Helles Mondlicht

Erzählung zum Thema Fantasie(n)

von  Mondsichel

„Warum läufst Du vor mir davon?“ Der junge Mann blickte das Mädchen fragend an. Doch sie rührte sich nicht, kein Wort verließ ihre blassen Lippen. Sie schaute nur stumm aus dem Fenster. Mitten in die rötliche Sonne hinein, die gerade am Horizont untergehen wollte und die Stadt mit den buntesten Farben malte. Wenn es im Bus nicht so laut gewesen wäre, hätte das Schweigen eine unendliche Lautstärke erreicht.
Ihre schulterlangen, rotbraunen Haare verdeckten einen Teil ihres Gesichtes, als wollte sie sich vor seinen Blicken verbergen. In ihren dunklen Augen spiegelte sich die Welt, die Straßen und die Menschen, an denen der Bus vorbeifuhr...
„Bitte! Rede mit mir! Wenigstens ein einziges Wort! Ich kann dieses Schweigen nicht ertragen.“ Ein Flehen schwang in seinen Worten mit, doch selbst das konnte sie nicht erweichen. Sie schien sich eher noch tiefer in sich selbst zu verkriechen, damit seine Stimme nicht mehr an ihr Herze klopfen konnte. Das Mädchen verspürte keine Angst vor ihm, doch stieß sie scheinbar jegliches Gefühl von sich, dass sie in diesem Moment überkommen könnte.
Ihr dunkler Wintermantel hüllte sie vollkommen ein, wie ein Schutzpanzer, der sie vor allem bewahren sollte. Nur ihr weißes Gesicht mit den kälteroten Wangen und kleine schwarze Stiefel schauten aus dem Stoff heraus. Ihre Hände hielt sie verbogen in den Taschen des Mantels, doch man konnte erahnen, dass auch sie weiß wie der Schnee waren, der letzte Nacht vom Himmel gefallen war…

Er war gerannt was das Zeug hielt, nur um sie einzuholen. Sie hatte ihn einfach so mitten auf der Straße stehen lassen. Wortlos, stumm, distanziert und kalt. So wie sie auch jetzt noch wirkte. Er konnte sich nicht vorstellen womit er ihr wehgetan haben könnte, dass sie ihn jetzt einfach so von sich stieß. Diese Unnahbarkeit machte ihn halb verrückt.
Seine schwarzen Haare waren ihm wild ins Gesicht gefallen und seine hellblauen Augen funkelten ihr erwartungsvoll entgegen. Sein langer schwarzer Mantel hing offen an ihm herab. Und sein sonst so ordentlich gerichtetes weißes Hemd war oben aufgeknöpft und machte den Blick auf eine Kette mit einem Kreuz und dem oberen Ansatz eines Tattoos frei, das sonst vom Kragen seines Hemdes verdeckt war...
„Was habe ich Dir getan?“, flüsterte seine Stimme ersterbend. Nun war doch eine kleine Regung in ihrem Gesicht zu sehen. Aber sie drehte sich nur weiter zum Fenster, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen. Denn sie fühlte, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war. Er würde es nicht verstehen und vielleicht etwas dummes tun.
Der junge Mann resignierte und setzte sich auf den leeren Platz neben sie. Er stützte niedergeschlagen den Kopf auf seine Hände und starrte leer zu Boden. Fast glaubte man Tränen zu sehen, aber er kämpfte mit sich, um nicht als kompletter Idiot dazustehen. Aber man merkte doch schon, dass ihre Ignoranz ihm mächtig zu schaffen machte.

