Teil 2
 Inhalt 
Teil 4 

Teil 3

Roman

von  NormanM.

Ich war schlecht gelaunt am nächsten Morgen. Irgendwie fühlte ich eine Wut, und zwar, weil manche Leute ständig etwas wollten. Ausgelöst war diese Wut durch meine Vermutung, wer mich am vorherigen Abend noch angerufen hatte. Im Laufe des Vormittags bestätigte sich auch dieser Verdacht, als mich Sebastian über Handy anrief.
„Äh, könntest du mir einen Gefallen tun?“, fragte er. Ich wusste doch, dass wieder so etwas kam, wenn er gestern schon 20 Mal durchklingeln lassen hatte und jetzt nichts Besseres zu tun hatte, als mich anzurufen, während ich auf der Arbeit war. Ich hätte mein Handy besser auslassen sollen, aber so hatte ich es wenigstens hinter mir.
„Nein, kann ich nicht“, antwortete ich kurz und knapp.
„Häh, was ist denn mit dir los?“, fragte er.
„Du hast gefragt, ob ich dir einen Gefallen tun kann, und ich habe gesagt, dass ich es nicht kann“, gab ich zur Antwort. Ich könne ja wohl etwas freundlicher sein, außerdem wisse ich ja gar nicht, worum es gehe, meinte er darauf. Warum ich ihm immer einen Gefallen tun müsse, warum er nicht jemand anders fragen könne, fragte ich dann. Ich solle entschuldigen, dass er gefragt habe, meinte er darauf beleidigt. Schon gut, antwortete ich darauf und sagte, dass ich weiter arbeiten müsse.
Klar hätte ich auch freundlicher sein können, ich hatte auch ein schlechtes Gewissen, aber ich war einfach gereizt und hatte keinen Nerv, ihm wieder einen Gefallen zu tun, da es mir ja selbst nicht besonders gut ging, ich brauchte einfach meine Ruhe, und davon abgesehen, kam er ja ständig an, und jedes Mal hatte ich ihm auch den Gefallen getan, erst bevor ich nach Berlin fuhr, musste er sich wieder dringend etwas von mir ausleihen, und ich hatte es ihm auch ausgeliehen. Er war ja kein übler Mensch, er kam ja auch nicht immer nur an, wenn er was wollte, er meldete sich auch so ständig, aber wenn man ihn zu oft am Hals hatte, war er nervig. Und wenn er irgendetwas brauchte, dann musste immer alles sofort sein, ob man selber gerade vielleicht zu tun hatte, interessierte ihn nicht. Das ging mir jedes Mal tierisch auf die Nerven.
Aber jetzt war er erst einmal eingeschnappt, so dass ich erst einmal für ein paar Tage Ruhe von ihm haben würde, hoffte ich zumindest. Ich wollte ihm schon so oft meine Meinung sagen, aber hatte es dann doch nie getan, erst jetzt, als ich mich wieder in so einer Depri-Phase befand, hatte ich es getan. Wenn diese Phase in dem Fall vielleicht auch etwas Gutes an sich hatte, hoffte ich trotzdem, dass sie bald wieder vorbei sein würde.
Mir fiel ein, dass ich auch mal wieder etwas für mein Studium tun musste, und dazu brauchte ich einen klaren Kopf. Aber in ein paar Tagen würde sich gewiss alles wieder normalisieren, wenn ich mich wieder an den Alltag gewöhnt hatte, den ich auf meiner Berlinreise ein wenig vergessen konnte. Ich überlegte, ob ich wieder dorthin reisen sollte, nächste Woche hatte ich ja Urlaub, und die Stadt hatte mir wirklich gefallen. Aber vielleicht sollte ich auch mal ganz woanders hinfahren, ich war ja noch nicht groß herum gekommen, ich wollte auch schon immer mal nach London. Es gab so viele Orte, die ich mir noch ansehen wollte. Und es würde mir gut tun, woanders zu sein, allerdings bestand dann wieder die Gefahr, dass, wenn ich wieder zurück sein würde, alles wieder schlimmer werden würde. Das Beste für mich wäre wohl meine Umgebung dauerhaft zu verlassen. Am liebsten wäre ich nach Köln gezogen, schon seit Jahren war ich fasziniert von dieser Stadt, seit ich das erste Mal dort gewesen war, war es mein Wunsch, dort irgendwann zu leben, und ich fuhr dort ständig hin. Ich überlegte ernsthaft, ob ich es versuchen sollte, mir dort einen Job suchen sollte, mich nach einer Wohnung umsehen sollte. Es wäre schon einmal ein Neuanfang, klar, es würde sich sonst nichts ändern, ich wäre genauso einsam, wie ich es jetzt auch war, aber wenn ich dort leben würde, würde es mir vielleicht schon einmal ein wenig besser gehen.
