Mein erster Kuss

Erzählung zum Thema Eigene Welt

von  KopfEB

Der Tag war bislang in Ordnung, ich meine, nichts, was ernsthaft besorgniserregend gewesen wäre.
Aufgestanden gegen Zwölf - Wochenend und Sonnenschein - hat den Vorteil, dass sich Frühstück und Mittagessen kumulativ ergänzen, danach ein wenig Hirnausschalter auf dem Sofa. Der Abend lässt auf sich warten, ist aber eh noch gefährlich frei.
Ein dumpfer Ärger zwickt bei diesem Gedanken in einer gerade nicht näher zu definierenden Hirnregion und ich grüble noch, welches Schicksal dem Tagesende denn zuzuweisen wäre, als das Telefon Ansprüche stellt. Aus der Muschel macht sich Holger´s Stimme breit, die meint wie´s denn jetzt sei,

kommst du vorbei?

Ach richtig! Stadtfest in Lingen! Das war ja heute! Hmmm, 45 km zwischen mir und dem Schicksal. Luftlinie. Aber das wird mein treues Moped schon schaffen, also schnell bestätigen, "Natürlich! Ich bin da, was denkst du denn!? Wollte grad losfahren, freu mich drauf, bis gleich, stell schon mal das Bier kalt.“

Eilig den Rucksack vollstopfen, dem Vater noch ne Flasche Jägermeister aus dem staubigen Kellerlager klauen und in die alte speckig-fleckige Motorradhose geschlüpft. Hygiene geht auch dann noch, ... zur Not, … Deo statt Duschen muss reichen.
Also ab in die Garage und dann wieder zurück in´s Haus, den Schlüssel für die Honda vom Bord genommen ("Wenn dein Kopf nicht angewachsen wäre!") und wieder zum Gefährt. Der sportive Helm, halboffen, weiß mit schwarzer Plastikumrandung, wartet zuverlässig auf dem Kunstledersitz. Der übliche Kampf mit dem Verschluss und dem Kickstart, dann jagt es mich mit atemberaubenden 35 km/h durch die norddeutsche Tiefebene.



Knappe 2 Stunden nach dem Anruf knattert der rote Blitz immerhin zuverlässig in die Auffahrt des Zweifamilienvorstadttraums. Die ewig frenetische und ehrlich erfreute Umarmung zur Begrüßung des Langvermissten. Auch seine Eltern sind nicht daheim (Was machen die alten Menschen alle am Wochenende?) also das erste Bier und die erste Zigarette, schnell noch ein Brot hinterher gewürgt und da stehen die Anderen schon im Auto irgendeiner Vaterfigur vor der Tür. Zu viert plus fahrendem Anhang geht’s in die Innenstadt.

Alle sind freudig erregt, die Musik wird laut gedreht und man erzählt, was der Abend - und speziell die Nacht - so alles mit sich bringen wird. Das Fell des Bären wird weitflächig verteilt.
Was immer am Ende auch Wahrheit wird, in jedem Fall haben alle hier die irreale Sorge, dass Wodka-, Apfelkorn- oder Jägermeisterflaschen einen anderen Ton im Zusammenstoß mit dem laut Lex Parentis legalem Bier ergeben könnten, als der, wenn Bierflaschen nur miteinander klüngeln.
Selbstverständlich lässt man sich daher auch  - wiedermal - schon am Ring absetzen und die Füße legen den Rest der Strecke zurück. Jetzt kann wenigstens ungeniert geraucht und gesoffen werden, denn selbst wenn alles andere nichts als Wunschträume waren, die wir uns in postpubertärer Präsentationsgier für den heutigen Abend - und speziell die Nacht - vorgeschwärmt haben, der Alkohol und sein Weg in unser Blut waren sicherlich ungelogen.

Das zweite (oder doch schon das dritte?) Bier liegt willig geöffnet in unseren Händen, als wir die Einkaufspassage in Richtung Marktplatz durchpflügen.
Mit dabei ist Grote, ein grosser Junge, der sich selbst als „Schnittenradar“ bezeichnet. Seine Anmache ist allerdings dementsprechend - auch in den Erfolgsaussichten - was der Spitzname geschickt ausklammert. Dann natürlich noch Holger und der merkwürdige Knabe, stets im Anzug, egal was er grad trägt. Ich kannte ihn vorher nicht - denke ich jedenfalls - aber er hat seinen Vater im Wagen mit Vornamen angesprochen, also entscheide ich mich dagegen, seinen Namen für erinnerungswürdig zu erachten.

Grote ist erwartungsgemäß der erste mit der Hand an der Schnapsflasche und auch derjenige, der am lautstärksten protestiert, als es dann darum geht, kurz noch O-Saft für die Mischung zu besorgen und unsere Sorgen, dass die Nacht sonst wirklich nur ein Abend bleiben wird, als Weibergewäsch tituliert.

