Glasfassade

Kurzgeschichte zum Thema Augenblick

von  Judas

Wenn man ein Bild mit dem Fotoapparat knipst, fängt man einen winzigen Moment,
eine Sekunde, die so und in der Form nie wieder zu erleben sein wird, für die
Ewigkeit ein.
Wenn man ein Wort schreibt, fängt man einen Gedanken ein, eine Fiktion, die so
und in der Form nie wieder zu erleben sein wird, für die Ewigkeit ein.
Ich sitze vor dem Kaufhaus, dem Betonblock des modernen Shoppings. Nur eine
durchschaubare, große Glasfassade trennt die Menschen, die mit den Gesichtern
der Alltäglichkeit die Rolltreppe nach oben fahren, der noch leere Einkaufswagen
vor sich, von mir, welche im Dreck des kleinen Rosenbeetes sitzt. Obwohl das
Glas durchscheinend ist, sind die da hinter, Richtung Labyrinth aus Gängen mit
Fastfood und Grillzangen, Sekt und Gummitierchen, Wischmops und abgepackten
Gehacktes, nur halb so frei wie ich. Sie können die Rolltreppe nur hoch oder
runter fahren und dem leeren Ausdruck in ihren Augen nach zu urteilen, sind sie
darüber sehr traurig. Ich habe mich jedoch freiwillig in den Dreck gesetzt, habe
mir den Asphalt hinter mir ausgesucht. Die Sonne scheint auf meine Anzugjacke
und es wird schnell warm, doch wenn ich möchte, kann ich aufstehen und mich wo
anders hinsetzen. Ich darf nach links oder rechts gehen. Nicht nur nach oben –
oder eben nach unten. Des Weiteren schiebe ich nichts vor mir her, nicht leeres
aus kaltem Stahl in der Hoffnung, es mit Billigprodukten füllen zu dürfen.
Schnäppchenjäger.
Der Betonblock steht noch nicht lange hier auf dem Platz, wo einst ein Parkplatz
war auf dem Kinder ihre ersten Fahrradfahrversuche unternommen haben. Nicht
lange ist es her, dass meine Katze zwischen den großen Pappeln umhergetapst ist.
Und dann, dann schaue ich mir die Menschen an. Die, die Rolltreppe hinauf
fahren. In stetigem Rhythmus und mit Bissabstand zum Hinter- und Vordermann. Den Griff des, leeren, Wagens umklammert. ‚Mein Wagen. Mit meinem Euro in sich.’
Dort fährt eine Frau hoch. Sie ist klein und untersetzt, hat ihre ausblondierten, krausen Haare zu einem Dutt gesteckt, und die Nase parallel zum Ende der Rolltreppe gestreckt. Ihre Augen hängen an einem kleinen Punkt irgendwo
zwischen Luft und Nichts, doch schnippisch erhofft sie, dass der Punkt zurück
schaut.
Sie bekommt kein Hartz Vier, da ihr Mann als Chef einer Tischlerei genug Geld
verdient. Den ganzen Tag über sitzt sie zu Hause, mit Waldi, dem Meerschweinchen
von einem Hund. Waldi ist schon zu alt zum laufen und wird immer getragen, was
seinem kaputten Hüftgelenk gut tut. Sie fährt jeden Tag einkaufen, hier auf dem
ehemaligen Pappelparkplatz. Schinken. Denn wenn der Mann nach Hause kommt, dann isst er gerne Rührei zum Abendbrot. Jeden Tag fährt sie hier die Rolltreppe
hoch, bedacht darauf, dass ihr Dutt so sitzt, wie er es jeden Tag tut. Und dabei
merkt sie nicht, schon lange nicht mehr denn die wilden Jahre der jugendlichen
Revolution liegen weit zurück, dass die Alltäglichkeit mehr und mehr und mehr
ihr Leben ersetzt. Ein kurzes Schmunzeln. Sie erinnert sich doch noch an die
70-er.