Eine Frau, die gerade einen Blazer anprobiert hatte, der auch ausgezeichnet an ihr saß, fragte mich, ob wir die Blazer nicht noch in anderen Größen hätten als die, die dort hingen. Einige nahmen den Satz: „Der Kunde ist König“ ziemlich genau, und sie schien wohl zu denjenigen zu gehören, schon alleine durch den Ton, in dem sie mir die Frage stellte, so als wäre ich der letzte Arsch.
„Das sind leider die einzigen Größen, die Sie dort finden“, erwiderte ich.
„Ist ja echt toll, dass ich hier nichts in meiner Größe finde“, regte sie sich darauf auf, während sie Richtung Ausgang ging.
„Es tut mir wirklich leid, einige Artikel sind schon verkauft davon“, entschuldigte ich mich. „Aber der Blazer, den sie gerade anprobiert hatten, saß meiner Meinung nach genau richtig, ziehen Sie ihn doch einfach noch einmal an, dann gucken wir noch einmal gemeinsam“, bot ich ihr noch an.
„Nee, danke, darauf kann ich verzichten“, meinte sie nur und verließ das Geschäft.
Ich kam mir richtig blöd vor, aber was hätte ich machen sollen, als Verkäufer muss man schließlich immer freundlich bleiben, wie gesagt, der Kunde ist König, und so blieb mir leider nichts anderes übrig als alles, was sie sagte, zu schlucken. Ich hatte eine Wut auf sie, und gleichzeitig fühlte ich mich richtig niedergemacht von ihr. Ich war schon immer sehr sensibel, aber in den letzten Tagen war ich es besonders. Für wen hielt die sich eigentlich?
Sie war wirklich attraktiv, ich konnte nicht bestreiten, dass sie mir gefiel, sie hatte lange blonde Haare, blaugrüne Augen, war etwa 23, schlank, sehr groß, größer als ich, etwa 1,85, aber schon als sie hereinkam, konnte ich an ihrem Blick und ihrem Gang erkennen, dass sie sehr eingebildet war. Vermutlich war ich auch nicht ihr Typ, weshalb sie sich so verhalten hatte. Warum konnten wir den Blazer auch nicht in der Größe haben, die sie wollte, dann hätte sie ihn gekauft und ich wäre nicht wie ein Idiot für sie da gestanden. Letztendlich gab ich mir wieder die Schuld für alles.
Ich merkte, dass sie es mir irgendwie angetan hatte, aber ich konnte mir nicht erklären, warum, ich konnte arrogante Menschen überhaupt nicht ausstehen.
Soweit ich mich erinnern konnte, war sie erst die zweite, über die ich mir Gedanken machte. Die erste war Pia. Was war nur an dieser Unbekannten so besonders, wenn doch sonst auch ständig schöne Frauen in unseren Laden kamen, die viel sympathischer waren? Ich wusste, dass sie nicht noch einmal kommen würde, aber irgendwie wünschte ich es mir trotzdem, obwohl ich absolut keinen Bedarf daran hatte, mich noch einmal von ihr nieder machen zu lassen. Aber wie gesagt, sie hatte es mir irgendwie angetan. Glücklich war ich nicht darüber, wie sollte ich auch? Ich fühlte mich wie der letzte Arsch, und dieses Gefühl begleitete mich noch den Tag über.

