Gartenkind

Märchen

von  Bellis

In einer kleinen Stadt am Meer gab es einmal einen großen Garten, eigentlich einen Park, in dem ein prächtiges Haus stand. Der Garten und das Haus gehörten einer Dame, die so vermögend war, dass ich keine Vorstellung davon hatte, wer reicher sein könnte als sie. Und doch schien ich etwas zu besitzen, was ihr fehlte und was sie deshalb begehrte. Weswegen sie es mir wegnahm.

Ich selbst war arm. Meine Mutter hatte ich nicht kennen gelernt. Mein Vater, ein Fischer, war vor kurzem gestorben und hatte mir nichts hinterlassen als ein verschuldetes Häuschen und ein löchriges Boot. Beides verkaufte ich für ein paar Münzen und zog in die Stadt, um Arbeit zu finden. Ich war jung und kräftig, und als sich für mich die Gelegenheit bot, in der Küche des prächtigen Hauses zu helfen, nahm ich die Stelle gern an. Ein Bett wurde mir auf dem Dachboden in einer kleinen Kammer zur Verfügung gestellt. Spätabends nach der Arbeit blickte ich von dort in den Garten; ich sah purpurne Blüten, roch betörend süße Früchte und hörte den Wind in sonderbaren Bäumen rauschen, die selbst wie Blumen aussahen, mit geschuppter Rinde und Blättern wie Farnwedel. Und am Tag erkannte ich auf dem feinen Porzellan der wohlhabenden Dame einige Pflanzen aus dem Garten wieder. Wenn ich die festen Kartoffelknollen und die saftigschweren Salatköpfe in den Händen fühlte, wuchs meine Neugier auf die Gartenfülle nur noch mehr. Deshalb fragte ich beharrlich den Koch oder einen der zahlreichen Gemüsegärtner, die von der Dame beschäftigt wurden, nach den Namen der Gewächse.

Die Arbeit der Gärtner schien mir noch schwerer als unsere Arbeit in der Küche zu sein. In den warmen Monaten des Jahres mähten sie den Rasen zwischen den mächtigen Bäumen, beschnitten Hecken und putzten die Scheiben der großen Gewächshäuser, in denen südländisches Gemüse und exotische Blumen gezogen wurden. Im Herbst ernteten sie Beeren, Nüsse und Trauben, fegten Laub und häufelten es um die Rosensträucher an. Im Winter wickelten sie Tannengrün um die Stämmchen der empfindlichsten Obstbäume und dämmten die Türen und Fenster der Gewächshäuser mit Strohmatten, damit der Frost nicht eindrang. Und im zeitigen Frühjahr gruben sie den winterzähen Boden der Rabatten um, damit die Knollen und Zwiebeln der Sommerblumen gesteckt werden konnten.

In den ersten Wochen meines Dienstes wagte ich mich nicht weiter als bis zum Kräutergarten gleich hinter der Küchentür. Doch ich war sehr neugierig auf die vielen fremdartigen Pflanzen des Parks. Als einer der Gärtnergehilfen, ein frecher junger Mann mit walnussbraunen Augen, eines Abends unter meinem Kammerfenster pfiff und mich hinunter lockte, um mir all die Pracht aus der Nähe zu zeigen, folgte ich ihm nur zu gern. Leise plaudernd wanderten wir über die Wege, und er nannte die wie Musik klingenden Namen von prunkvollen Blumen, erklärte mir stolz, woher Orchideen, Strelitzien und Hibisken stammen, und pflückte für mich Samenkapseln und -stände. Auch über saftige Früchte und würzige Salate lernte ich an den kommenden Abenden viel. Ich entdeckte den köstlichen Geschmack von Datteln und Orangen, Artischocken und Lollo Rosso. Tagsüber in der Küche schaute ich mir ab, wie man daraus appetitliche Gerichte bereitet, und es gelang mir mit der Zeit immer besser, das Aroma der Früchte hervorzuheben. Um den Kräutergarten kümmerte ich mich mittlerweile ganz eigenständig. Unter meinem Bett verbarg ich eine Schachtel, in der ich Sämereien und Knollen verwahrte, sorgfältig getrocknet, in Papier eingeschlagen und mit dem Namen der Pflanze darauf. Eines Tages, sagte ich mir, habe ich auch einen Garten, vielleicht nur einen kleinen, aber einen ebenso zauberhaften und üppig grünen, wie diesen hier.