Dann verschwindet sie mit ihrem Wagen und ihrer Vergangenheit aus der
Glasfassade und somit aus meinem Blickfeld, weshalb ich wieder nach unten
schaue, zum Start.
Die Hauptschule hat er mit Ach und Krach abgeschlossen. Das lag nicht einmal
daran, dass er dumm sei, haben seine Lehrer und Eltern auch immer gesagt. Aber
so etwas wie Schule interessiert ihn nicht, hatte es auch vorher nie getan.
Schule hatte ihn und seine Freunde nur von ihrer Freizeit abgehalten, eingeengt
und war zudem langweilig gewesen. Alle Lehrer sind blöd und werden es immer
sein. Lachhaft, wie sie stets versucht haben, Pädagogik an zu wenden.
Seine Hose läuft fast von alleine, auf dem weißen Pullover steht groß und in
Graffitischrift N.Y. Die Schuhe sind von Nike. Die Haare kurz geschnitten, die
Mütze leicht schräg zur Seite. Die Schultern hängen nach vorne und lässig kaut
er Kaugummi. So wie ich, nur kaue ich nicht lässig, sondern eher, als hätte ich
Zahnschmerzen.
Ach ja, Feizeit. Schule hatte sie ihm und seiner Clique immer genommen, dreist,
bis meistens 14.10 Uhr. Warum er die Rolltreppe hoch fuhr? Heute war er dran,
das Bier aus zu geben und außerdem brauchte er noch eine Schachtel
Billigzigaretten, die es hier in diesem Kaufhaus sehr günstig gab. Er grinst
nach draußen, durch das Glas durch. Ertappt schaue ich ihn an. Doch sein Blick
geht an mir vorbei, zu seinen Freunden, die auf der Treppe vor dem großen,
protzigen, farblosen Eingang auf das Bier warteten. Eine Stunde, zwei Stunden,
drei Stunden, vier Stunden und stinkend nach Alkohol und Tabak nach Hause
kommen.
Ach wie gut, dass wir keine Schule mehr haben, denn ansonsten würde uns ja die
Zeit zu unserer Muße fehlen.

Er verschwindet mit seinem New York Markenpulli aus meinem Sichtfeld, doch
direkt hinter ihm ist ein dünner, blasser Junge mit roten Haaren.
Mama ist Kindergärtnerin, und Papa kann er nur an Wochenenden sehen. Und das
auch nicht immer. Papa ist so oft auf Montage und selbst zu seinem 11.
Geburtstag konnte Papa nicht da sein. Mama beschimpft Papa immer als untreuen
Holzklotz, wenn Mama glaubte, er höre nicht zu. Dann weint Mama immer und trinkt
aus der großen Flasche mit dem goldfarbenen Getränk. Er hatte einmal gekostet,
und danach hatte seine Zunge gebrannt und er hatte schrecklich husten müssen.
Unverständlich, wie Mama das trinken kann.
Die Hände hat er tief in den Taschen seiner violetten Jacke vom Restpostenmarkt
versteckt, die ihm viel zu groß ist. Du wächst ja noch rein, hatte Mama gesagt.

Unsicher und mit klopfendem Herzen blickt er zum Ende der Rolltreppe, doch
niemand achtet auf ihn. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt.
Heute würde er seinen ersten Ladendiebstahl begehen und eine Packung Kaugummi
einstecken.