Fast unmerklich drehte sich ihr Gesicht nun doch zu ihm hin. Still und leise beobachtete sie den jungen Mann. In ihrem Blick war nun etwas wie Mitleid zu sehen. Doch sie presste ihre Lippen fest aufeinander, damit kein Wort von ihren Lippen drang. Mit sich ringend zwang sie sich wieder aus dem Fenster zu schauen und jegliches schlechte Gefühl zu verdrängen, das sich in ihr Gewissen bohrte...
Schließlich richtete er sich wieder auf und seufzte: „Sieh mich wenigstens einmal an. Nur ein einziges Mal! Bitte! Ich will doch nur verstehen können. Du lässt mein Herz mit tausend Fragen zurück, die Du mir nicht einmal ansatzweise beantworten willst! Warum? Du bist alles was mich hier hält. Du bedeutest mir viel mehr als das Leben, das mit Deinem Schweigen immer bedeutungsloser für mich wird.“ Seine Stimme ließ ihn fragiler erscheinen als jemals zuvor. Seine Seele war nur noch dünnes Glas, das nur durch ein einziges Wort in Millionen Scherben und Splitter zerbersten konnte. Die Verzweiflung schrie aus seinen Seelenspiegeln und seinem Herzen...
„Ich bin nicht die Antwort auf Deine Fragen“, sagte sie schließlich leise, aber verständlich. Durch den jungen Mann war ein Zucken gegangen, als ihre Stimme erklungen war.
„Was?“ Er hatte sie ganz genau verstanden, aber er hoffte, dass sie weiter reden würde.
Sie drehte sich langsam zu dem Verzweifelten hin und schaute ihm tief in die Augen.
„Ich sagte, ich bin nicht die Antwort auf Deine Fragen.“
„Wie soll ich das verstehen? Was ist los mit Dir?“
Für einen kurzen Moment kehrte die Stille zurück und er schüttelte nur unverständlich den Kopf. Wieder sagte sie nichts! Wieder schien sie zum Eisblock geworden zu sein. Schließlich übernahm seine innere Erregtheit die Kontrolle über seine Worte.
„Warum bist Du so grausam? Was habe ich getan? Bis vor einer halben Stunde waren wir noch eng befreundet und jetzt rennst Du vor mir weg, als wäre ich ein Fremder, dem Du die schlimmsten Dinge zutraust. Und alles was Du mir auf mein Unverständnis zu sagen hast, ist: Ich bin nicht die Antwort auf Deine Fragen? Was soll das heißen? Wovor hast Du Angst? Bin ich Dir zu nahe getreten?“ Sie schüttelte den Kopf...
„Verdammt noch mal, sprich mit mir! Wir waren bisher doch immer füreinander da und konnten über alles reden. Und jetzt schweigst Du mich an, als wäre ich es nicht wert, dass Du mir überhaupt etwas Beachtung schenkst. Was hat Dich so verändert?“

„Nimm meine Worte einfach so, wie ich sie Dir gesagt habe: Wir können nicht mehr länger befreundet sein. Denn die Engel sind gegen uns. Und Deine Freundin sowieso“, fügte sie mit einem spitzen Ton hinzu. Er runzelte verärgert die Stirn.
„Ach, daher weht der Wind.“ Die Stimme des jungen Mannes hatte einen wissenden Ton in sich. „Was hat sie denn diesmal vom Stapel gelassen?“ Ihr Blick schweifte wieder aus dem Fenster, denn sie wollte keine Antwort auf diese Frage geben. Doch diesmal ließ er sich nicht so einfach von ihrer Ignoranz abspeisen. Er war völlig außer sich.
„Rede mit mir! Ich bin nicht irgendwer den Du einfach so abspeisen kannst! Ich habe ein Recht darauf zu erfahren, was unsere Freundschaft in diesem Moment zerstört! Und wenn sie es ist, dann werde ich dafür sorgen, dass das nie wieder passiert!“
„Was bringt das denn?“ Über ihre heftige Reaktion zuckte er zusammen. Die Leute im Bus schauten interessiert auf die Beiden, die sich nun etwas lauter unterhielten...
„Wie oft hast Du schon mit ihr über uns beide gesprochen! Und wie oft hat sie Dir nicht geglaubt! Ich bin es leid zwischen der Eifersucht Deiner Freundin und Dir zu stehen!“
Sie blickte ihn mit traurigen Augen an. Diesmal wich er ihrem Blick aus.