Heftig hatte ich mich in den jungen Gärtner verliebt. Trotz meiner vielen anstrengenden Pflichten konnte ich abends kaum die Dunkelheit abwarten, um durch die Nacht zu ihm zu huschen. Wir trafen uns in einem versteckten Winkel des Gartens, unter einer Buche, deren Zweige bis auf den Boden reichten und eine Laube bildeten, die uns vor neugierigen Blicken verbarg. Denn neben Erdbeeren und Pfirsichen kosteten wir nun auch die berauschende Süße unserer Lippen, ertasteten mit Zungen und Händen rosenblattkühle nachtheiße Haut.
Nicht verborgen blieb jedoch, dass ich alsbald ein Kind erwartete. Während ich noch versuchte, meine Schwangerschaft durch meine Kleidung zu verdecken, verbreitete sich die Nachricht über meinen Zustand und dessen Ursache schon im ganzen Haus. Mein Geliebter wurde entlassen; er ging auf der Stelle fort, ohne sich von mir zu verabschieden. Mir wurde befohlen, vor der Hausherrin zu erscheinen, was ich, vor Angst und Unglück weinend, tat.

Verzweifelt stand ich vor der kalt blickenden Frau. Sie thronte auf einem Sessel mit einer aus Pfauenfedern geformten Lehne und sah fremdartiger aus, als all ihre Pflanzen zusammen. Ihre Gewänder waren aus spinnwebzarten Tüchern, die in jedem Grün des Gartens schimmerten und auf denen edle Steine wie Tautropfen funkelten. Auf ihrem Schoß lag ein schweres Buch, auf dessen Einband eine Rosenblüte in einem Gewirr aus Dornenranken prangte.
Ich versuchte, meine Gefühle für den jungen Gärtner zu erklären, aber meinen Schmerz über sein Fortgehen nicht zu zeigen. Die vornehme Dame hörte sich alles an und schwieg lange. „Verhält es sich so, wie du sagst“, meinte sie schließlich, „so will ich dir gestatten, bis zur Geburt deines Kindes in meinem Haus zu wohnen und zu arbeiten; allein ich mache eine Bedingung: Du musst mir das Kind geben, sobald du es zur Welt gebracht hast. Es soll ihm gut gehen, und ich will für es sorgen wie eine Mutter.“
Fieberhaft überlegte ich. Schwanger würde ich keine andere Arbeit finden. Erspartes Geld hatte ich nur wenig. Ich wusste nicht, wo ich wohnen und wen ich um Hilfe bitten könnte. Ich wusste nicht, wie ich mein Kind ernähren sollte. Wenn ich auf den Wunsch der reichen Dame einging, ließ sie mich vielleicht doch nach der Geburt weiterhin im Haus arbeiten, so dass ich die Möglichkeit hätte, das Kind zu sehen und mit ihm im Garten zu spielen. Für den Fall, dass mir das verwehrt wurde, würde ich eine passende Gelegenheit finden, mit meinem Kind zu fliehen. Also ging ich auf die Forderung der Hausherrin ein.

Bis zur Geburt des Kindes arbeitete ich weiterhin in der Küche. Als die Wehen einsetzten, stand ich gerade am Spülbecken. Der Schmerz war so heftig, dass mir das Geschirr aus den Händen glitt und klirrend auf dem Boden zersprang. Ich fiel in Ohnmacht und wurde in meine Kammer getragen, worauf sogleich eine Hebamme gerufen wurde. Als ich zu mir kam, hatte man das Kind bereits fortgebracht, und ich kannte nicht einmal das Geschlecht meines Kindes. Ich fragte danach, doch bekam nur knapp zur Antwort, dass ich ein kleines Mädchen geboren hätte. Dann wurde ich grob angewiesen, meine Sachen zu packen, da man mich nicht mehr brauchen würde. Weinend suchte ich meine Habseligkeiten zusammen, verstaute meine Sämereien dazwischen und verließ, verzweifelt und schwach, das prächtige Haus.

Ich kam in einem Zimmer in einem schmalen Häuschen unter, das in der schmalen Gasse gleich neben der hohen Mauer stand, die den Garten umgab. Durch mein Fenster fiel nur wenig Licht, doch das Wissen, dass hinter der trutzigen Mauer mein Kind lebte, ließ mich nicht weiter wegziehen.
Jeden Tag stand ich nun am verschlossenen Eingangstor des Gartens, mit brennenden Augen und schmerzenden Brüsten, und versuchte, einen Blick auf meine Tochter zu erhaschen. Tatsächlich konnte ich nach einigen Wochen erspähen, wie sie in einem Wagen über die Gartenwege geschoben wurde. Und eines Tages, an dem die Sonne nicht allzu sehr vom Himmel stach, hob die Amme mein Mädchen heraus – hob sie hoch in die Luft, so dass sie jauchzte und ihr helles Haar in der Sonne schimmerte wie der Silbertaler im Herbst! – und bettete sie dann auf Decken in den Schatten hoher Bäume.

