Die Flusskinder (Teil 3)

Parabel zum Thema Streit

von  tulpenrot

Tremge wurde von Tag zu Tag blasser und dünner. Wir trauten uns gar nicht zu fragen, was mit ihm los war. Er hatte ganz dunkle traurige Augen und sprach kaum noch ein Wort. Und auch Hanko wurde immer stiller, Jalte aber stand abends oft am Ufer des Flusses und summte ein Lied, das er einmal gehört hatte.
… Hineimatov uma naim ...
Es klang wehmütig und mir kamen die Tränen, als ich es zum ersten Mal hörte.
Eines Abends kam leise der Doktor dazu und summte die Melodie mit. Und noch einen Abend später gesellte sich der Feuerwehrmann dazu und zuletzt der Schneider. Alle vier standen am zweiten Abend da und sangen.
… Hineimatov uma naim ...

Am dritten Abend aber hörten sie leise Flötenmusik vom anderen Ufer herüber.
Ich dachte mir gleich: Das konnte nur Linte sein. Am vierten Abend sah man, wie Mulle im Gras saß neben Linte und eine Trommel schlug. Das machte den Lehrer neugierig. Er schaute aus dem Fenster und, nachdem er eine Weile zugehört hatte, kam er mit seinem Akkordeon dazu. Ich konnte mich erinnern, wie er oft damit in der Schule gespielt hatte. Aber das war ja nun schon lange her.

Und so ging es Abend für Abend. Eines Abends stand auch Hanko unter den Sängern bei uns. Er kletterte in den Baum und spielte auf seiner Geige eine wundersame Melodie.  Vom anderen Ufer her antwortete Olme auf seiner Mundharmonika mit einer ebenso wundersamen Melodie.

Das ging so, bis es Herbst wurde und kühl, und der Feuerwehrmann war der erste, der auf unserem Ufer ein Feuer anzündete, damit wir nicht froren. Und drüben war es der Bäcker, der einen Ofen brachte und darin Stockbrot für die Kinder buk. Das duftete bis zu uns herüber und wir wurden ganz hungrig. Als der Bauer drüben noch mit warmer Milch und Honig für die Kinder kam, wurden wir ganz neidisch.

Nur Tremge war nicht zu sehen. Und viele Leute aus dem Dorf hüben und drüben waren auch nicht zu sehen, sondern sie tuschelten und fragten sich, was das alles zu bedeuten hatte.

Eines Nachts aber ging im Hause des Doktors das Licht nicht mehr aus. In derselben Nacht blieb Tremges Bett leer. Gegen Morgen hörte man ein leises Plätschern im Fluss, aber niemand achtete darauf. Niemand aber wusste, wo Tremge war an diesem ganzen langen Tag. Und niemand wusste, wo der Doktor war an diesem Tag. So sehr wir sie suchten, wir konnten sie beide nicht finden.

Am Abend dieses traurigen Tages gingen wir alle ans Ufer des Flusses. Wir wollten uns an dem Feuer wärmen und zusammen singen. Vielleicht half das ja gegen das Traurigsein.
Und so sangen wir erst leise und dann immer lauter.
....Hinneih matov uma naim ...
Auf der anderen Seite kamen sie auch und spielten ihre Musik und tranken warme Milch und aßen warmes Brot. Und wieder plätscherte es leise im Fluss und nun sahen wir auf einmal, dass ein Boot herangerudert kam. Wir staunten nicht schlecht,
als der Doktor ans Ufer sprang und nach ihm Tremge und dann kam auch noch der Lehrer aus dem Boot. Tremge hatte ganz rote Wangen vor Aufregung. Der Lehrer hatte sein Akkordeon mitgebracht und spielte so lustig, dass wir alle zu tanzen begannen.

Und so merkten wir nicht, wie jemand leise das Boot wieder vom Ufer löste und hinüberruderte. Es waren der Feuerwehrmann und Hanko und Jalte, denn sie hatten gesehen, wie drüben der Ofen des Bäckers viel zu heiß glühte, und sie schnell mithelfen mussten, das Feuer mit Flusswasser zu löschen. Und wieder plätscherte das Wasser und diesmal kamen Mulle und Olme und Linte mit dem Bauern, weil sie mit uns tanzen wollten.