„Du bedeutest mir mindestens genauso viel wie ich Dir. Aber momentan sieht es so aus, als ob jeder von uns seinen eigenen Weg gehen wird. Denn ich kann diesen Hass einfach nicht ertragen.“ Ihre Stimme zitterte und in ihren Augen funkelte eine Träne, die langsam an ihrem Gesicht herab rann. Er wagte nichts mehr zu sagen.
„Es tut mir leid, ich muss jetzt gehen.“ Damit stand das junge Mädchen auf und drängelte sich an ihm vorbei. Bevor er noch etwas zu ihr sagen konnte, öffneten sich die Türen des Busses und sie verschwand in der aussteigenden Menge. Als die Türen sich wieder schlossen, brach seine Welt innerlich zusammen.
„Das ist das Ende“, sprach er zitternd zu sich.
Seine Hände ballten sich zu Fäusten und sein ganzer Körper zitterte, so wie sein Atem, der ihm das Herz zu zerquetschen schien. Leere bohrte sich in seinen Kopf, ein Gefühl, dass er lange Zeit verdrängt hatte, kroch aus den Tiefen seiner Seele. Er wollte nicht weinen, doch seine Tränen ließen sich nichts mehr befehlen. Ungehindert flossen sie aus seinen Augen, die nun einen grellen Schein inne hatten...

Als der Bus schließlich erneut hielt, erhob er sich langsam. Er wirkte müde und vollkommen ausgelaugt, als hätte ihm jemand das Leben aus dem Körper gesaugt. Ein paar tuschelnde Mädchen, die er gerade in seinem Blick hatte, schienen über ihn zu lästern. Zumindest machte sich das Gefühl in seinem Innersten breit. Seine Wahrnehmung verstärkte sich mit der Wut, die aus ihrem Versteck gekrochen kam. Aus seinem verzweifelten Blick wurde eine starre Maske, die einem kalte Schauer über den Rücken jagte.
Mit dämonischen Augen fixierte er die beiden Mädchen und als sich ihre Blicke wieder trafen, wich ihr Grinsen einem ängstlichen Gesicht und sie wandten sich ab. Die Beiden tuschelten immer noch über ihn, er konnte es regelrecht riechen. Durch die Adern des jungen Mannes schien etwas zu pulsieren, das er so lange vermisst hatte. Und es jagte ihm ein unglaublich gutes Gefühl durch den Körper, schöner und tiefer als alles was er jemals empfunden hatte. Es raubte ihm fast den Verstand.
Aber bevor er seine Sinne völlig verlieren konnte, sprang er aus dem Bus hinaus. Die Türen schlossen sich lautstark hinter ihm und ein paar verwunderte Fahrgäste schauten ihm hinterher. Doch all das sah er nicht mehr, er spürte nur das brennende Nachbeben dieses Verlangens, über dass er fast die Kontrolle verloren hatte...
Der Bus hatte außerhalb der Stadt gehalten, wo die großen Felder der Bauern in schneebedecktem Schimmer daniederlagen. Die Sonne war nun schon fast erloschen und hatte die weiße Landschaft in eine feurige Umarmung getaucht.
Der junge Mann rannte durch den Schnee, er rannte vor sich selbst davon. Er wollte all das hinter sich lassen, was er heute erlebt hatte. Er hatte den wichtigsten Menschen in seinem Leben verloren, für den er all seine dunklen Seiten abgelegt hatte. Das Mädchen, das ihn so genommen hatte wie er war, egal welche Schatten seine Person auch zeichneten. Sie war ihm näher als jeder andere, der jemals in sein Leben getreten war.