Nachdem sich jeder mit einem Liter Gepressten ausgestattet hat - Grote mit zwei, denn er will ja schließlich nicht weibisch mixen, da braucht man auch mehr zum nachspülen - setzen wir unsere Erscheinung endgültig auf dem Marktplatz in´s rechte Licht.

Äußerst gelassen schlendert man zu einem Stehtisch und nippt in synchroner Perfektion an den Bierflaschen. Die Menge wird taxiert und eingeschätzt, wobei sich der „Schnittenradar“ besonders in´s Zeug legt und die gesprächige Stille immer wieder mit einem „Ey, schau mal da“ und „Boahh, Fünf Uhr, Fünf Uhr!“ durchbricht.
So langsam ist wohl jedem klar, dass auch diese Gelegenheit die gute alte Maske des Alkoholschleiers tragen wird, aber nichts sonst.

Also die Flaschen auf den Tisch, vier Plastikbecher organisiert und hinein ins Delirium. Ich lasse mich einige gefühlte Stunden von dem merkwürdigen Knaben langweilen - sein Name wäre jetzt doch ganz hilfreich, ein Werkzeug den Redeschwall zu durchbrechen - über sein Leben mit „Wolfgang“, was sein Vater ist, und dass er ja BWL studieren will, um dann im scheißerfolgreichen Unternehmen von „Wolfgang“ zu arbeiten.
Ein genervter Blick verrät mir den Geschmack der Frikadelle, die Grote in Holger´s Ohr verfrachtet. Sieht stark fischig aus und richtig, der Schnittenradar glüht und blinkt als würde er tatsächlich in den nächsten Stunden zu einem Höhepunkt kommen.
„Jedem das Seine“, denke ich resignierend, und gerade als meine Augen dem Schicksal endgültig in den Flaschenhals blicken wollen, ertönt ein:

„Hey, du hier!?“

und eine Frau – tatsächlich eine Frau! – stolpert an unseren Tisch.

Nun ja, zumindest in soweit eine Frau, wie wir Männer sind, aber das sollte ausreichen. Mit leicht schwerer Zunge säuselt sie den Wolfgang-Sohn an, dass sie ihn ja nun als letztes hier vermutet hätte und wie es ihm geht und überhaupt, sie hätten sich ja schon lang nicht mehr gesehen. Verdammt, ich hätte mir seinen Namen doch merken sollen!
Na ja, die Beiden reden eh schon viel zu lange. Der schafft´s und die fällt in seligen Tiefschlaf, also was tun? Ein rettender Blick in die Runde, ein leerer Becher auf dem Nachbartisch.

„Willst du was trinken!?“

Ihr glasiger Blick klärt sich auf. Sie wendet das Gesicht freudestrahlend meinem Angebot entgegen, scheinbar erleichtert dem vorschnellen „Hey, du hier!?“ zu entfliehen, und nickt auf eine Art, die mir die Brisanz meiner Frage ob ihres Alkoholpegels bewusst werden lässt.
Ich meine, besoffen, meinetwegen, aber sie sollte schon noch reden können. Für eine Weile zumindest.



Drei oder auch vier Stunden später, wir haben das Bayernzelt gerade verlassen und ich stütze sie mit schweißnassen Händen zur Bushaltestelle - kann sie noch alleine laufen und will es nur nicht? - flüstert sie mir in´s Ohr, während ich dankbar bin, dass Wodkafahnen nicht allzu sehr stinken,

„Isch weiß nich wo ich schlafen soll…“

Und ich wohne nicht hier!!! Moment, ganz ruhig, denk nach.

Holger! Wie ein Blitz zuckt mein Blick in seine Richtung und der weiß ja Bescheid und der ist ja auch n Kumpel.
Richtig, kein Problem, sein Gästebett ist groß.
Puhh, sein Gästebett.

Moment, sein Gästebett? Das ist eine ausklappbare Couch! In seinem Zimmer!!
Keine gute Idee, gar keine gute Idee.

Aber zumindest besser als Nichts.

„Na klar, kein Problem, ich penn bei meinem Kumpel, da finden wir Zwei schon einen Platz.“

Verdammt, verdammt!
Der ganze Alkohol ist aus dem Blut, hat sich zu einem festen Klumpen in der Leber versammelt und sämtliche Ängste hervorgetrieben.
Bleib cool Alter, alles locker. Du schläfst heute Nacht nicht allein, was ist schon dabei?

Alles, Herrgott!!!
Was machst du dir vor, deine erste echte Gelegenheit und gleich eine gemeinsame Nacht, aber mit Publikum im Circus Maximus vom besten Kumpel! Das wird eine Katastrophe!! Eine Katastrophe.

Also was soll´s, die erste Chance ist halt einfach keine, Ängste zurückfahren, Staudamm wieder hochziehen, vergiß es.

