Epilog

Bericht zum Thema Reisen

von  RainerMScholz

Was sollten wir schon vergessen haben. Die Rucksäcke sind im Schließfach und wir auf dem Weg zum Palacio de Bellas Artes. Wir haben sogar nachgesehen, ob es den Air France-Schalter wirklich gibt. Alles wo es hingehört.
Vor dem blendenweißen klassizistischen Gebäude, dass zugleich als Opernhaus und Kunstmuseum genutzt wird, findet Jahrmarkt im Park statt. Da hier die gesamte Gemeinde versammelt zu sein scheint, beschließen wir, erst dieses illustre Treiben zu besuchen, bevor wir uns den Künsten hingeben. Ein buntes Volk hat sich hier versammelt, zwischen den Fressständen, den Klamottenbuden und verschiedenartigen Darbietungen. Che Guevara zwischen folkloristischen Tanzeinlagen; Jugendbanden und berittene Polzei; ruralistische Mestizen und Schickeria. Ein burleskes Gemälde aus einer anderen Zeit, als alles noch in Ordnung zu sein schien und die Menschen untereinander wandelten, ohne sich im selben Moment an die Kehle zu gehen. Vielleicht trügt der Schein. Der Europäer als solcher ist misstrauisch.
Leider kann ich an den Bücherständen nichts mir genehmes finden für den langen Heimflug, aber Hitlerbiographien gibt es en masse und in jeder Sprache. Eine seltsame und verwirrende Affinität zum Dritten Reich, die wir uns nicht ganz erklären können. Die vielleicht auch nur uns ins Auge fällt.
Wieviel Uhr ist es? Also gehen wir ins Museum, Kunst und so.
Beeindruckende riesige Wandgemälde flankieren die drei Etagenebenen. Bombastische farbexploitierende Werke von Künstlern wie Rivera und Orozco, die die Identität und politische Entwicklung Mexikos zum Thema haben. Riveras Gemälde "Der Mensch, Überwacher des Universums" wird
von staunenden und interessierten Betrachtergruppen belagert, das heißt, die Menschen, die einem erklärenden Vortrag lauschen, scheinen sich dem Bild einzuverleiben, ob dessen gigantischen Ausmaßen. Für einen Banausen und Barbaren wie mich, bietet sich ein unvergesslicher Eindruck und -
wo ist eigentlich meine Frau schon wieder?
Diego Riveras Wandkoloss, der eigentlich eine Auftragsarbeit für das Rockefeller-Zentrum in New York gewesen war, wurde von den Amerikanern umgehend von der Wand gekratzt und vernichtet, als sie herausfanden, dass es  "kommunistische Tendenzen" aufwies. Ich weiß nicht, was die da erwartet haben. Er hat es hier neu erschaffen. Mexikaner sind geduldigere Kunstkritiker.