Jedes Mal, wenn ich zum Grab meiner Mutter ging, fragte ich mich, ob ich dort meinem Vater vielleicht über den Weg laufen würde. Aber ich wusste nicht einmal, ob er überhaupt zum Friedhof ging.
Das Grab sah wie auch Pias Grab gepflegt aus. Meine Oma musste ein oder zwei Tage vorher dort gewesen sein, oder es war tatsächlich mein Vater, denn sonst hatte ich keine Verwandte mehr, abgesehen von denen, die in Berlin wohnten, und das waren keine direkten Verwandten, vielmehr eine Verwandtschaft um ein paar Ecken herum. Vielleicht kamen gelegentlich Bekannte meiner Mutter ans Grab, die dort auch mal Blumen hinstellten, aber die waren nicht für die Grabpflege verantwortlich. Ich ging davon aus, dass es meine Oma gewesen war, denn sie ging auch regelmäßig zum Grab, und selbst wenn mein Vater da gewesen sein sollte, was kümmerte es mich, ich hatte ja keinen Kontakt mehr zu ihm.
Ich beschloss meiner Oma zu sagen, dass sie sich nicht mehr immer um die Grabpflege kümmern müsse, ich wollte es ab jetzt regelmäßig tun, mit 71 war sie auch nicht mehr die Jüngste, wenn sie auch noch sehr fit war.
Meine Mutter wäre jetzt 47. 33 war sie, als sie starb. Viel zu jung.

Ich kam an dem Abend vor ihrem Tod zwei Stunden zu spät nach Hause. Sie schimpfte, als ich hereinkam, weil sie sich Sorgen gemacht hatte, dass mir etwas passiert sei. Ich wurde wütend und schrie zurück, dass sie mich nicht hätte so anschreien müssen. Eine Stunde später kam sie zu mir ins Zimmer, um sich zu entschuldigen und sagte, dass sie wirklich nicht gleich so hätte schreien müssen. Sie versuchte mir zu erklären, warum sie sich Sorgen gemacht hatte, aber ich war so stur und reagierte darauf gar nicht, ich drehte einfach den Kopf weg, ich war schon immer ein Sturkopf gewesen.
Am nächsten Tag wurde ich während des Unterrichts plötzlich zum Direktor gerufen. Ich wusste nicht, was los war und dachte, ich hätte irgendetwas angestellt. Er blickte sehr ernst und erzählte mir zögernd, dass mein Vater angerufen habe und etwas Schlimmes passiert sei, und dann hatte sagte er es mir. Ich sprang daraufhin auf und rannte schreiend aus der Schule.
Ein 18-jähriger, der gerade ein paar Tage seinen Führerschein hatte, hatte ihr die Vorfahrt genommen, sie hatte darauf eine Vollbremsung gemacht, dabei war ihr von hinten jemand drauf gefahren, wodurch sie auf die Gegenfahrplan geschleudert wurde, und da war sie von einem LKW erwischt worden, dessen Fahrer alkoholisiert und mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren war. Nur wegen zwei Verkehrssündern musste sie mit ihrem Leben bezahlen. Dem besoffenen LKW-Fahrer war natürlich nichts passiert bis auf ein paar Kratzern und dem Fahranfänger sowieso nichts.

Ich wollte gerade den Friedhof verlassen, da begegnete ich ihm, dem Mann aus dem Zug, der mich so angesehen hatte. Ich war sehr überrascht, vielleicht sogar ein wenig erschrocken, ihn wieder zu sehen. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass er auch in Dortmund ausgestiegen war und auch nicht damit gerechnet, ihm noch einmal zu begegnen. Er erkannte mich ebenfalls.
„Guten Tag, ich kenne Sie doch, Sie waren doch auch vorgestern im Zug“, sprach er zu mir.
„Ja, richtig, sie hatten sich kurz mit meiner Sitznachbarin unterhalten“, antwortete ich.
