Der dunkle Flur

Kurzgeschichte zum Thema Befreiung

von  Martina

Sybil trug mit Karl die schwere Kiste durch den alten verrauchten Hausflur. Er war dunkel und erinnerte in seinem einfachen Stil an eine verruchte Kneipe.

Jedesmal, wenn sie die Treppe nach einem harten Arbeitstag hinaufstieg, mehr schlurfend als leichtfüssigen Schrittes, trotz ihrer gerademal 21 Jahren, fühlte sie sich wie in einer Räuberhöhle. Vor ihrem geistigen Auge sah sie an schmutzigen Tischen grölende Matrosen sitzen. Skatspielend, trinkend und johlend.

Dieser Flur war so riesig, dass selbst ein paar Tänzerinnen, die zum Can- can tanzten und ihre Röcke kess in die Höhe rissen, noch genügend Platz hier gefunden hätten. In ihren Gedanken gab es sie natürlich und sie rundeten ihre Vorstellung perfekt ab.

Jenes Bild hatte sie jeden Tag vor Augen, und sie selbst fühlte sich als unsichtbare Zuschauerin, wie in einem Film aus längst vergessener Zeit. Sie mochte diesen Flur nicht, hatte ihn nie gemocht. Es war ihr, als müsste sie jedes Mal auf`s neue, erst eine schaurige Odyssee überstehen, um in ihre schöne, lichtdurchflutete Wohnung zu gelangen.

Beides stand derart im Widerspruch, dass man nie vermutet hätte, hier am Ende dieses dunklen Ganges, ein kleines Königreich vorzufinden. Liebevoll hatte sie alles eingerichtet und verschönert. Würde sie nicht so an ihrer kleinen Wohnung hängen, hätte sie schon längst das Weite gesucht.

Am Anfang sträubte sich alles in ihr, hier einzuziehen, aber sie hatte es Kurt zuliebe getan. Es sollte ihre erste eigene gemeinsame Wohnung werden. Hauptsache raus und weit weg von den Eltern und Freunden, die seit Anbeginn ihrer Beziehung gegen Kurt gewesen waren.

Heute wußte sie, dass sie es nur gut meinten, aber damals war sie blind vor Liebe gewesen. Sybil hatte in ihrer Verliebtheit keinen vermisst, sollten sich doch all die zum Teufel scheren, die sich zwischen sie und Kurt stellen wollten. Meine Güte, das war jetzt drei lange Jahre her.

Kurt hatte damals noch keine Arbeit, und das hatte sich trotz vieler Versprechen bis zum heutigen Tage nicht geändert. Entweder ließ er Termine platzen, oder eine Alkoholfahne war schneller im Vorstellungsbüro als er.

So blieb es allein an Sybil hängen, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Und da die Kosten immer mehr stiegen, musste sie sich noch einen Zweitjob zulegen. Von Kurt konnte sie keine Unterstützung erwarten. Den Zahn hatte sie sich schon lange gezogen.

Mit Inbrunst hatte sie für ihre Beziehung gekämpft, doch es war wie schwimmen gegen den Strom. Sie war müde und erschöpft. Ausnutzen und ausbeuten hatte sie sich lassen, während er sich eine schönes Leben auf ihre Kosten machte. Sie konnte und wollte einfach nicht mehr.

Die Liebe war auch schon lange auf den Flur geflüchtet. Wurde verdrängt und rausgeekelt von dem grenzenlosen Egoismus, der Ausbeutung von Geld und Gefühlen. Das einst so stolze, starke Gefühl saß dort wie ein Häufchen Elend zwischen den betrunkenen Matrosen und soff sich unter den Tisch. Nichts war mehr zu retten.

All diese Gedanken gingen Sybil durch den Kopf, als sie Kurt half, sein ganzes Hab und Gut die Treppe hinunter zu tragen. Eigentlich hätten die beiden gut hier in die Kneipenszene gepasst. Er und diese alte gammelige Seemannskiste, mit all den Dingen angefüllt, die Kurt besaß.

Lange hatte es gedauert, bis sie diesen Entschluss gefasst hatte. Heute war es soweit. Sie hatte ihn aus ihrem Leben geschmissen. Sybil behielt die Wohnung. Bei einem Freund würde er Unterkunft finden. Ihr war es mittlerweile auch egal, wo er schlafen würde, sie fühlte sich nicht mehr für ihn zuständig.

Komisch, sie wußte, sobald er durch die Haustür verschwunden war, würden mit ihm auch all die Gestalten aus dem Flur verschwinden.
Sie gehörten zu seiner Aura, und wenn er ging, wäre auch für sie kein Platz mehr hier.

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Kommentare zu diesem Text


 Isaban (06.02.07)
Ein Reifeprozess. Kein schneller, aber einer, der nun endlich durchgreift. Gut rübergebracht, auch wenn wohl Gogos selten Can Can tanzen. Soviel Rock auf den Tischen ist sehr rar heutzutage.

Ich habe sie gerne gelesen, deine Geschichte.

Liebe Grüße
Sabine

 Martina meinte dazu am 06.02.07:
Liebe Sabine...Ich wusste, dass da irgendwas nicht passt...lach...habe dann auf ein Kommentar wie deines gehofft...griins...Gut das du mich sofort als erstes drauf aufmerksam gemacht hast. So kann ich es noch schnell ändern. Mit den Tänzen hab ich es nicht so...schäm* Liebe Grüße für dich, Tina
Alive (53) antwortete darauf am 06.02.07:
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 Martina schrieb daraufhin am 06.02.07:
Ja, auf die negativen Emotionen hab ich extra verzichtet...sie machen den Text nur noch schwermütiger als er ohnehin schon ist. Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, diesen langen Text zu lesen, Volker. Hab einen schönen Tag, Tina
Lucina (47)
(06.02.07)
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 Martina äußerte darauf am 06.02.07:
Danke, deine Worte haben mich gefreut. Texte werden eher seltener gelesen, deshalb freue ich mich, das sich doch einige gefunden haben=)
Lg Tina
StefanP (58)
(06.02.07)
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 Martina ergänzte dazu am 07.02.07:
Oh ja, da bin ich ganz bescheiden =)) Ich dankde dir..du! Hab einen schönen Tag Stefan,Tina
The_black_Death (31)
(08.02.07)
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 Martina meinte dazu am 08.02.07:
Sehe ich genauso...hab dank für deine Worte, Gruss zu dir, Tina
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