Und so ging es den ganzen Abend, das Boot ruderte dauernd hin und her. Und so ging es in den nächsten Tagen. Das Boot ruderte hin und her.

Aber besonders eifrig waren Tremge und der Doktor. Sie ruderten jeden Tag hinüber zum Lehrer. Und der Lehrer ruderte oft zu uns herüber und verschwand im Doktorhaus. Es war sehr geheimnisvoll. Doch eines Tages hing am Ufer da, wo früher mal die Brücke stand, ein großer Plan. Darauf war eine wunderschöne neue Brücke gemalt aus Steinen, wie man sie sich nicht besser und bequemer vorstellen konnte. Und dieselbe Zeichnung hing drüben auf der anderen Seite des Flusses. Tremge und der Doktor und der Lehrer standen dabei und erklärten:
Wir wollen, dass wieder eine neue Brücke gebaut wird. Wer mitmachen will, kommt morgen früh hierher und bringt einen Stein mit.

Jeder wollte dabei sein. Jeder brachte einen Stein mit. Die Leute drüben bauten und wir bauten an der Brücke. Sie wurde immer länger und fester und eines Tages stand sie fertig da. Jeder Abend aber endete mit den Liedern und der Musik am Fluss.

Da trafen sich nun alle Leute auf der Brücke, lachten und tanzten und der Schneider hatte viel zu tun, weil alle Leute plötzlich neue Kleider von ihm wollten, damit sie beim Tanzen schön aussahen. Und der Bauer hatte alle Hände voll zu tun und auch der Bäcker. Und der Lehrer wurde tausend Dinge gefragt, die die Kinder nicht wussten. Und jeder wollte mit dem Feuerwehrauto fahren.

Das Schönste aber war, als der Doktor eines Mittags, als er gerade ganz müde vom Brückenbauen da saß und zum Himmel schaute, einen Regenbogen sah. Aber nicht nur er, alle sahen ihn: die Mütter in den Küchen, der Bauer im Stall, der Metzger in der Räucherkammer, der Feuerwehrmann in seinem Auto, und selbst der Lehrer staunte und schaute schnell in dem einzigen Buch nach, das ihm geblieben war. Da stand wirklich etwas vom Regenbogen und er las es allen laut vor, den Leuten hüben und den Leuten drüben:

Gott hat vor langer Zeit einen Bund mit den Menschen gemacht. Er will nicht aufhören, ihnen gut zu sein. Er will ihnen Regen schicken zu seiner Zeit und Sonne zur rechten Zeit. Es soll immer wieder Tag werden nach der Nacht und die Nacht soll kommen nach jedem Tag, damit sich Menschen und Tiere ausruhen können.
Später hat Gott seinen Sohn Jesus auf die Erde kommen lassen. Er ist wie der Regenbogen und er ist wie eine steinerne Brücke. Jesus verbindet uns Menschen mit Gott und untereinander. Er bringt den Frieden.


Heute haben wir beides gesehen und können uns freuen.
Da stimmten alle ein und sangen sich gegenseitig einen fröhlichen Segen zu:
Der Herr segne dich und behüte dich. Der Herr lasse leuchten sein Angesicht über dir, über dir, über dir und sei dir gnädig. Der Herr erhebe sein angesicht auf dich und gebe dir Frieden.

Seitdem haben wir wieder unsere zwei Brücken und können gut damit leben. Warum das so war? Vielleicht hing das mit der Nacht zusammen, die Tremge beim Doktor zubrachte und mit der ersten Fahrt, die Tremge mit dem Doktor zum Lehrer machte über den Fluss. Genaues hab ich nie erfahren, aber möglich wäre es.


Anmerkung von tulpenrot:

ausgearbeitet als Text für einen Familiengottesdienst

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Kommentare zu diesem Text


 GillSans (16.10.07)
Liebe Angelika,
ich fand Deine Geschichte ganz wunderbar erzählt. Sie gefällt mir sehr. Liebe Grüße, Gill

 tulpenrot meinte dazu am 16.10.07:
Dein Urteil, liebe Gill, war mir sehr wichtig! Danke dir für das Lob und die Sternchen!
LG
Angelika
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