„Haben Sie es in der Zeitung gelesen?“, fragte er. „Von dem Selbstmörder auf dem Gleis“, fügte er hinzu.
„Ja, Sie hatten recht, es war wirklich Liebeskummer, wie Sie es gesagt hatten“, antwortete ich.
„Liebeskummer ist fast immer der Grund, warum sich viele Menschen das Leben nehmen“, meinte er. Eigentlich hätte mir vorher schon klar sein müssen, dass er nur vermutet hatte, dass Liebeskummer der Grund für den Selbstmord war, aber er kam mir im Zug so unheimlich vor, und so, wie er dort seine Vermutung ausgesprochen hatte, klang es so, als sei es Wahrsagerei. Ich fühlte mich irgendwie erleichtert, jetzt wo ich wusste, dass er sich nur an die Statistik gehalten hatte. Er kam mir auch plötzlich nicht mehr so unheimlich vor, aber dennoch immer noch ein wenig seltsam.
„Hatten sie schon einmal Liebeskummer, dass Sie darüber nachgedacht haben, sich das Leben zu nehmen?“, fragte er.
„Nein“, antwortete ich. Eine Lüge, als Pia tot war, hatte ich anfangs doch darüber nachgedacht, weil ich nicht wusste, wie ich damit fertig werden sollte. „Haben Sie?“, fragte ich. Kaum hatte ich diese Frage gestellt, kam ich mir sehr unverschämt vor, ich wollte mich gerade für die Frage entschuldigen, aber da antwortete er schon.
„Ja“, sagte er. „Zwei mal. Meine Verlobte ließ mich damals eine Woche vor unserer Hochzeit sitzen. Meine spätere Frau starb zwei Jahre nach unserer Hochzeit. Beide Male wollte ich mir das Leben nehmen.“
Ich wollte fragen, was ihn davon abgehalten hatte, aber ich ließ es bleiben, er hätte es falsch auffassen können.
„Das tut mir sehr leid“, sagte ich. „Woran starb Ihre Frau?“, fragte ich dann. „Sie starb bei der Geburt unserer Tochter“, sagte er leise. „Unsere Tochter hat überlebt, sie hat mich am Leben gehalten, ich wollte nicht, dass sie auch noch ihren Vater verliert.“
Damit hatte sich meine Frage zumindest schon mal zum Teil beantwortet, warum er sich nicht umgebracht hatte. Ich wusste nur noch nicht, was ihn das Mal davor vom Selbstmord abgehalten hatte, aber vielleicht hatte er seine Frau kurz danach kennen gelernt, nachdem er von seiner Verlobten verlassen worden war. Jedenfalls fand ich es bemerkenswert, dass er seine Tochter aufgezogen hatte, trotz des Todes von seiner Frau, da hätte mein Vater sich mal ein Beispiel dran nehmen können.
„Haben Sie danach noch einmal geheiratet?“, fragte ich.
„Nein, es ist jetzt über vierzig Jahre her, aber ich habe mir nie wieder eine Frau gesucht, ich hatte einfach Angst, wieder jemanden zu verlieren, vielleicht hatte ich auch einfach zu schnell aufgegeben, aber ich hab es nie bereut, ich habe meine Tochter, und ich bin glücklich, eine Enkelin habe ich auch, sie ist in deinem Alter.“ Mir fiel auf, dass er mich plötzlich duzte.
„Das ist schön zu hören, dass sie trotz allem Ihr Glück gefunden haben“, sagte ich und dachte daran, ob ich mein Glück auch irgendwann finden würde.
Ich wunderte mich schon, dass er mir, einer fremden Person, das alles erzählte.
„Ja, das ist es, auch wenn ich mir wünsche, dass meine Frau noch bei mir wäre, vergessen habe ich sie nie in den ganzen Jahren, ich besuche sie regelmäßig hier, sie ist hier beerdigt.“
„Meine Mutter ist hier auch beerdigt“, erwähnte ich.
