Berührungsangst

Kurzgeschichte zum Thema Angst

von  Mondsichel

„Hallo, ich bin Jean. Und wie heißt Du?“, hatte der junge Mann mit den fröhlichen Augen und dem dunklen Wuschelkopf gesagt.
„Ich bin Anne“, hatte das Mädchen mit den schwarzen Augen und Haaren verblüfft geantwortet. Sie hatte nicht damit gerechnet, irgendwann mal von jemand wildfremden angesprochen zu werden. Aber mit jemandem wie Jean hätte sie auch niemals wirklich rechnen können.
Obwohl Anne oft Angst vor anderen hatte und sich ganz selten mal unter Menschen begab, schaffte er es auf sonderbare Weise sehr leicht ihre Aufmerksamkeit zu wecken. Er hatte die Wolkendecke ihrer Traumwelt durchstoßen und ihr eine neue Realität geschenkt. Auch wenn sie ihn niemals als Freund bezeichnet hätte, war er doch der einzige Mensch, der ihr wirklich nahe gestanden hatte.
Niemals war es ihr in den Sinn gekommen, auch nur ein wenig näher in seine Welt zu treten. Denn sie hatte Angst vor jeder Berührung, Angst vor jedem Gefühl das sie empfinden konnte. Und wenn er ihr zu nahe gekommen wäre, dann hätte sie jegliche Empfindung eiskalt getötet, nur um nicht verletzt zu werden...

Sie saß nachdenklich am Hafen und hatte auf das Meer hinaus gesehen. Er wusste das sie oft dort saß, um sich vom Wind die trüben Gedanken aus dem Kopf wehen zu lassen, auch wenn er ihre Traurigkeit selten verstand.
Langsam zog sie ihre Hand zurück, die der junge Mann ergriffen hatte, um ihr aufzuhelfen. Sie spürte auf ihrer Haut ein Kribbeln, das ihr tiefer und tiefer in den Bauch drang, ihr Herz eroberte und ihr schließlich sogar den Atem raubte. In ihrem Innersten wurde es heißer und heißer. Sie begriff nicht was mit ihr geschah.
Mit großen Augen sah sie ihn an, ihn, der ihr diese Gefühle durch den Körper jagte. Und das nur mit einer einzigen Berührung, einem einzigen Moment, in dem seine Haut zaghaft die Ihre küsste. Sein sanftes Lächeln ließ ihr angenehme Schauer über den Rücken fahren. Ihre innere Welt überschlug sich…
„Ist alles in Ordnung?“, er blickte sie etwas besorgt an.
„Nein... ich meine... Ja... Es ist alles in Ordnung, mach Dir keinen Kopf...“
Er glaubte ihr kein einziges Wort, doch er sagte nichts. Denn er wusste, sie würde niemals zu dem stehen, was momentan in ihrem Innersten vor sich ging.
„Na gut, dann… Du weißt… Du kannst mit mir reden wenn irgendwas ist…“ Er schaute sie ernst an. Sie nickte abwesend, versuchte ihm nicht ins Gesicht zu sehen.
„Wir sehen uns“, zitterte ihre Stimme ihm entgegen.
Mit gesenktem Blick wollte sie an ihm vorbeigehen. Doch er hielt sie am Arm fest und unweigerlich musste sie ihm nun in die Augen blicken. In diese tiefen dunklen Seelenspiegel, in die sie früher so oft ohne Scheu geblickt hatte.
Als würde sich die ganze Welt gegen sie verschwören, strahlte die Sonne in diesem Moment besonders stark und seine Augen glühten ihr mit einem unbändigen Feuer entgegen. Er konnte ihr in diesem Moment bis auf den Grund der Seele sehen.
Die gespielte Kühle litt unter der Röte, die im selben Moment in ihre Wangen schoss. Die Hitze in ihrem Körper weckte ein Verlangen, das sie immer wieder unterdrückt hatte. Panisch riss sie sich los und lief vor ihm davon…