Er hatte sie auf seine Art und Weise geliebt. Eine Liebe die tiefer ging, als sie sich vorstellen mochte. Doch diese Liebe zu ihr war auch gefährlich. Denn jeder Hass in seinem Innersten war noch harmlos gegen das süße Verlangen, dass seine Sinne in einem flammenden Rausche blenden konnte. Er hätte ihr niemals wehtun wollen. Deshalb wagte er es auch nicht, ihr allzu nahe zu treten. Sie war eben etwas besonderes für ihn...
Er betrachtete sie wie einen leuchtenden Kristall, der unter seiner tiefen Leidenschaft wahrscheinlich zerbrochen wäre. Und dennoch, auch wenn er ihr niemals seine wahren Gefühle würde zeigen können, hatte er für sie alles aufgegeben, was einmal ein Teil seiner Selbst gewesen war. Denn schon allein ihr Strahlen und ihre Nähe zu erleben, gab ihm so viel mehr, als er sich jemals erhofft hatte.
Aus Angst, dass sie ihr wundervolles Strahlen durch sein unüberlegtes und gewissenloses Verlangen verlieren würde, hatte er die Liebe in einem anderen Menschen gesucht. Er hatte so sehr gehofft Erfüllung zu finden und vergessen zu können, für welches Herz seine Leidenschaft in Wahrheit pulsierte. Doch das Problem mit den Menschen war einfach, dass sie ihre Gefühle nicht unter Kontrolle halten konnten. So war die Liebe die er fand der Fluch, der ihm alles zerstören sollte. Und er schmeckte nur noch den bitteren Geschmack, auf den wundgeküssten Lippen der Eifersucht...
Nachdem er eine Weile gelaufen war, blieb er schließlich mitten im Felde stehen und sank in die Knie. Er zitterte noch immer und sein Atem ging schwer. Die Kälte fraß sich in seinen Leib, doch er spürte es schon gar nicht mehr.
Das Strahlen war ihm genommen worden. Der Engel hatte seine Flügel entfaltet und war davon geflogen. Geblieben war ihm nichts, kein Gefühl, keine Hoffnung, keine Erfüllung, keine Liebe. All das, was er für den Engel aufgegeben hatte, bohrte sich nun mit spitzen Schwertern in sein Innerstes.
Und dann schrie er seinen Schmerz und seine Wut hinaus. Tränen aus Blut tropften in den weißen Schnee und verkündeten Unheilvolles.
Die Krähen flatterten vom Felde auf und flogen über ihn hinweg. Verwundert blickten sie auf den merkwürdigen Menschen, der da mitten im Schnee kniete und wie ein Dämon seine Wut in die Welt hinausbrüllte. Der Wind trug die Schreie der Krähen und seine Verzweiflung in die Ferne hinfort...

„Ich liebe Dich“, flüsterte es in seinen Gedanken. „Ich werde niemals aufgeben.“ Noch immer atmete er schwer. Er lockerte seine Muskeln und schüttelte die innere Unruhe endgültig ab. In seinen dämonischen Augen funkelte neue Kraft, die aus den Tiefen seiner eigenen Welt wieder an die Oberfläche gestiegen war.
„Die Engel sind gegen uns? Dann lass uns Engel werden.“ Auf seinen Lippen war nun ein Lächeln zu sehen, das nichts liebevolles mehr an sich hatte. Es wirkte kalt, berechnend und voller Verlangen, das ungestillt auf Beute wartete. Das, was er so lange Zeit in die Vergessenheit gedrängt hatte, war wieder zurückgekehrt. Er konnte sich selbst wieder spüren und er konnte die Sprache seiner Vergangenheit wieder sprechen.
„Viel zu lange habe ich geschlafen. Es wird Zeit das Schicksal zu erfüllen, vor dem niemand entfliehen kann. Lass uns fliegen mein Engel, die Nacht ist kurz. Wenn der Morgen die Erde küsst, dann werden wir für immer vereint sein. Ob in Himmel oder Hölle, ob in tiefster Liebe oder unendlichem Hass“, rief er der ersterbenden Sonne entgegen.
Er schloss die Augen und seine Sinne jagten ihm ein Prickeln durch den Leib, der das tote Fleisch wieder aus dem Grabe hob und ihm all die tiefen Leidenschaften zurückgab, die er im Angesicht der Menschen vergessen hatte.
Sein offener Mantel und seine Haare wehten im aufkommenden Wind. Er breitete die Arme aus, als würde er sich von der nächsten Böe in die Lüfte tragen lassen wollen. Fast erschien es, als würden seine Füße über dem Boden schweben. Plötzlich öffneten sich ruckartig seine glühenden Augen, in denen sich die erlöschende Sonne spiegelte. In jenem Moment erlosch auch sein Lebenslicht und brachte ihm die ewige Nacht...

