Die Suchenden

Kurzgeschichte zum Thema Entfremdung

von  RainerMScholz

Die Suchenden



Irgendwann ließen die Schreie nach, hörten die Schmerzen auf. Er saß nur noch auf dem Boden in der Mitte seiner Ein-Zimmer-Wohnung und wimmerte leise und eindringlich. Seine Stimme hatte keine Kraft mehr, ein heiseres Krächzen entrang sich mühsam seinem krampfhaft zuckenden Brustkorb. Die Schreie, diese entsetzlichen Schreie, scheinbar hatte sie niemand gehört, niemand bemerkt, nicht seine Nachbarn im Wohnblock, nicht die Menschen, die draußen vor dem Fenster vorbeigingen, nicht die Stadt, die Welt nicht. Kein Gott und nicht die Hölle.
Er hatte es nicht mehr sehen können, verstand die Zeichen und Symbole seiner Umgebung nicht mehr, konnte die Übermacht des Sinnlosen nicht länger begreifen, sich nicht länger als Teil dessen identifizieren. Es mußte anders sein, als er es sah, doch die Welt entglitt ihm, verschwand hinter einer Tür, die von seiner Seite aus nicht mehr zu öffnen war. Die Alltäglichkeit, das Banale, Absurde - die Unmöglichkeit, sich morgens nur ein frisches Hemd überzustreifen und lächelnd in die Bahn zu steigen, überstieg zusehends seine Kräfte. Er sah in den Spiegel und erschrak vor der lächelnden Grimasse. Ein grinsendes schmerzverzerrtes Gesicht, das er nicht wiedererkannte. Er konnte es nicht länger ertragen, die Menschen auf der Straße zu sehen, noch weniger mit ihnen zu sprechen, zu kommunizieren. Er fand, daß sie häßlich sind, quälende Geräusche verursachen, groteske Bewegungen vollführen, stupide Dinge sagen. Die Sinnebene hatte sich verschoben, doch er war immer noch in der alten Welt gefangen. Er verstand die einfachsten Vorgänge nicht mehr, weshalb Dinge geschehen und wodurch sie initiiert werden, simple mechanische Begebenheiten wurden zu einem beinahe religiösen Mysterium. Zu Anfang versuchte er, die Welt durch eigene Symbole und Zeichen zu reanimieren, wieder erklärbar zu machen, erfahrbar. Die Wände seiner Behausung waren bald über und über mit abstrusen Grafiken, Zeichen, Ziffern, grotesken Bildern und Fresken bedeckt, morbide Gemälde zogen sich über die Zimmerdecke, phantastische Ikonen lugten in andere Sphären, Zahlenkombinationen durchschnitten Engelsgesichter, alles war mit grellen Farben bedeckt, Abgründe tauchten aus Firmamenten auf, Teufelsfratzen starrten aus Heiligenbildern. Bald gab es keinen Flecken mehr, der frei geblieben wäre.
Nachts lag er mit offenen Augen in der Dunkelheit und vermeinte zu spüren, wie sein Geist begänne, materielle Formen auszubilden, seine Physiognomie zu verändern, zu transformieren.  Die Adern traten hervor an seinem gesamten Körper, das Fleisch schlug Wellen, kochte auf, brodelte, Erektionen wuchsen in armesdicke aus seinem Unterleib, ertränkten ihn mit Mengen weißlich-roten Ejakulats, sein Gesicht mutierte zu einer vegetabilisch-linearen Ornamentik aus pulsierendem, autonom dekretierendem Plasma. Der Zeitpunkt war gekommen. Bevor er den Verstand verlieren sollte, das Verhältnis zu Zeit und Raum, bevor seine symbolistische Begriffswelt autark werden würde und ihn in ein leeres Universum entließ, wollte er noch ein letztes Mal in sich hinabsehen, ein letztes Mal der Entität seiner Person begegnen.
Eine Ewigkeit, so schien es ihm, saß er vor den beiden Leuchten und starrte in das gleißende Licht der Glühfäden. Längst war alles schwarz geworden um ihn her, und noch schwärzer war es in ihm selbst. Seine Augen waren verbrannt, ausgesengt, doch die aufkochende Hitze seines Innern ließ ihn den Schmerz vergessen, bis das Licht erlosch, unsichtbar für ihn.
Zwei Tage und zwei Nächte hatte er geschrien. Jetzt war alles still, und er saß nur da, wiegte leicht den Oberkörper vor und zurück, wartete. Daß die Gegenwart zurückkehrte. Vielleicht auf Gott. Die Pfleger legten ihn auf die Bahre. Die Haut seines entkräfteten, ausgemergelten Körpers raschelte leise wie brüchiges Pergament. Mit gesalbten Wattebäuchen bedeckten sie die wunden Höhlen in seinem Schädel, doch er summte nur vor sich hin. Sein aufgerissener Rachen formte ein klaffendes Lachen, das die verdorrte Zunge entblößte. Sie schafften ihn hinaus.



© Rainer M. Scholz

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Kommentare zu diesem Text


 modernwoman (10.10.06)
eine durchaus nicht so absurde geschichte, wie sie im ersten moment erscheinen mag. es gibt viele solche (meist anonyme) geschichten. begegne deinem wesen, deinem ich, schau dir selbst ins gesicht und sieh die fremde, die es überzieht. ist um uns sinnlosigkeit oder repräsentieren wir diese selbst? sinnlos und leeren wort- und gestikhülsen hinterherhaschend, später selbst zu einer leeren hülse werdend. dein text gefällt mir gut, zumal er manche dinge klarer werden lässt. liebe grüsse, conny

 RainerMScholz meinte dazu am 10.10.06:
Der Blick in den Spiegel ist bisweilen die größte Herausforderung (vor allen Dingen morgens). Mit ein Grund, weshalb wir hier sitzen, nicht wahr. Danke.

 BrigitteG (10.10.06)
Hui. Plastisch geschrieben, nachvollziehbar und deswegen sehr erschreckend. Das Thema passt perfekt - Entfremdung von sich selbst, von der direkten Umgebung, der Gesellschaft. Eine in sich geschlossene Parallelwelt ohne Kontakt nach draußen. Ja, gut. Grüße von Brigitte.

 RainerMScholz antwortete darauf am 10.10.06:
Hui, danke.
Heide-Marie (48)
(10.10.06)
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 RainerMScholz schrieb daraufhin am 10.10.06:
Danke für die Hartnäckigkeit, Heide-Marie. Auf Messers Schneide tanzt es sich am schärfsten.
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