Auch wenn meine Sehnsucht groß war, meine Tochter aus der Nähe zu sehen, ihr Händchen in meiner Hand zu fühlen und ihr Gesichtchen zu betrachten, freute ich mich doch auch, sie so unbeschwert und behütet zu sehen. Ihr Lachen und ihr erstes Geplapper klang zu mir herüber; ich fühlte, wie ich neue Kraft gewann, und beschloss, nicht länger leblos zu trauern. „Doch eines Tages“, sagte ich mir, „werde ich mir mein Kind holen“.

In den folgenden Wochen wanderte ich durch Dörfer und Weiler und fragte nach Arbeit. Da ich viel über das Gärtnerhandwerk gelernt hatte, zudem kochen und haushalten konnte, hoffte ich darauf, eine Arbeit in einer Küche oder auf einem Bauernhof in der Umgebung der Stadt zu finden – ohne Erfolg. Zwar traf ich hilfsbereite Menschen, die mir Orte nannten, an denen ein Paar tüchtige Hände gebraucht wurden, doch wenn ich dort anlangte, war die Arbeit entweder schon getan oder der Hinweis stellte sich als falsch heraus.

Müde rastete ich eines Mittags am Saum eines Waldes. Grillen zirpten im trockenen Gras, und Bienen summten mich müde. Ich hatte kein Geld und kein Brot mehr, Durst und wunde Füße plagten mich. Als ich gerade einschlafen wollte, hörte ich hinter mir Äste knacken und jemanden böse schimpfen. Ich fuhr herum und sah, wie sich ein runzliges Weiblein aus dem Wald heraus kämpfte. Mürrisch hieb sie mit ihrer Knute auf das Unterholz ein und bahnte sich ihren Weg in die Sonne. Als sie mich erblickte und sah, wie ich schmunzelte, fauchte sie mich an: „Was hältst du Maulaffen feil, anstatt einer alten Frau behilflich zu sein?“ – „Und was hält dich davon ab, mich um Hilfe zu bitten?“, gab ich zurück, während ich ihr die Kiepe von Rücken hob. „Freches Ding“, murrte die Alte. Ächzend ließ sie sich neben mir nieder und langte in ihren Korb. Sie holte einen Krug, indem es verlockend gluckste, sowie Brot und Käse heraus und teilte ihr Mahl mit mir. Hungrig griff ich zu und genoss das Schmelzen des würzigen Käses auf meiner Zunge. Als ich den Krug an die Lippen setzte, schmeckte ich rote Beeren und herbe Kräuter. Erfrischt dankte ich dem Weiblein, welches mich interessiert aus winzigen Heidelbeeraugen anschaute. „Was führt dich in meinen Wald?“ Ich erzählte der alten Frau meine Geschichte und endete mit der Frage, ob sie nicht jemanden wüsste, der Arbeit für mich hätte. Wie war ich verwundert und erfreut, als die Alte anbot, mich in ihre Dienste zu nehmen. Ich sollte ihr Haus und Garten sauber halten, dagegen wollte sie mir beibringen, wo in ihrem Wald die heilsamsten Kräuter und die schmackhaftesten Beeren zu finden wären, welche ich dann auf dem Markt verkaufen könnte. Nur zu gern willigte ich ein.

Das Weiblein führte mich zurück in den Wald bis zu einer kleinen Lichtung, welche sich als Gärtchen voller Blumen und Gemüse herausstellte. Doch wie sehr unterschied es sich vom prächtigen Park der reichen Dame! Am geflochtenen Zaun standen Sonnenblumen und Stockmalven, dahinter wuchsen Kürbis und Knoblauch in friedlicher Eintracht. Kunterbunt blühten die Blumen zwischen Radieschen und Rhabarber, und selbst im Erdbeerbeet entdeckte ich eine Insel mit Gänsebümchen. Mitten im Garten stand das Häuschen der Alten. Es war winzig und ganz und gar aus Holz gebaut. Innen hingen von der niedrigen Decke Bündel getrockneter Kräuter herab, die einen fast betäubenden Duft verströmten. Im Herd glimmten ein paar Scheite und im Topf auf der Platte quackerte ein appetitlich riechendes Mus. Das Kräuterweiblein zeigte mir meinen Schlafplatz und wies mich in meine Arbeit ein.
Am nächsten Morgen machten wir uns auf den Weg in den Wald. Dort zeigte sie mir verborgene Stellen mit besonders seltenen Kräutern und Pilzen, nannte mir Namen und Wirkung und den richtigen Erntezeitpunkt. Auch wies sie mich darauf hin, niemals Pflanzen mit der Wurzel auszureißen oder zu viel mitzunehmen, damit sich die Gewächse wieder erholen und vermehren könnten.