„Die Engel sind gegen uns? Dann lass uns Engel werden“, schallte es in ihren Gedanken. Das junge Mädchen schreckte aus einem Traum auf. Sie wirkte verschwitzt und ihre Augen hatten einen fiebrigen Glanz in sich. Sie fühlte, dass in diesem Moment ein Teil von ihr hinfort geflogen war. Die Traurigkeit stieß ihr tief ins Herz. Nervös griff sie nach der Mineralwasserflasche, die neben ihrem Bett stand und nahm einen Schluck.
Sie hatte ihn gehen lassen, obwohl sie ihm vor langer Zeit geschworen hatte, dass nichts und niemand das Band zerstören könne, das sie verbinden würde. Aber nun hatte sie selbst das Band zerschnitten und seine Seele in das Fegefeuer zurückgestoßen. Sie hatte ihm den Schmerz geschenkt, den er eigentlich niemals spüren sollte.
Das Mädchen wusste das er bald kommen würde, um sich zu holen, wonach er verlangte. Jede Zelle zitterte dem Moment entgegen, wo sie ihm Auge in Auge gegenüberstehen würde, wie damals, als sie sich zum ersten Mal begegnet waren...

In einer lauen Sommernacht hatte es sie nach draußen gezogen. Sie war damals im Teenageralter und wohnte noch bei ihren Eltern im Haus. Sie war wie so oft aus dem Fenster gestiegen und schaute vom Dach aus Richtung Mond und Sterne.
Die Faszination für die Dunkelheit hatte sie schon damals gehabt. Die Stille der Nacht hatte ihr stets eine innerliche Ruhe geschenkt, die sie bis in jede kleine Zelle ihres Körpers aufnehmen konnte. Das schenkte ihr Kraft für den kommenden Tag. Doch in jener Nacht war alles anders.
Der Wind bog die Äste der Bäume und nur ganz selten schaute der Mond zu ihr herab. Sie fühlte sich verlassen und einsam an jenem stürmischen Abend. Denn sonst sprach sie so oft mit dem leuchtenden Mond, den sie wie einen großen Beschützer ansah, der ihr zuhörte und der niemals ihr Herz enttäuschen konnte. Doch an jenem Tag war er so fern und ihre Stimme verhallte in den Wolken.
Und dann geschah es. Der Wind fegte plötzlich so kraftvoll über das Dach, dass sie den Halt verlor und fast herabgestürzt wäre. Aber aus dem Nichts war eine Gestalt erschienen, die sie fest umschlang und mit ihr ausharrte, bis der Wind nachließ. Sie blickte unentwegt in diese leuchtenden hellblauen Augen, die als einziges aus dem Dunkel glühten. Ihr Herz ging rasend und ihr Atem vibrierte...

Seine Augen hatten irgendwie etwas eiskaltes und grausames in sich. Doch sie glaubte, so grausam konnte derjenige nicht sein, der sie vor dem sicheren Tod bewahrt hatte. Ein Duft von Erde und Rosenblüten ging von ihm aus. Und als die Wolken schließlich am Mond vorbeigezogen waren, konnte sie das erste Mal in sein Gesicht blicken.
Es waren bleiche, weiche Züge die ihn zeichneten und dunkle Haare, die sein Antlitz umrahmten. Er trug ausschließlich schwarze Kleidung an diesem Abend und seine silbernen Ohrringe funkelten wie seine Augen, im Schein des Mondes.
Sie war fasziniert von dem jungen Mann. Er streichelte ihr sanft über das Gesicht.
Die silbernen Ringe, die er an seinen Fingern trug, kühlten es ein wenig.
„Hab keine Angst“, sprach er mit einer tiefen, aber dennoch warmen Stimme zu ihr, die im totalen Gegensatz zu der Kälte in seinem Blick stand. Sie lächelte ihn zögerlich an und als er ihr tiefer in die Augen schaute, schien er überrascht zu sein.
„Ich hätte niemals gedacht, noch einmal auf einen Engel zu treffen“, flüsterte er. Sie schaute ihn fragend an. „Aber Du bist noch viel zu jung um zu verstehen.“ Wie abwesend streichelte er ihr über die Wange. Innerlich schien er mit sich selbst zu kämpfen. Schließlich erhob er sich und blickte hinauf zum Mond...
„Danke“, flüsterte sie fast unhörbar in den leichten Wind. Doch er hatte sie gehört.
„Tu mir einen Gefallen, wirf Dein Leben bitte nicht weg.“ Er drehte sich zu ihr hin und musterte sie ernst. Im nächsten Moment war er ihr wieder so nahe, dass sie seinen Atem auf ihrem Hals spüren konnte. „Wenn Du erst einmal geboren bist, dann wirst Du der schönste Engel von allen sein. Wirf das Licht nicht fort. Nicht mit solcher Unbedachtheit.“ Seine Stimme zitterte. Und wieder ergriff der Wind die Beiden.
Der junge Mann nahm sie fest in seine Arme und drückte sie fest an sich, damit sie ihm nicht weggeweht wurde. Ihr Herz pochte ihr bis in den Hals und er spürte jeden Schlag in seinem Körper. Er versuchte sie nicht direkt anzuschauen. Denn in seinem Inneren pulsierte die Flamme, die sie verbrennen konnte.
Sie blickte ihn fasziniert an. Vorsichtig berührte sie sein Gesicht, dass so kalt und leblos unter ihren Fingern erschien. Und schließlich wandte er doch seinen Blick zu ihr. In diesem Moment schwor er sich sie zu beschützen. So entwickelte sich eine tiefe Freundschaft, zwischen dem Schatten der Nacht und dem ungeborenen Engel...