Gut, dann nur noch zum Bahnhof und ab in den Bus.
Mach dich gefasst Nacht! Du bist vorbei.
Und jetzt hat der Scheiß-Bus auch noch Verspätung, ich brech zusammen. Na herrlich, noch keine Frau gehabt und keine Chancen mehr, aber doch im Vollstress. Was mach ich denn jetzt mit der vollgetankten Braut?

„Duuu, isch muss mal. Paschssst du auf?“

Ja, na klar, kein Problem, für dich doch immer. Ich ächze meinen vormals geschwollenen und dann wieder abgeschlafften Körper in die Höhe und wir suchen eine dunkle Stelle auf dem Parkplatz.
Moment mal, will sie… Nein, sie verschwindet zwischen den Autos und kurz darauf erklingt ein charakteristisch plätscherndes Geräusch.
Meine Blase meldet die dazugehörige Reaktion, aber mein Mund wendet sich nur mit einem enttäuschten „Du hast für heute ausgedient“ an die Lendengegend und ich unterdrücke den Drang.

Da steht sie auch schon wieder neben mir und sieht mich mit dem seligen Blick eines geleerten Maßkruges an.
Du bist eigentlich wirklich hübsch, wenn du nicht gerade sturzbesoffen bist. Wären wir doch bei mir zu Hause!
Aber allein mein Wünschen bringt halt nichts und wir bewegen uns langsam zurück. An einer Bank will sie sich kurz setzen, also nehme ich Platz und warte.
Um die Peinlichkeit einer Stille zu ersparen erzähle ich irgendwas, sie gluckst nur nickend neben mir und ich frage mich frustiert, wann es endlich mal weiter geht, aber dann doch: Eine Reaktion!!
Sie dreht ihr Gesicht zu mir und es kommt ein zuckersüßes:

„Isch hab Bock auf rumknutschn“

Schon ist ihre Zunge in meinem Mund.

Tausend glitzernde Schmetterlinge tanzen durch die dunkle Nacht und ihr Landeplatz scheint eindeutig mein Bauch zu sein. Oder kommen sie aus ihrem Mund? Oder aus meinem?
Warum frage ich mich solch einen Bullshit? Genieß es du Trottel, gleich könnte alles vorbei sein!
Und richtig, da lösen sich die Lippen mit einem lauten Schmatzen.

Mehr

Meine Lippen drängen sich vor und der Himmel gibt ihnen die erhoffte Antwort. Ich sauge an ihr, lasse meine Zunge weit vordringen und liebkose unsere Seelen. Ja Ja Ja!!!
OK Gott, ich verzeihe dir. Du bist doch kein Arsch, so könnte es wahrlich ewig weiter gehen.

Aber, wie zu erwarten, das tut es nicht.
Nein, ganz im Gegenteil, sie reißt sich plötzlich los und einem Sturzbach gleich ergießt sich ein Schwall von Halbverdautem aus ihrem vormals so lieblichen Schlund.
Die erste Frau, die ich küsse…

Nun ja, auch eine Reaktion, irgendwie.

Die Nacht war dann selbstredend gegessen. Wenn mich eine Angst wach gehalten hat, dann die, dass sie den unbekannten Weg zum Klo nicht mehr rechtzeitig finden und ich ein zweites Mal in den Genuss dieses Anblicks kommen würde.


Ich dachte damals zwar, dass Frauen immer nur zu mir kommen, wenn sie sich auskotzen wollen, aber mit SO ETWAS hatte ich dennoch nicht gerechnet.

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Kommentare zu diesem Text


 BrigitteG (03.06.06)
Weißt Du, dass Du in den TOP 10 stehst (oben, unter "Infos") in der Kategorie "Am häufigsten überarbeitete Texte", weil Du diesen Text achtunddreissigmal (in Worten: 38) überarbeitet hast??? Naja, ist andererseits nachvollziehbar, weil ein erster Kuss meistens stark verbesserungswürdig ist *g*. Ich packe ihn mir mal auf meine Merkliste, er ist so schrecklich lang.... Es grüßt eine lesefaule Brigitte.
lebendigbegraben (19)
(14.02.08)
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 KopfEB meinte dazu am 18.02.08:
Vielen Dank für deinen angenehmen Kommentar, ich hab mich gefreut. Ein Freudestrahl im dunklen Staatsexamenslernen ;.)

Vielleicht weil die Geschichte autobiographische Züge trägt, ich muss einfach immer wieder mal dran rumfeilen. Mir ist gerade schon wieder etwas aufgefallen, das "dürfte" im letzten Abschnitt wird jetzt ein "müsste" und das "müssen" wird ein "wollen".

Ich wünsch dir auch noch einen entspannten Abend.
Samjessa (28)
(24.04.08)
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 KopfEB antwortete darauf am 27.04.08:
Na, dann immer nur weiterlesen, das Beste hast du noch gar nicht entdeckt! ;.)
Samjessa (28) schrieb daraufhin am 27.04.08:
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