Selma's großer Tag

Kurzgeschichte zum Thema Alter

von  Martina

Schon die ganze Nacht konnte Selma kein Auge zumachen. Morgen war ihr großer Tag. Ja, morgen wurde sie 97 Jahre alt. Seit fast 30 Jahren lebte sie hier im Altenheim. Gab es überhaupt eine Zeit davor? Manchmal konnte sie sich nicht mal mehr daran erinnern. Hier war jetzt ihre Familie. Mit der alten Frau Schmitz, die auf Zimmer 127 lag, fühlte sie sich besonders verbunden. Den ganzen Tag verbrachte sie stumm in ihrem Zimmer. Alle Körpertätigkeiten lagen lahm, nicht mal essen konnte sie selbst. Manchmal übernahm sie einfach die Aufgaben, wenn die Schwestern mal wieder allzuviel zu tun und doch viel zu wenig Zeit hatten. Es machte ihr auch nichts aus, im Gegenteil. Wenn sie ihr aus ihren alten Zeiten erzählte, huschte ab und zu ein Lächeln über ihr Gesicht. Auch wenn sie nicht reden konnte, Selma konnte ihr fast jede Gemütsregung vom Gesicht ablesen. Dann gab es noch den alten Paule. Er war schon fast so lang da wie sie selbst. Sie beide galten hier als Liebespaar. Aber es war mehr liebevoll ironisch gemeint. Selma verbrachte viel Zeit mit Paule. Manchmal spazierten sie am Teich und fütterten die Enten. Einmal als sie still nebeneinander auf der Bank saßen, nahm Paule verstohlen ihre Hand. Bewohner aus dem Heim hatten es wohl irgendwie mitbekommen, naja, und seit dem Tag galten sie als Paar. Achja, Paule.... er war immer so allein seit dem Tod seiner Frau Else. Einmal gestand er Selma, dass sie die gleichen Augen wie sie hätte. Vielleicht fühlte er sich deshalb so zu ihr hingezogen. Ihr machte es nichts aus. Selma war gern mit ihm zusammen, denn auch sie war einsam, seit ihr Kurt bei einem Arbeitsunfall ums Leben kam. Irgendwie schien es niemanden mehr zu geben, der sich für sie interessierte. Von ihren Kindern ließ sich kaum mehr einer blicken. Immer kam etwas dazwischen. Ja, die Zeit. Jungen Leuten fehlte es oft an Zeit. Für einen Augenblick wurde Selma von einer Welle tiefer Traurigkeit erfasst und fortgespült. Irgendwie musste sie unter Tränen eingeschlafen sein, denn als sie die Augen öffnete, war schon ein wunderschöner Tag angebrochen. Die Sonne tauchte ihr kleines Zimmer in ein helles, warmes Licht. Heute war ihr Tag. Vielleicht würde ja jemand für sie aus der Familie zu Besuch kommen. Wie gerne hätte sie mal wieder ihre Enkel gesehen. Wahrscheinlich würde Selma sie auf den ersten Blick nicht mal erkennen. Das letzte Mal waren sie alle an ihrem 90. Geburtstag dagewesen. Die Heimbewohner hatten Selma ein kleines Ständchen gebracht. Sie gaben ihr bestes, Selma lächelte auch so gut es ging, und doch, alle die noch halbwegs normal bei Bewusstsein waren, merkten ihr die Traurigkeit an. Heute hatte sie ihr schönstes Kleid angezogen. Das Blaue mit dem weißen Spitzenkragen. Die Enkelkinder mochten es immer so gern an ihr. Ihre Haare hatte sie auch legen lassen, von einer Mitbewohnerin, die noch gar nicht so lange hier wohnte. Sie war noch relativ fit für ihr Alter, aber ihre Kinder hatten keine Zeit für sie und hielten es für angebracht, sie hierher zu bringen. Natürlich nur zu ihrem besten. Ein Hauch von 4711 lag in der Luft. Selma hatte dieses Parfum auch zu ihrem letzten runden Geburtstag bekommen, von ihrem Sohn Peter. Sie ging sehr sparsam damit um und legte es nur zu besonderen Gelegenheiten an. Eigentlich war sie nun empfangsfertig, bereit, die Familie zu empfangen. Die Minuten schlichen dahin, wurden zu Stunden, bis der letzte Sonnenstrahl hinter der alten Kastanie auf dem Hof verschwand. Nun wußte Selma, das niemand mehr kam. Wahrscheinlich hatte auch niemand daran gedacht. Vielleicht musste sie warten, bis sie ihren 100. Geburtstag feierte. Denn an runden Geburtstagen, kamen sie dann doch immer noch. Sie hoffte, sie würde ihn noch erleben. Und vielleicht hatte sie Glück, und ihr Kleid würde ihr dann immer noch passen. Sie musste halt nur gut auf ihre Figur acht geben. Schließlich, wenn sie die Enkelkinder vielleicht nicht mehr erkennen würde, so würden sie sie vielleicht an ihrem Kleid erkennen. Ja, Kinder hatten ein besseres Gedächtnis als man glaubte. Müde legte sie sich abends in ihr Bett.

PS: Das Kleid trug sie nur noch einmal auf ihren letzten Gang. Und ein Hauch von 4711 lag in der Luft, als man sie in die Erde senkte.

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Kommentare zu diesem Text

Nunny (73)
(09.09.06)
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 Martina meinte dazu am 09.09.06:
Ja, der Paule..ich konnte doch nicht ganz so herzlos sein Schön, das er dir gefallen hat, liebe Nunny, ist bestimmt nicht für jedermann interessant zu lesen. Und doch..er schrieb sich fast von allein Deine Tina
SweetAngel (28)
(14.11.06)
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