Etwas kraftlos stand sie auf und lief hinüber zum Fenster, wo die kalte Nacht erneut die Schneekristalle fallen ließ. Sie fror ein wenig in ihrem weißen Hemdchen und trotzdem öffnete sie das Fenster. Der Wächter der Nacht schaute ab und zu zwischen den Wolken hervor, um ihr von den verlorenen Seelen zu erzählen. Ihr bleiches Gesicht strahlte im Mondlichte wie der weiße Schnee, der auf dem Fensterbrett lag.
„Ach Vater“, begann sie. „Warum darf ich nicht glücklich sein? Warum nimmst Du mir sein Herz? Muss ich die Bücher des Schicksals schon wieder neu schreiben?“ In ihren Augen leuchtete unendlich viel Melancholie.
„Nein das musst Du nicht. Aber es wird Zeit den Engel zu wecken“, flüsterte die Stimme vom Schatten der Nacht. Sie erschrak und trat ein paar Schritte zurück, als er auf ihrem Fensterbrett Platz nahm. Sofort wusste sie, dass er zurückgekehrt war...
„Ich kann Deine Angst riechen“, sprach er leise. „Dabei brauchst Du Dich vor mir nicht zu fürchten. Ich würde Dir niemals ein Leid zufügen.“ Seine Augen funkelten gefährlich und kalt. Zum ersten Mal hielt sie in seiner Anwesenheit den Atem an. Und zum ersten Mal bezweifelte sie die Aufrichtigkeit seine Worte.
„Bin ich denn so schrecklich anzusehen, das Du mir nicht mehr glauben kannst?“
„Nein, das bist Du nicht. Du erscheinst mir wie ein Engel der Nacht. Doch...“
„Doch?“
„Du bist nicht der, den ich einst meinen Freund nannte.“
Für einen kurzen Moment herrschte eisigen Schweigen. Nur die Flocken fielen weiter vom Himmel. Langsam stieg der Schatten der Nacht in den Raum und sie wich weiter vor ihm zurück. Denn sie konnte nicht mehr einschätzen, was er tun würde...