Ich strecke mich. Langsam macht mich traurig, was mir die Kinoglasfassade zeigt.
Der Film gefällt mir nicht, aber die Bildqualität ist gut. Dann drehe ich den
Kopf weg von der Rolltreppe und sehe den Weg hinauf, über die Ampel weg, zum
Bahnhof und bemerkte gar nicht den jungen Mann, der aus dem Zug gestiegen war.
Hätte ich ihn gesehen, ich hätte ihn zu einer Cola eingeladen, denn vielleicht
würde er ja über Probleme reden wollen. Vielleicht hätte ich ihn auch abhalten
können, sich hinter die Glasfassade zu schieben und die Rolltreppe hoch zu
fahren. Doch zu spät kehre ich gedanklich zu meinem imaginären Wachposten zurück und sehe schon, wie er nach oben fährt, den Griff des Wagens fest umklammert und mit Bissabstand zum Vorder- und Hintermann. Er sieht traurig zu mir, nach draußen.
Ich sitze in der Erde des Blumenbeetes und die Sonne scheint heiß auf
meine dunkle Jacke, die viel zu dick für die heutigen Temperaturen ist. Nein,
nicht traurig. Alltäglich. Auch wenn das mindesten genauso traurig ist.
Eigentlich hatte er immer von Revolution und Bob Marley geschwärmt. Worte
verletzen niemanden, weshalb er gerne diskutiert. Das System muss sich ändern,
hatte er immer gesagt. Neue Regierung, dafür war er. Mehr Einsatz für die dritte
Welt, seine Meinung. Die Reichen geben den Armen, der moderne Robin Hood. Das
System ändert sich nicht, wurde ihm bei gebracht, es ist gut so wie es ist. Die
Regierung ist nicht unfähig, das war der Gegensatz. Nachdem er festgestellt
hatte, dass das Volk eine dumme Hammelherde ist, glaubte er auch, es wäre besser
für die Regierung, sich ein neues Volk zu suchen.

Cola geht er kaufen und Chips. Dabei hätte ich ihm auch Cola ausgeben können.
Doch nun verschwindet auch er aus meinem Sichtfeld und ich stehe auf. Blinzelnd
beobachte ich den Stand der Sonne und wunder mich, wie schnell die Zeit vergeht.
Ich habe nur eine Minute in den Rosen gesessen und den Lebensinhalt von 60
Jahren gezeigt bekommen. Und wieder, wieder stelle ich fest, die Alltäglichkeit
wird mir aus vollen Fässern gezapft, auf einem versilberten Holztablett
geliefert und dafür auch noch Trinkgeld verlangt. Auch wenn ich etwas anderes
bestellt habe, bekomme ich nur ein schaumloses, trübes Alltagsbier abgestellt.
Dabei mag ich Bier überhaupt nicht. Ich beuge mich tief über den Krug und
blinzele die blinde Flüssigkeit irritiert an. Sie lacht mich aus, als ich mit
der Hand ein wenig an ihr rüttle. Ich lehne mich dann wieder zurück, und frage
mich, ob es gut ist, sich mit dem Allgemeinen zu versöhnen. Dabei lebe ich so
gern ungewöhnlich.


Ein Foto ist ein klitzekleiner Moment, so winzig, dass selbst das Auge ihn nicht
fest halten kann. Das Foto konserviert diesen einzigartigen Augenblick für die
Unendlichkeit um ihn allezeit wieder erleben zu können. Dabei merkt man gar
nicht, dass von Erleben zu Erleben der Moment immer mehr an seiner
Einzigartigkeit verliert, mehr, und je öfter man ihn erlebt und je mehr Leute
ihn mit einem zusammen erleben, um so ordinärer wird er, so ordinär, dass er
nicht einmal mehr den Wert für das Fotoalbum gewinnt. Aber was zählt denn nun.
Dieser Moment oder die Ewigkeit?
Später vielleicht, vielleicht später beantwortet sich die Frage von selbst, aber
bis dahin bleibt sie rethorisch.
Geht es meinen Gedanken genauso? Wenn ich sie schnell auf Papier einbrenne,
halte ich sie für die Endlosigkeit fest und sie verlieren dann genauso an Wert,
wie ein Foto.
Und dann, dann frag ich mich wo ich stehe. Ich bin schon fast oben, bis ich
merke, dass ich hochfahre. Ich stehe hinter einer Glasfassade und ein Waldi
beobachtet mich, während er die Geschichte meines Lebens sieht.

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Kommentare zu diesem Text

Prekaria (27)
(21.01.07)
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 Judas meinte dazu am 21.01.07:
Ich habe die Zeit. Nimm sie dir darum auch :)
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