Elf Jahre lang lebte ich bei dem Kräuterweiblein, und ich war nicht unzufrieden darüber. Ich pflegte das Häuschen und auch das Gärtchen, pflückte Haselnüsse und Brombeeren. Und während die alte Frau meine Ernte zum Markt in die Stadt brachte, streifte ich durch den Wald, um Steinpilze und Pfifferlinge zu sammeln.
Doch dann starb die Waldfrau und ließ mich allein zurück. Ab diesem Zeitpunkt ging ich nicht mehr unter Menschen. Ich ernährte mich nur noch von dem, was Garten und Wald mir schenkten.
Eines Tages, als ich mich, einem Bachlauf folgend, durch das Dickicht kämpfte, stieß ich mit der Hand an Steine. Nanu? Felsen hier im Wald? Ich bog die Zweige zur Seite und schaute erstaunt auf eine Mauer, die über und über mit Waldrebe und Efeu bewachsen war. Die Höhe der Mauer war von meinem Standort nicht auszumachen. Ich bewegte mich immer an der Mauer entlang und erkannte dabei eine deutliche Krümmung - als sich plötzlich das Buschwerk lichtete und über mir ein Turm aufragte, bedrohlich hoch. Erschrocken hielt ich den Atem an und trat einige Schritte zurück. Mit etwas Abstand war der Turm nicht mehr so mächtig, seine Zinnen erreichten noch nicht einmal die Spitzen der Baumkronen. Auch wirkte der Turm nicht mehr furchterregend, sondern sicher und beschützend. Etwa drei Armlänge über mir befand sich eine Luke in der Mauer. Es gelang mir, an starken Efeuranken hinaufzuklettern und einen Blick ins Innere zu werfen.
Vor mir befand sich ein Zimmer, an dessen hinterer Wand eine geschwungene Steintreppe in die anderen Stockwerke führten. Fußboden und Stufen sahen haltbar und fest aus, deshalb machte ich mich auf, den Turm zu erkunden. Insgesamt hatte der Turm drei Stockwerke, jedes zwölf Schritt im Durchmesser, von denen nur das mittlere über die Luke von außen erreichbar war. Vom oberen Stockwerk aus führte wiederum eine Treppe auf das Dach des Turms, dessen Plattform von einem Kranz aus hohen wehrhaften Zinnen umgeben war, welche sich auf gleicher Höhe mit den Nestern der Vögel in den Baumkronen befanden.

Ich beschloss, den versteckten Turm zu meiner Zuflucht werden zu lassen. Mit dem nützlichen Werkzeug, das mein Kräuterweiblein mir hinterlassen hatte, klopfte ich einzelne Steine für Licht- und Luftlöcher aus der Wand, schaufelte Mäuse- und Vogeldreck aus den Räumen, kehrte Spinnweben von den Wänden, zimmerte Regale und Bänke und stellte Fackeln her. Aus den herausgeschlagenen Steinen fertigte ich Feuerstellen. Auch eine Leiter für den Eingang, die man notfalls hinaufziehen konnte, musste her. Zum Schluss kam das Schwerste: Ich füllte meine Eimer mit modrig lockerer Walderde und zog sie, einen nach dem anderen, am Seil hinauf bis zu den Zinnen, denn ich hatte mir vorgenommen, hier oben, versteckt durch die Baumkronen und doch sonnig, einen Garten anzulegen. Bis zum Rand der Zinnen füllte ich das Dach des Turms mit Erde auf, flocht darum einen Zaun und steckte meine gesammelten Sämereien und Knollen in den weichen Boden.

