blindarmentzündung im Krankenhaus lag, nicht als ich mir beim Sport den Arm gebrochen hatte oder als wir mit Auszeichnung unseren Schulabschluss machten.
Was aus der Schönheit unserer Mutter geworden ist, haben wir nicht bemerkt. Vielleicht hat sie sie eingetauscht gegen die Kraft sich gegen den Wind zu stemmen. Sie ist so nebenbei geworden, wie sie jetzt ist. Vielleicht sind wir als Kinder sooft mit der Abwesenheit konfrontiert worden, dass wir nicht wissen, wie wir mit der Anwesenheit anderer umgehen können. Und vielleicht deswegen stören mich die Menschen, die hin und wieder kommen, sich neben mich an das Glas lehnen und in das weiße Zimmer meiner Schwester schauen. Mich stört ihr Geruch, mich stören ihre Stimmen, ihr leises Hüsteln und Schniefen. Diese Menschen, die kommen und gehen, mir die Hand drücken und dann den Rücken kehren, diese Menschen stören mich. Sie sind irgendwo im Leben meiner Schwester oder auch in meinem, und deshalb kommen sie, und deshalb gehen sie auch und kommen nicht wieder, weil sie, wenn sie am Glas gelehnt haben, begriffen haben, dass hier das Leben endet und zwar so, wie sie es sich nie vorgestellt haben, nie haben vorstellen können und auch nicht können möchten. Mich stören all diese Menschen, Spatzen, Meisen und Tauben.

Es hatte seit Wochen geregnet. Die Wiesen und Wege im Park waren überschwemmt und wir krempelten unsere Hosen hoch über die Knie. Wir mussten nur mit den Händen auf den sumpfigen Boden greifen und hielten sogleich einen Haufen verknoteter Regenwürmer über unsere Köpfe. Da die wasserfreien Stellen weit hinter uns lagen, sammelten wir die Würmer in einen Eimer und brachten sie ins Trockene. Ich musste an meinen Vater denken und wunderte mich darüber, dass der alte Vogel nicht mitgekommen war.

Ich stelle mir meine Schwester mit dem fehlenden Bein vor, wie sie einbeinig im Wasser stehen und ganz grazil aussehen würde. Wie ein Kranich vielleicht.

In diesen weißen und belichteten Räumen ist der Tod nicht möglich, er würde doch sofort auffallen, käme er herein und täte, was er wolle, nähme sich vom Leben alles und ließe nur von sich etwas zurück. Etwas Dunkles und Unbekanntes, er ließe ein Loch dort, wo er gekommen wäre.
Und womöglich müssen Organe eine Auszeit nehmen, müssen sich maschinell ersetzen lassen, um dann wieder tatkräftig an ihre Arbeit gehen zu können. Es ist nur ein Pausieren, sonst machte doch die ganze Logik um das Wiederbeleben keinen Sinn.

Unsere Mutter hat schon vor Jahren das Haus ebenerdig bewohnbar gemacht, wahrscheinlich weil sie wusste, irgendwann werden sie mit gestutzten Flügeln nicht mehr in die oberen Etagen gelangen. Ich werde sie nach oben treiben und mit meiner Schwester unten einziehen. Wir werden die Küche zum Garten hin nutzen und morgens wie Kraniche im Nebel stehen. Und im Winter, wenn es grau und weiß gleichzeitig sein wird, dann stellen wir uns rosafarben an und denken, wir seien Flamingos und in wärmeren Gefilden zuhause.

Ich überlege, was sie dort unter der Erde wird machen können. Dann stelle ich sie mir vor, wie sie da unten eingesärgt liegen wird, zugenagelt und mit Erde beschwert. Ich werde mich hinlegen und mein Ohr auf den Boden drücken, werde lauschen. Ich werde liegen wie ich am Glas lehne und atmen und mir einbilden, ich atme ein Stück von ihr, den erdigen Geruch. Wie meine Schwester Erde wird, das werde ich noch verstehen müssen.

Alles begann mit der Schnapsflasche eines großen, alten und schwarzen Vogels. Und jetzt endet es.

Es waren nur Minuten, in denen ich die Augen schloss und durch die Glastür in das weiße und belichtete Zimmer trat, die beinah durchsichtige Haut meiner Schwester berührte, den Meisen, Spatzen und Tauben ein abgestandenen Lächeln schenkte und das Licht löschte. Es war nur diese eine Sekunde.

Der alte Rabe ist nicht tot zu kriegen.  Nachdem das Bein meiner Schwester und auch ihr ganzer Rest unter die Erde gebracht worden war, dachte ich, den inzwischen grau gewordenen Vogel zu stutzen, zu reißen, zu töten. Und währenddessen war ich schon längst zur Schwesternmörderin geworden. Aber er ist nicht tot zu kriegen!

Jede Zeit, ist eine Zeit ohne sie, und ich hoffte noch, die Zeit würde auch ohne sie vergehen können. Aber ich kann nicht. Kann nicht zurück an dieses Erdloch, in dem sie bei Wind und Wetter, bei Frost und Föhn liegt und auf etwas wartet, was nicht kommen wird. Es kommt keine Erlösung. Es kommt nichts, was sie aus diesem beinlosen Körper schält, sie ausgräbt und hinaus in eine andere Freiheit lässt. Nach dem Tod kommt nichts.

Aber der Rabe hinkt durch das Haus, wie er zu ihrem Grab hinkte und beinah über die Grasnarbe hineinstürzte. Er stinkt und krächzt und schlägt seine alten Krallen in alles, was ihm lieb sein sollte. Wann immer er geht, verabschiedet er sich, keiner solle mehr auf ihn warten. Keiner wartet, aber er kommt immer wieder.


Anmerkung von kalira:

"Happy End" mdr Literaturwettbewerb 2011
978-3-355-01793-0

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Kommentare zu diesem Text


 Lluviagata (26.07.17)
Hallo Kalira,

ich kann mich entsinnen, diesen wunderbaren Text schon mal gelesen zu haben. Ausgezeichnet. Ja, das hat er, das hab ihr verdient.

Liebe Grüße
Llu ♥
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