„Ja, ich weiß, du bist Martin, nicht wahr?“, kam es plötzlich aus seinem Munde. Ich war verwirrt, obwohl ich schon im Zug das Gefühl hatte, ihn irgendwoher zu kennen, aber ich hätte nie damit gerechnet, dass er mich kennen würde.
„Ja, aber woher kennen Sie mich denn?“
„Du erinnerst dich anscheinend nicht mehr an mich, wie ich sehe“, antwortete er und klang ein wenig enttäuscht. „Ich war früher Hausmeister an der Schule, auf der du warst, Wächter ist mein Name“, fuhr er fort. Plötzlich erinnerte ich mich wieder. Ich hatte ihn seit fast 15 Jahren nicht mehr gesehen, er ging, als ich in der sechsten Klasse war, in Rente. Er kam uns Schülern schon damals manches Mal recht seltsam vor, es gab auch Gerüchte, dass er in eine Anstalt gehe und nicht in Rente.
„Ja, natürlich, jetzt erinnere ich mich. Es tut mir leid, dass ich sie nicht erkannt habe“, sagte ich zu ihm.
Er lachte. „Ja, es ist schon ein paar Tage her, damals war ich auch noch ein wenig jünger“, meinte er darauf.
„Aber ich bin überrascht, dass Sie mich so erkannt haben“, fand ich.
„Ich hatte dich schon erkannt, als ich dich im Zug gesehen habe. Ich sehe es immer noch vor mir, wie du damals aus der Schule gerannt bist, als du vom Tod deiner Mutter erfahren hast.“
Ich erinnerte mich auch, er hatte mich ganz verwirrt angesehen, als ich an ihm vorbeigelaufen war, er hatte mir noch hinterher gerufen, was los sei.
„Ja, es war schrecklich, ich werde diesen Tag auch nie vergessen“, meinte ich. „Und Sie wollen Ihre Frau jetzt besuchen“, fragte ich darauf.
„So ist es“, antwortete er.
„Ich muss jetzt auch weiter“, meinte ich darauf.
Wir wünschten uns gegenseitig einen schönen Abend und gingen unsere Wege.
Es war eigenartig, ihn wieder zu treffen, vor allem auch, dass ich ihn nicht erkannt hatte, er sah zwar den Jahren entsprechend älter aus als damals, seine Haare waren inzwischen weißer, und ich meinte auch, dass er damals noch mehr Haare gehabt hatte, aber das hatte ihn nicht groß verändert. Ich hatte sein Gesicht in den Jahren vergessen.
Ich hatte damals nicht gewusst, warum er mir seltsam vorgekommen war, und ich wusste auch jetzt nicht, warum er mir so seltsam vorkam, aber er war auf irgendeine Weise etwas eigenartig. Aber er war immerhin glücklich, sagte er zumindest. Ich wusste nicht, ob ich es auch irgendwann mal werden würde, eine Familie besitzen würde. Er war zu beneiden, wenn ihn auch damals viele für verrückt hielten, aber er hatte bessere Karten als ich.
Es war ein nerviger Verkehr auf der Fahrbahn, anscheinend wusste niemand, wo sich das Gaspedal im Auto befand. Dann war auch noch jede Ampel rot. Ich konnte bei so etwas nie ruhig bleiben, ich begann wieder zu fluchen, ich hasste es, wenn ich nicht zügig vorwärts kam. Ich fuhr liebend gern Auto, solange ich vorwärts kam und mir die Gegend vertraut war, aber wehe, der Verkehr spielte nicht mit oder ich fuhr in Gegenden, wo ich mich nicht auskannte, da war ich alles andere als ein entspannter und ausgeglichener Autofahrer. Pia hatte mich öfter in solchen Situationen erlebt und sich jedes Mal prächtig darüber amüsiert, wie ich mich aufregte. Wahrscheinlich würde sie es jetzt auch tun, vielleicht tat sie es gerade sogar wirklich von oben. Ich hatte es damals nicht gerade witzig gefunden, wenn sie dann immer über mich lachte, aber jetzt vermisste ich solche Momente.