Ein ganzes Jahr brachte ich damit zu, den Turm herzurichten. Mittlerweile war mein kleiner Garten auf dem Dach zu einer üppig blühenden Insel inmitten des Blättergrüns geworden. Nachdem ich den Hausstand der Alten in meinen Turm umgeräumt hatte, stand ich lange still inmitten der schillernden Blumen und prächtigen Gemüse. Alles war bereit. Und so machte ich mich auf den Weg in die Stadt.
Bei Nacht kam ich vor dem großen eisernen Gartentor an. Ich wand mich nach links und schlich die hohe Gartenmauer entlang, auf der Suche nach einem Durchschlupf. Das Glück war mir hold, denn ich fand eine Stelle, an der die Mauerkrone eingestürzt war, so dass ich ohne große Mühe darüber klettern konnte. Auf der anderen Seite fand ich mich in der Nähe der alten Buche wieder. Als ich in das schattige Versteck kroch, schlugen mir die tiefhängenden Zweige des Baumes wie Erinnerungen ins Gesicht, und ich dachte an die Abende im Garten, die die Geschichte meiner Tochter beginnen ließen. So wartete ich auf den Tag.

In den frühen Morgenstunden begann das Tagwerk der Gärtner, was ich selbst so gut kannte. Ungeduldig beobachtete ich sie, während ich auf einen ganz anderen Gartenbesucher wartete.
Als die Sonne den Zenit schon überschritten hatte, trat endlich meine Tochter aus dem großen prächtigen Haus. Wie staunte ich über ihren Anblick! Mein Kind war zu einer jungen Frau geworden! Groß und schlank gewachsen erinnerte sie mich an mich selbst in meiner Jugend. Ihr Haar, so weich und silberhell wie die Blüten der Waldrebe im Herbst, hing ihr wie deren Ranken bis auf die Knöchel hinab. In diesem Moment wurde mir schmerzlich bewusst, dass ich bei der Geburt meiner Tochter keinen Namen geben konnte – ja, dass sie nichts von meinem Dasein ahnte. Ich saß still in meinem Winkel, während mir Tränen über das Gesicht liefen, und freute mich unbändig über ihre Schönheit.
Hinter meiner Tochter schritt die Hausherrin, mit strengem Ausdruck und geradem Rücken. Beim Anblick der kaltherzigen Dame in ihren schillernden Gewändern fröstelte mich. Meiner Tochter jedoch schien die Kälte der Frau nichts anzuhaben; sie lächelte voller Freude über den schönen Tag, streichelte Rosenblätter und Kastanienrinde. Sie nahmen auf einer Bank ganz in der Nähe meines Verstecks Platz und die vornehme Dame begann, aus einem Buch mit einem Rosengeflecht auf dem Einband vorzulesen, an welches ich mich noch gut erinnern konnte. Meine Tochter schien nur zerstreut zuzuhören. Mit abwesendem Gesichtsausdruck spielte sie in ihrem langen Haar und antwortete nicht, als sie etwas gefragt wurde. Verärgert über ihre Unaufmerksamkeit erhob sich die reiche Dame und ließ das Mädchen auf der Bank zurück.

Ich wartete einige Minuten lang, dann beschloss ich, mich meiner Tochter zu nähern. Ich wagte es, sie leise zu rufen und schob die Zweige der Buche etwas auseinander, damit sie mich sehen konnte. Sie blickte in meine Richtung, verwundert darüber, dass sich offenbar jemand unter dem Baum verbarg, und kam dann neugierig näher. „Es ist nicht erlaubt, den Garten zu betreten, wenn man nicht zum Haus gehört“, sagte sie schließlich und betrachtete mich nachdenklich, „aber mir ist, als ob ich dich schon einmal gesehen habe. Hast du früher hier gearbeitet?“ Ich lachte bitter auf, mit enger Kehle, denn wie sollte ich ihr erklären, dass ich tatsächlich einmal zum Haus gehörte, dass sie mich jedoch noch nie gesehen haben konnte – dass es aber trotzdem ganz natürlich war, wenn sie mich zu kennen glaubte, weil sie gerade in ihr eigenes Gesicht blickte?
„Ich bin deine Mutter“, flüsterte ich endlich. Meine Tochter schaute mir ernst in die Augen, hörte mir zu und lauschte lange dem Echo unserer Geschichte nach. „Bist du glücklich hier?“, fragte ich sie. Bedrückt schüttelte sie den Kopf. „Ich möchte durchs Gras tanzen, durch Bäche waten und die warme Erde streicheln.“, antwortete sie und sah traurig auf ihre seidenweißen Kleider und Schuhe. Ich nahm ihre Hand, dann stahlen wir uns vorsichtig unter dem Baum hervor und schlichen eilig zu dem eingefallenen Mauerstück.

