Das eisige Glitzern

Kurzgeschichte zum Thema Psyche

von  RainerMScholz

Illustration zum Text
(von RainerMScholz)
Das eisige Glitzern

Das blaue Licht des Punktstrahlers taucht das schwarz und rot gestrichene Zimmer in ein diffuses Dämmer aus flackernden verschwimmenden Schatten. Ohne bestimmten Grund streicht die unscheinbare, sich selbst zurücknehmende Gestalt, die er ist, durch die Enge der Zwei-Zimmer-Wohnung im 17.Stock über dem Asphalt, vom Wohnzimmer mit der grauen, abgestoßenen feuchtfleckigen Couchgarnitur, durch den langen schmalen Flur zum Schlafzimmer, in dem auch der kleine, alte, mit Papieren und Zetteln übersäte Pressspanschreibtisch steht, über dem das übervolle Bücherbord hängt, das seit geraumer Zeit nicht entstaubt wurde, - streicht an den Wänden entlang wie eine grau-schwarz getigerte Katze auf einer bewußtseinslosen Jagd nach einer unbestimmbaren Beute. Das indirekte Licht des Kühlschranks beleuchtet das Klirren der Eiswürfel in dem breitwandigen Glas für seinen nächsten rauchigen Scotch, den er sich anstelle des billigeren Klaren, der sonst aus dem Eisfach auftaucht, einschenkt. Scheinbar findet ein Fest statt, auf dem er jedoch der einzige Gast zu sein scheint.                             
Es gibt keinen Plan, keine Richtung, kein Ziel, nur das leise, unstete Hineintasten von einem Schatten in den nächsten, vorbei an dem irritierenden Glitzern im Flur, das ihn verwirrt, dem er nicht traut, das kurze Aufflackern in dem Flimmern aus Weiß, Blau und Schwarz; der spröde Moment des instinktiven Wiedererkennens, bevor er abermals im Dunkel der schützenden Nische verschwindet, sich auflösend Schutz sucht in den Schatten. Das Klirren der kantigen, zu kleinen Quadraten gefrorenen Eiswürfel markiert seinen Standort in der Stille. Dann wieder der Wechsel zum flackernden Sehen, der kurze Moment des zweifelhaften Sich-Erkennens, als würde das Wild auf einer nächtlichen mondsilbererfüllten Waldlichtung für einen Moment zeitlupenhaft innehalten, um in die Augen des Jägers zu blicken. Er flüchtet in das Vergessen, konzentriert sich auf das Nichts; seine Gedanken umkreisen das Schwarz, das Blau, sind betäubt vom Schleier des Alkohols in seiner Hand, die die kristalline Struktur des harten gekerbten Glases fest umschließt. Blind möchte er sein und taub, aber nicht die Taubheit des Gehörs, - die des Körpers, der Gedanken, der Seele, diese Taubheit ist es, der er so verzweifelt versucht entgegenzutriften, Nacht für Nacht; dieser Zustand herrscht in permanenter Beständigkeit, hier, innerhalb des Gemäuers seines Innerselbst.
Das leuchtende, fragmentarische Glitzern auf dem Weg vom Dunkel zum Schatten ist es, das ihn hindert vollständig abzutauchen in eine Sphäre vollkommener Freiheit und Leere, in einen Raum, der atomaren Zerlösung gleichkommend, einem Universum des Vergessens, des Aufhörens, der Nicht-Existenz.
Das Klirren. Kam es aus ihm oder war es das Eis? War es nicht ein Splittern? War es nicht das Geräusch, das Glas verursacht, wenn es auf Glas trifft? Er steht nun davor, doch er kann nichts erkennen. Das Glitzern dringt wie kalte Risse aus einem Gletscher. Weiße klaffende Wunden aus bodenlosem Licht. Undeutlich sieht er eine Gestalt, verdeckt von blauen und schwarzen Schleiern, verborgen hinter einer scheinbar undurchdringlichen Wand, zusammengesetzt aus Teilen, die nicht zusammengehören. Dann, ganz allmählich und beinahe zaghaft ist es da. Wie ein Traum taucht es von ganz unten herauf. Er ist da: Die Gestalt fügt sich zusammen aus Splittern, Bruchstücken, materialisiert sich aus dem Nebel und starrt ihn mit weit aufgerissenen Augen erschreckt an. Tiefe Verblüffung zeichnet sein Gesicht, zerreißt die Grimasse, die ihn aus dem Lichterblitz heraus anstarrt in Furchen aus grausamer Angst und höllenverzweifelter schizophrener Todeserwartung - und ungläubiges, verlorenes Wiedererkennen.
Er läßt das Glas aus der steifen Hand gleiten, und noch bevor es auf dem Boden zerbirst, schrillt ein ohrenbetäubendes, die Stille zerschneidendes Läuten in das Dunkel, daraus hervor. In einer einzigen synchronen Bewegung panischer Fluchtreaktion, in einer einzigen schrecklichen Sekunde, schließt sich seine Hand zur Faust, reißt er den Arm zurück und schlägt mit aller ihm zu Gebote stehenden Kraft und Gewalt in den Spiegel, aus dessen Antlitz er sich zuvor noch in die eigenen verzerrten Augen gesehen hat, zerbricht den bleigefaßten, silberglänzend gehärteten unergründlichen See in unzählige Splitter, so daß dahinter nur die nackte häßliche Wand bleibt und das Schwarz.
Das Blut tropft von seiner rechten Hand; die Wunde klafft rot und zerfetzt über dem äußeren Mittelhand- und Fingerknochen; zart glitzern blinkende Splitter aus dem aufgeschnittenen Fleisch. Betäubt starrt er das Telefon an, hebt den Hörer ab: "Hallo? Hier spricht die Ambulanz-".

© Rainer M. Scholz

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