Dem schönen Gefühl im Herzen des Mädchens folgte eine große Unruhe. Sie entschloss sich diesen Moment zu vergessen, so wie sie schon viele andere Momente in ihrem Leben vergessen hatte. Auch wenn es ihr diesmal wirklich schwer fiel.
Es schmerzte mehr als sonst, die Kälte tauchte ihr Schwert in heißes Blut. Und jedes Mal wenn sie ihn sah, dann begann das Blut erneut zu kochen.
Immer wieder dachte sie an jenen Moment, als ihre Hände sich berührten. Wie seine Augen im Strahlen der Sonne geleuchtet hatten und an sein Lächeln, dass sie fast um den Verstand gebracht hatte. Noch niemals war sie so durcheinander gewesen.
Sie versuchte sich zu distanzieren, versuchte mit Gewalt seiner Nähe zu entkommen. So verkroch sie sich zuhause, ging nur noch selten vor die Tür, ignorierte das Telefon und die Türklingel. Und die Angst pulsierte immer stärker und stärker in ihr, da sie nicht verstand, wieso der Schmerz nicht gehen wollte.
Sonst hatte sie nichts verspürt, wenn sie alles in sich getötet hatte. Aber jetzt schienen all die verdrängten Gefühle gleichzeitig auf sie einzustürzen. Zitternd saß sie mit starren Augen in der Dunkelheit, aus denen ungehindert die Tränen flossen...

„Warum tust Du das?“, flüsterte eine innere Stimme plötzlich zu ihr.
„Wer… wer ist da?“, panisch blickte sie sich um.
„Ich bin die Stimme Deiner inneren Welt…“, ertönte es.
„Was willst Du von mir?“, versuchte sie mit trotzigem Tonfall zu sagen.
„Warum bringst Du mich immer wieder von neuem um?“
Für einen Moment herrschte Schweigen.
„Was meinst Du?“, fragte sie schließlich zögerlich.
„Warum tötest Du immer wieder Deine Seele? Warum zerfleischt Du Deine Gefühle? Warum kannst Du Dich nicht einmal dem ergeben, wonach Dein Innerstes verlangt?“
Erneut schwieg sie.
„Ich hungere nach Erfüllung, nach Liebe und nach den Träumen, die wir einst ganz tief in unserer Welt gesponnen haben. Weißt Du denn nicht mehr wie schön es war? Willst Du das alles so einfach von Dir stoßen? Warum?“
„Ich kann nicht... ich muss stark sein...“, schluchzte sie…
„Liebe ist keine Schwäche! Wenn Du es nicht wagst Dich endlich zu öffnen, dann wirst Du daran zugrunde gehen. Was hast Du denn zu verlieren?“
„Nein… nein… nein… Ich kann einfach nicht“, sie war völlig fertig.
„Du kannst nicht? Du willst nicht! Das ist es! Ein Feigling bist Du! Unfähig sich dem Leben zu stellen, das da draußen noch so viele Abenteuer für Dich bereit hält. Deine Träume können wahr werden, wenn Du es einfach nur willst!“
„Wer könnte mich schon lieben?“, entgegnete sie nun abfällig lachend.
„Wenn Du mit einer solchen Einstellung den Menschen gegenüber trittst, dann wird Dich niemand lieben. Dann wird niemand das Leuchten Deiner Seele erkennen. Ich will nicht an der Leere vergehen und von der Einsamkeit zerfressen werden! Hörst Du? Wir sind eins und ich lasse es nicht zu, dass Du mich tötest!“
„Bitte… ich will doch einfach nur meine Ruhe!“, sagte sie erschöpft.
„Deine Ruhe kannst Du haben wenn Du stirbst!“
„Warum kannst Du mich denn nicht verstehen? Mit jedem Schmerz, den mir das Leben und die Menschen zufügen, stirbt ein Teil von mir. Wenn ich wieder leiden muss, dann ist sowieso alles vorbei.“ Sie fasste sich nachdenklich an den Kopf…
„Lieber spüre ich nichts und bin allein, als an den Menschen unterzugehen, die mir den Atem nehmen und mein Leben erdrücken.“
„Du meinst, lieber zerstörst Du Dich selbst, als dazu zu stehen, dass auch Du nur ein Mensch mit Gefühlen und Träumen bist? Der Schmerz gehört zu Deinem Leben genauso dazu, wie das Lächeln, das früher so oft auf Deinem Gesicht lag.“
„Ich habe einfach keine Kraft mehr.“
„Die Liebe gibt Dir Kraft.“
„Die Liebe gibt mir auch Schmerz.“
„Aber dieser Schmerz ist es wert gefühlt zu werden.“
„Ich…“
„Zweifle nicht. Wenn Du nicht bereit bist Dich der Gefühlswelt in seiner ganzen Vielfalt zu öffnen, dann wirst Du immer nur leiden. Dann wirst Du auch niemals glücklich sein, denn ein eiskalter Mensch, wird auch nur Eis verspüren können.“
Stumm lief eine letzte Träne von ihrem Gesicht herab.
„Es tut so weh in meinem Herzen.“
„Es muss wehtun, damit die gebrochene Seele heilen kann. Wenn Du nichts spüren würdest, dann wäre es zu spät...“
Ein lautes Klopfen an der Tür riss sie aus dem inneren Gespräch mit sich selbst.
„Anne? Anne? Mach doch auf! Ich weiß das Du da bist!“, erklang Jeans Stimme.
Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Für einen Moment wollte sie verweilen, doch ihre innere Stimme ließ es nicht zu.
„Jetzt oder nie. Du kannst Dich entscheiden.“
„Anne? Bitte mach doch endlich auf! Warum versteckst Du Dich vor mir?“ Er klopfte noch ein wenig energischer an die Tür.
Langsam stand sie auf und ging nach vorne in den Flur...