Wir schafften es, ungesehen über die Mauer und durch die angrenzende Gasse zu kommen. Jedenfalls ertönte hinter uns kein Geschrei. Den ganzen Nachmittag wanderten wir, um die Stadt hinter uns zu lassen. Wir umgingen die Dörfer, liefen barfuß durch die Wiesen und genossen das Kratzen der Gräser auf unseren Beinen. Meine Tochter lachte silberhell, wie damals, als ich sie zum ersten Mal sah, und warf ihr langes Haar in den Wind, das es um ihren Kopf wehte wie Pappelsamen. „Rapunzel!“ rief sie, „Nenn mich Rapunzel, Mutter!“
In völliger Dunkelheit kamen wir am Turm an. Dort kletterte ich durch die Luke, entzündete Fackeln und führte meine Tochter auf das Dach. Beim Anblick meines Gartens, dessen Farben im Feuerschein leuchteten, glitt ein glückliches Lächeln über ihr Gesicht, das sich in meinem spiegelte.
Später, als sie schlief, sanft an Lilien und Mohn geschmiegt, hing ihr Haar über die Zinnen herab und verflocht sich sacht mit Efeu und Wein. Wir waren endlich zu Hause.


Anmerkung von Bellis:

Entstanden im Mai 2005.
Die andere Seite der Geschichte hat  Kersmi erzählt - unbedingt lesen!

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Kommentare zu diesem Text

Lyrine (43)
(09.02.07)
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 Bellis meinte dazu am 09.02.07:
Wow, das ist die phantasievollste und gründlichste Interpretation, die ich jemals zu einem meiner Texte gelesen habe! Was du alles aus dem Märchen herausliest, verblüfft mich sehr. Das habe ich alles ausgedrückt? Wollte ich zum Teil gar nicht bzw. es war mir nicht bewußt. Daß der Mann hier nur auf seine biologische Rolle reduziert wird, entstand irgendwie ganz von selbst beim Schreiben - Freud hätte seine Freude. ;o) Aber am meisten gefällt mir (neben den vielen Rollen der Frauen in der Geschichte, die du entdeckt hast), wie du die zukünftige Entwicklung der Tochter einschätzt. Das ist klasse und schreit nach Fortsetzung. Kein klassisches Märchen-Happy-End also. Vielen vielen Dank an dich!!
Muninn (35)
(10.02.07)
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 Bellis antwortete darauf am 12.02.07:
Vielen herzlichen Dank auch an dich! Verwurzelung in sich selbst... auch eine interessante Lesart. Gefällt mir!
kersmi (38)
(07.03.07)
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 Bellis schrieb daraufhin am 08.03.07:
Liebe kersmi, das freut mich ja besonders, daß Dir meine Geschichte gefallen hat! Rapunzel hat Dich überrascht? ;o) Nun ja, mich hat an dem Märchen immer gestört, daß man nie erfahren hat, was denn aus den leiblichen Eltern von Rapunzel wurde, wieso die nicht versucht haben, ihre Tochter zurückzuholen. (Eine der vielen kleinen Grausamkeiten in den deutschen Märchen.) Also habe ich versucht, die Story aus Sicht der Mutter zu betrachten - und das ist daraus geworden. ;o) Auf die Idee, daß die Mutter ihre Tochter so richtig im Turm einsperren könnte und erst hier das eigentliche, klassische Märchen beginnen würde, kam ich noch gar nicht. Überhaupt habe ich mir bis jetzt noch keine ernsthaften Gedanken um die Fortsetzung gemacht. Vielleicht lasse ich auch jeden Leser für sich selbst weiterspinnen? Danke Dir für Favoritenkür und Empfehlung!!! LG, Bellis.
Balu (57) äußerte darauf am 02.05.07:
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 Bellis ergänzte dazu am 03.05.07:
Hui, danke Dir, Knut. Hans im Glück? Das bringt mich gleich auf ´ne ganz andere Geschichtenidee...

 mondenkind (29.03.07)
ein wunderwunderschönes, sanftes märchen, liebe bellis.
zu inhalt und interpretation wurde schon soviel gutes und meinem empfinden entsprechendes gesagt, dass ich mich auf ein nachsinnendes lächeln und einen doppelten klick beschränke. danke!! lg, nici :)

 Bellis meinte dazu am 29.03.07:
Ich dachte mir, daß es Dir gefällt. ;o) Freue mich sehr über den Doppelklick!

 Dieter Wal (29.05.15)
Ihr seid sicher angekommen. :)
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