Abschied. Noch ein letzter Blick? Nein, so weit reicht auch das innere Objektiv nicht.
Dann ist es soweit. Die Geschichte unseres Rückflugs.
"Wo sind denn die Tickets?"
"Hab' ich in der Tasche?"
"Zeig´ mal."
-
"Ich kann gar keine Uhrzeit finden."
"Gib' her, Rainer, lass mich 'mal sehen."
Und dann wird sie weiß wie die Wand, verdreht die Augen und ruft meinen Namen mit diesem ganz speziellen Tonfall, halb klagend, halb ohnmachtsnahe. Nein, das beschreibt es nicht zur Hälfte.
"Was ist denn?"
"Rainer, das war gestern!"
"Quatsch!"
"Das war gestern. Unser Flugzeug ging gestern."
"Wie? Heute ist doch der 25.."
"Ja, aber wir fliegen am 24., steht hier. Das war gestern."
"Aber heute ist doch Sonntag."
"Wie soll denn das gehen! Wir fliegen um neun hier los und sind um zehn da?"
Das ist wie ein Schlag mit dem Vorschlaghammer. Wir haben unseren Flug um einen Tag versäumt. Wir waren schon drei Tage in der Stadt und haben unseren Flug verpasst. Gestern waren wir auf diesem Konzert und da gab es wohl gerade eine Flughafendurchsage wegen uns. Die Idioten Mandel und Scholz sofort zu ihrem Flugzeug!
"Du hast doch gesagt, das wir heute fliegen!"
"Aber Du hattest doch die Tickets!"
"Du bist Schuld, Du bist Schuld, Du hast gesagt..."
Jetzt flippt er aus, jetzt dreht er durch, explodiert, zerreißt sich in zwei Hälften und versinkt mit lautem Krachen im Boden wie Rumpelstilzchen. So etwas haben sie noch nicht erlebt.
Also schön, hoch mit dem Rucksack und dann gehen wir zum Schalter und sehen, was zu machen ist.
"Und Du gehst fragen, Du hast's versaut. Ich passe auf's Gepäck auf."
Schließlich hab' ich mich dann auch wieder eingekriegt. Die erste Reaktion ist immer die gleiche.
Wir haben uns schön brav in die Schlange eingereiht und gewartet, bis wir an der Reihe waren, damit sie uns am Schalter töten konnten.
Wieviel? Erste Klasse oder was?! Nein, die wollen neunhundert Dollar, amerikanische. Dabei habe ich erst neunzig verstanden und habe mir schon den Geldgürtel von der Hose gebunden, vor versammelter Mannschaft. Die dachten womöglich - nein, das dachten sie nicht. Conny muss die Pesos umtauschen. Tatsächlich besitzen wir noch soviel und waren auch ganz stolz darauf, noch soviel zu besitzen.
Ich stehe mit dem Gepäck vor dem Schalter. Conny sucht eine Wechselstube, die um diese Uhrzeit sonntags offen haben könnte. Rings um mich checken die ehrbaren Leute ein. Zwei vergammelte Rucksäcke, auf denen ich zerstört und schweißgebadet in mich zusammengesunken bin. Wo sind sie eigentlich gewesen gestern? Tja, nun, der Bus ist ausgefallen und es gab ein Unwetter, der Strom war weg und das Telefon läutete unablässig und ... Sie kommt nicht. Ich habe den Hosengürtel in der Hand und meine Frau ist weg. Sie findet den Schalter nicht. Sie hat sich verlaufen. Je öfter ich in die Richtung starre, in der Conny verschwunden ist, um so weniger taucht sie auf. Um mich her checken Flugpassagiere ein, ganze Golfklubs, penetrante Etepetetefranzosen, denen es zu langsam geht. Die sollten an meiner Stelle sein!
Da ist sie! Ich fange gleich zu heulen an. Es gibt einen Platz für uns. Wir werden nicht krepieren müssen. Es geht immer weiter. Es gibt einen Platz für uns. Vor ein paar Stunden noch haben wir bedauert, überhaupt von hier wegzugehen.
Die Aufregung hat uns fertiggemacht. Wo ist unser Gate? Komm', wir schauen nach, nur zur Sicherheit. Aber wir können nicht einmal dieses verfluchte Abflugsgate finden. Ich arbeite als Aushilfsgepäckabfertiger an einem Flughafen, da sollte man doch meinen... Nachdem wir etliche Male im Kreis gelaufen sind wie kopflose Hühner und einige Treppenaufgänge unbefugt benutzt haben, sind wir uns schließlich einig geworden, wo es sich befinden könnte.
Ich will ein Glas Wein. Zum Abschied, auf den Schrecken, für mich, für Mexiko. Es lag an diesem Land. In der ersten Bar bedient uns keiner. Ich bekomme armesdicke Adern an den Hals und wir gehen. Uns tun die Füße weh. Ab in die Fun Bar. Dieser Rote war gleich weg. Noch einen, weil es jetzt auch schon egal ist. Conny, hast du so etwas schon einmal erlebt. Das ist der Fluch Mexikos, und es ist der Traum. Wir müssen lachen und weinen. Sollten wir etwas vergessen haben? Oder ist es
gleichgültig, was es auch gewesen sein mag.
                                                               
Die Geschichte mit der französischen Telefonkarte am Flughafen Charles de Gaulle werde ich ein anderes Mal erzählen.
                                                                           
Wir haben ein Stück Seele in Mexiko zurückgelassen, etwas ist dort geblieben, das wir nicht vergessen werden. Das immer uns gehören wird. Mein Herz blutet und der Atem stockt. Wir sind als reiche Menschen heimgekehrt und nicht mehr länger zuhause.
Ich umarme meine Frau.                                                                               

© Rainer M. Scholz, 1998; 2007

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