Fast wollte er schon aufgeben, als er hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte. Erwartungsvoll schaute er auf den Eingang, der sich nun langsam öffnete.
„Anne?“, ein wenig zaghaft klang seine Stimme ihr entgegen.
„Ja?“, sie blickte ihn mit traurigen Augen an.
„Meine Güte, wie siehst Du denn aus? Was ist denn los?“ Besorgt schaute er auf das kleine Häufchen Elend, mit den zerwuschelten Haaren und dem erschöpften Blick.
Sie schwieg, aber dieses Schweigen sagte mehr als tausend Worte. Er nahm sie fest in die Arme und wollte sie nicht mehr loslassen.
Sie zuckte zusammen über die unerwartete Umarmung. Eine Hitzewelle ging rasend durch ihren Körper und sie meinte zu verbrennen. Das angenehme Gefühl in ihrem Bauch ließ sie wie auf Wolken schweben...
Ihr Atem ging ein wenig schwerer und wieder kam Panik in ihr auf. Doch bevor sie wieder in alte Manien zurückfallen konnte, küsste er sie voller Leidenschaft und benebelte ihre Sinne, der ihre Gegenwehr schließlich gänzlich sterben ließ.
„Ich weiß nicht, wie ich Dir anders meine Gefühle erklären sollte“, flüsterte Jean, der seit Anfang an Hals über Kopf in sie verliebt gewesen war. „Ich will nicht mehr ohne Dich sein. Ohne Dein Lachen, Deine funkelnden Augen, Dein bezauberndes Wesen. Ich liebe Dich.“ Ein zurückhaltendes Lächeln lag auf ihrem Gesicht.
Er wusste, es würde noch ein sehr langer Weg werden, ihr die Angst ganz zu nehmen. Doch er wusste auch, ihr Herz hatte er bereits gewonnen...

(c)by Arcana Moon


Anmerkung von Mondsichel:

Und wieder ein Teil für "Als die Welt zu Eis wurde..."
Ich hoffe er gefällt Euch ;)

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (13.06.22, 15:00)
Furchtbar rührseliger Beziehungskitsch, sorry!
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