Er schloss langsam das Fenster und schaute einen Moment lang auf die verschneite Straße. Dann wandte er sich wieder ihr zu.
Als das Handy in seiner Innenjacke zu vibrieren begann, zog er es hinaus und blickte auf das Display. In seinen Augen flammte Wut auf. Er zerquetschte das Telefon einfach so in seiner Hand und warf die Reste in eine Ecke.
„Sie wird sicher hier her kommen“, flüsterte das Mädchen.
„Dann soll sie kommen“, antwortete er emotionslos.
„Was hast Du vor?“
„Das ist egal.“
„Nein, mir ist es nicht egal!“
„Es war Dir doch auch egal, ob Du mich mit Deinen Worten wieder dahin zurückstößt, wo Du mich gefunden hast!“, entgegnete er nun sehr gereizt.
„Das ist nicht wahr!“, versuchte sie sich zu verteidigen.
„Aber was hätte ich tun sollen? Hätte ich schweigend in das Verderben laufen sollen?“
„Du hättest mir einfach vertrauen können. So wie all die Jahre zuvor!“
Langsam sank sie auf ihr Bett und blickte, von der Erkenntnis getroffen, zu Boden. In ihren Augen bildeten sich Tränen, die auf ihre bleichen Beine tropften. Die Kälte kroch ihr tiefer und tiefer in das Herz und sie zitterte schmerzerfüllt.
„Dir läuft die Zeit davon. Spürst Du schon meinen letzten Kuss auf Deinen Lippen?“
Der Schatten der Nacht bewegte sich langsam durchs Zimmer. Er schien ihren niedergeschlagenen Anblick zu genießen. Und dennoch wuchs dieses Verlangen weiter in ihm, sie in seine Arme zu schließen und sich zu nehmen, wonach ihm dürstete. Aber er wusste, noch war die Zeit nicht ganz gekommen, doch das konnte sich schnell ändern...

Mit einem Satz war er direkt hinter ihr, auch wenn er das Bett nicht berührte. Langsam schlossen sich seine Arme um sie. Und entgegen allem was er erwartet hatte, warf sie sich direkt an seine Brust. Er spürte das Zittern ihrer Angst, die seine Sinne immer mehr verführten. Aber die heißen Tränen, die nun seine Brust benetzten, schienen die Kälte in ihm wieder ein wenig aufzutauen. Schweigend hielt er sie fest.
Er berührte sanft ihr kaltes Gesicht, das ihm auf einmal so fremd und doch so unendlich bekannt erschien. Das Mädchen war still geworden, ihre Tränen waren stumm vertrocknet. Sie sahen sich noch einmal tief in die Augen und für einen Moment vergaß er die Grenzen, die zwischen ihnen lagen. Sanft legten sich seine Lippen auf die Ihren, die ihn sinnlich gerufen hatten. Ein letztes Mal flammte pures Leben durch ihren Leib. Dann erschlafften ihre Muskeln und er konnte nur noch ihrem sterbenden Herzschlag lauschen.
In seinen Augen war nun doch etwas wie Melancholie und Schmerz zu sehen. Er wusste lange Zeit schon, dass sie sehr krank war. Ihre totenbleiche Haut, die fiebrigen Augen, ihr schwerer Atem und das Herz, das ihr so oft in der Brust schmerzte. Ihr war es nicht vergönnt allzu lange auf dieser kalten Welt zu verweilen...
„Die Engel waren wirklich gegen uns“, zitterte seine Stimme. „Aber Du bist nun die Allerschönste von Ihnen. Und ich werde Dich niemals wieder gehen lassen. Wir gehören für immer zusammen.“ Liebevoll streichelte er über ihr lebloses Antlitz. Und dann schenkte er ihr den allerletzten Kuss, den sein Verlangen schon so lange ersehnt hatte. Er verfluchte sich selbst dafür, doch ihm blieb keine Wahl. Wenn er es nicht täte, würden andere kommen und den Engel in ihr töten. Das konnte er nicht zulassen.
In ihren Augen spiegelte sich das Antlitz seines wahren Selbst. Und als das Blut langsam seine Kehle hinablief, spürte er, wie ihre Seele sich in ihm erfüllte. Seine Sinne waren nun scharf wie noch nie. Er spürte ihr Herz in seiner Brust schlagen. Und ihre Stimme wisperte in seinen Gedanken. Nun war sie ein Teil von ihm geworden...

