Paul

Kurzprosa zum Thema Leben/Tod

von  souldeep

Illustration zum Text
Abgrund
(von souldeep)
Vl

Sagen nicht alle, dass ein Mensch sich nie verändern könne?
Dass einer, der schlecht ist, schlecht bleibt und umgekehrt?

In Angelinas Leben hatte ein regelrechter Umbruch stattgefunden.
Zwar litt sie noch oft unter dem Verlust von Maurice, als Person
und als Ziel ihrer Liebe, als einziger, der manche Heimlichkeit
mit ihr geteilt hatte.
Doch war ihr Tag mit diesen Strukturen sehr gefüllt und es gab
wenigstens ein paar Menschen um sie, die sie forderten,
in der Gegenwart zu bleiben und ihren Aufgaben
–mindestens funktionell- nachzukommen.

Lavinia war ihr Vorbild, was sie nie zugegeben hätte.
Die Frau hatte Stil und zwar nicht so bürgerlich, wie die meisten
Frauen in ihrem Alter. Mitte dreissig, gute Figur, gepflegt
und nicht übertrieben geschminkt, eine lockere Art im Umgang –
jedoch mit ganz klaren Grenzen und Umgangsformen.
Am allermeisten mochte Angelina ihre Ausstrahlung,
die einen einfach einnahm, mit einer Helligkeit und Kraft,
die das Mädchen tief berührte. Viele Stunden verbrachten
die beiden im Gespräch, manchmal während sie Hausarbeiten
erledigten, andere Male im Gehen durch die Wälder.
Ausser Maurice hatte nie jemand so viele Bruchstücke
aus diesem jungen Leben erfahren, wie nun Lavinia.

Im ersten Jahr Jugendheim hatte Angelina einen Rückfall.
Es war während der Ferien – Lavinia und jene Jugendlichen,
die für ihren Geschmack noch verträglich waren, verbrachten
diese Zeit an ihren Urlaubsplätzen.
In der Woche zuvor hatte einer ihrer Mitbewohner sich das Leben genommen,
was dem Mädchen äusserst nahe ging. Keiner hatte ihn
verstanden, er war ein merkwürdiger Kauz, ein wortkarger
Einzelgänger. Beide seiner Eltern waren auch durch Suizid gestorben,
seine Geschichte eine einzige Tragödie. Am Abend kehrte er nicht
zurück von seinem Lehrplatz – und als die Polizei die Suche endlich
aufnahm, wuchs in Angelina die Gewissheit, dass Paul sich etwas
angetan hatte. Niemand nahm sie ernst. Sie durchsuchten
Pauls Zimmer mehrmals – bis Angelina einen Strick sah und blitzartig
das Bild vor Augen, wie Paul sich erhängt hatte. Dann erst sah
sie den Abschiedsbrief. Wild klopfte ihr Herz, als sie ihn dem
Heimleiter brachte.
Eine ganze Nacht wusste keiner, wo Paul steckte.
Am Morgen kam dann der Anruf, dass er tot sei.
Erst viel später erfuhr Angelina, dass Paul von einer
Morgenspaziergängerin im Wald gefunden worden sei.
An einem Baum erhängt. Der Grund, warum man diese Nachricht
nicht sofort im Heim meldete war, dass Pauls Leiche nicht
eindeutig auf Selbstmord hingedeutet hatte…
Also wurden die Jugendlichen zu ihren Alibis befragt .
Das war zuviel für Angelina.
Sie riss aus.

Wild wurde sie umher getrieben von ihren Phantasiebildern,
die sie doch nicht als ihre eigenen betrachten konnte,
da es ja geschehen war: Paul hatte an jenem Ast im kalten
Wald gehangen, gefesselt und geknebelt! Was in aller Welt
geschah mit ihr? Warum wendete er sich mit seiner unruhigen
Seele an sie? – War sie die Einzige gewesen, die sich ab und zu
mit ihm in eines dieser merkwürdigen Gespräche eingelassen hatte? –
Sie erinnerte sich genau, wie der bereits 19jährige ein heisser
Fan von Happy Feet, dem computeranimierten Trickfilm war.
Sogar Posters hingen über seinem Bett. Er hörte sich die Filmmusik
an und hatte die DVD beharrlich erneut  angeschaut.
Wie ein Zwölfjähriger…

Die Gassen, in welchen Angelina einmal zu Hause gewesen waren,
bargen ihre Verlorenheit nicht mehr.
Sie erkannte die schmutzigen Winkel, die zwielichtigen
Plätze wieder – jedoch zogen sie sie nicht mehr magisch
an. Die verlassen wirkenden Häusermauern boten sich höchstens
als Filmleinwand für ihre irren Bilder an. Sie hatte das Gefühl,
verfolgt und gehetzt zu werden von Paul, von ihren früheren
Peinigern und zuletzt von schrecklichen Visionen über Maurice.
Was ihm alles zugestossen sein könnte…

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Kommentare zu diesem Text

Balu (57)
(24.06.07)
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 souldeep meinte dazu am 24.06.07:
du lebst es so schön mit, lieber balu.
ja, es wird immer wieder eng. - und doch, es ist eine stelle im
leben, wo bewusstsein auch neu die verantwortung des einzelnen
in ihrer ganzen tragweite erschliessen will...immer wieder. und
hier vielleicht zum glück.
aber ich verrate nichts.
um deinen gesamtblick bin ich froh - ist das auftauchen doch
eher schwierig aus solch dichtem schreiben...

dankbare grüsse
kirsten
zackenbarsch† (74)
(28.06.07)
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 souldeep antwortete darauf am 28.06.07:
oje, lieber Friedhelm, das hört sich nach verausgabung an...

dann wünsche ich dir gute besserung - vielleicht wird das
hier auch eine heilungsgeschichte?

:)
viele liebe nachtwünsche
kirsten
oh, und ich danke dir fürs begleiten und bekunden.

 rela (07.07.07)
In dieser Folge zeichnet sich deutlich ab, daß Angelina durch die fürsorgliche mütterliche Freundin Zugang in geordnete Bahnen findet. Der Vorfall mit Paul erschreckt sie und treibt sie, die noch nicht stabil genug ist, wieder in das alte Gassenleben zurück. Doch sie fühlt schon die Entfremdung von diesen schmutzigen Orten die ihr auch keinen Halt mehr bieten. Arme hin- und her gezerrte Seele, Wird sie ihren Weg finden?. Es bleibt weiter spannend. Liebe Grüße. Rela

 souldeep schrieb daraufhin am 07.07.07:
du liebe,
ich freue mich, dass du nochmal bei angelina weilst...ich kann sie
auch nicht einfach so ablegen...
ja, du hast es wieder gelesen, wie ich es gemeint habe und ich
sende dir liebe warme grüsse in deinen neuen tag,
kirsten
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