Irgendwo in der Ferne hörte er die Türklingel. Doch es interessierte ihn nicht mehr. Er wusste das sie es war, aber er wusste auch, dass er sie niemals wiedersehen würde. Liebevoll blickte er auf das Mädchen in seinen Armen, das im Mondlicht aussah, als würde es schlafen. Nur war es der ewige Schlaf, der über ihre Augen gefallen war.
Der junge Mann trat an das Fenster und ließ seine Augen grell erglühen. Es öffnete sich von selbst und so stieg er mit ihr in den Armen auf das Fensterbrett.
Die kalte Luft und die Schneekristalle wirbelten um ihn herum. Er lächelte und dann fiel er mit ihr in die Tiefe. Doch bevor er auf dem Boden aufschlagen konnte, entfachte er seine düsteren Schwingen und flog hinauf zu den Wolken.
Irgendwo im Sternenmeer verglühte seine Existenz in der unendlichen Dunkelheit. Kein Mensch sah ihn jemals wieder. Nur manchmal noch erzählen die Engel von der Vergangenheit. Eine Geschichte von einem Dämonen, der sich in einen Engel verliebt hatte.
Und manchmal, wenn der Wind besonders heftig weht, dann können auch die Menschen unterbewusst die Sprache der Engel verstehen. Dann treibt es ihnen die Tränen in die Augen, auch wenn sie niemals begreifen können warum...

(c)by Arcana Moon


Anmerkung von Mondsichel:

Ja und damit wäre das angekündigte nächste Kapitel für meinen Kurzgeschichtenband "Als die Welt zu Eis wurde..." vollendet. Mal sehen was ihr davon haltet. Ist etwas anders geworden, aber das ist ja nix neues bei mir. Vielen Dank an der Stelle an Chris_XY, der mir immer seine Meinung gesagt hat, wenn ihn an meinen Formulierungen etwas störte und somit zur Ausdrucksweise in diesem Kapitel beigetragen hat... :D

"Der Tod hat sich in sie verliebt..."

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Kommentare zu diesem Text


 franky (20.01.07)
Hallo liebe Arcy,
wieder eine wunderschöne geschichte.
sie ist berührend, traurig und spricht dein leben.
es steht alles schon im spiegelbuch deiner seele, wenn der helle mond über den dächern wandert kannst du den text im nachtwind erlauschen und die schatten unterstreichen die zeilen die immer wieder über dein herz schleichen und tränen feuchten dein stimmband um es auszusprechen was in dir schlummert. es ist der engel in dir, der dich ruft und weiß wie die schneeflocke wird er dir die geschichten in dein lebensbuch schreiben, ohne punkt und nur bestehend aus schwarzen und blonden locken aus engelshaaren. das unbändige verlangen nach glück und licht wird dich immer wieder aufwecken und dich daran erinnern, daß die geschichte noch weiter geht; sie ist erst zu ende, wenn der lebenskuß ausgetrunken ist und dein herz sich die augen zu ende geweint hat.
viele lichter, viele schatten,
viele schreie und dann unendliche stille...
schicke dir einen strauß von duftenden rosen
für deine schöne geschichte.
Franky mit sonne für dich
(Kommentar korrigiert am 20.01.2007)

 Mondsichel meinte dazu am 21.01.07:
Ganz lieben Dank an Dich lieber Franky. Ja in dieser Geschichte sind wieder mal viele Facetten meiner Träume eingeflossen. Es sind meist die Träume die mich zu diesen Geschichten beflügeln und mir die Energie geben, das Ende zu finden, das manchmal nicht so einfach zu finden ist.
Die Inspiration scheint mich zu seinem Lieblingskind auserkoren zu haben momentan. So vieles fließt mir aus der Seele und vermischt sich im Kosmos der nimmer müden Gedanken zu einem Bild mit bunten Farben und den tiefsten Schattierungen, die meine Seele lange Zeit nicht mehr gesehen hat. Irgendwie ist momentan eine sehr empfindliche Phase eingetreten, wo mich die Muse fast täglich küsst. Aber umso schöner das es nicht nur dahingeklatschte Dinge sind, sondern auch Geschichten mit Story, Gefühl und Hintergrund.
Manchmal habe ich Angst vor meiner Quantität, doch scheinbar ist die Qualität nicht in den Hintergrund gerückt. Das lässt mich aufatmen und weiterschreiben.

Liebe Grüßle
Deine Arcy
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