Als wir etwa einen Monat zusammen waren, waren wir an einem Abend unterwegs zu einer Party von einer Freundin von ihr. Unterwegs fuhr plötzlich ein Bus, der an einer Haltestelle gestanden hatte, plötzlich los, obwohl ich nur höchstens zehn Meter hinter ihm war, er hatte zwar geblinkt, und bei Blinkzeichen dürfen Busse zwar auch losfahren, aber er hätte hier nicht blinken dürfen, er hätte beachten müssen, dass ich aus so kurzer Entfernung nicht bremsen konnte, wahrscheinlich hatte er nicht einmal darauf geachtet, ob jemand hinter ihm war. Glücklicherweise gab es kurz davor eine Möglichkeit links abzubiegen, was meine einzige Möglichkeit war um auszuweichen, so handelte ich aus Reflex blitzschnell und bog, ohne auf Gegenverkehr zu achten, ab. Eine Sekunde später, und ein LKW wäre in mich hineingefahren, ich sah es schon krachen. Ich wäre beinahe ausgeflippt vor Schreck, alles nur wegen diesem scheiß Bus. Pia lachte nur, sie dachte wohl gar nicht daran, dass sie hätte tot sein können, wenn der LKW in uns hinein gefahren wäre.
Und dann einmal, als ich rechts abbiegen musste, sah ich zu spät, dass dafür eine Rechtsabbiegerspur vorgesehen war und bog, ohne mich einzuordnen, trotzdem ab. Hinter mir wurde gehupt, ich, sowieso schon wegen der Aktion von dem Bus genervt, schrie rum, Pia konnte sich vor Lachen kaum noch halten.

Ich war gerade beim Abendbrot, als das Telefon klingelte. Ich dachte, es wäre wieder Sebastian und beschloss einfach nicht ranzugehen. Natürlich war das nicht richtig, aber ich hatte in dem Moment einfach keinen Nerv auf eine Diskussion mit ihm. Es klingelte nur sieben Mal, es musste wohl jemand anderes gewesen sein. Ich beschloss, wie schon so oft, mir einen Anrufbeantworter anzuschaffen, aber das wollte ich schon seit zwei Jahren machen, und hatte es bis jetzt noch nicht getan.
Ich bekam eine Kurzmitteilung auf meinem Handy. Es war Kirsten. Sie war diejenige, die gerade angerufen hatte, sie wollte fragen, wie es mir so geht. Ich freute mich, von ihr zu hören, daran hatte ich gar nicht gedacht, dass sie es sein könnte, die angerufen hatte. Ich wollte mich gern mit ihr unterhalten und rief sie zu Hause an. Schön, dass ich zurückrufe, sagte sie. Wie es ihr denn so gehe, fragte ich. Ihr ging es gut. Ob ich noch gut nach Hause gekommen sei am Sonntag, fragte sie. Das war ich.
Ich erzählte ihr, dass ich den Mann aus dem Zug getroffen hatte, und was ich so über ihn erfahren hatte. Das sei ja ein richtiger Zufall, fand sie, als ich ihr erzählt hatte, dass er mich von früher her kannte.
Ich erzählte ihr auch, dass ich in der folgenden Woche Urlaub hätte und vielleicht nach London fahren würde. Eine gute Idee, meinte sie, London sei eine schöne Stadt. Ich fragte noch, ob sie noch einen schönen Abend hatte, als sie am Sonntag mit ihrer Freundin unterwegs gewesen war. Den hatte sie gehabt.
Es war eine angenehme Ablenkung für mich, mit ihr zu telefonieren, wir unterhielten uns etwa eine halbe Stunde. Irgendwie fühlte ich mich danach viel besser, wenn ich es mir selbst gegenüber auch immer noch nicht richtig zugeben wollte. Vielleicht würde ich sie ja mal wieder sehen. Sie wollte ja sowieso mal unseren Laden besuchen, aber vielleicht würde sie sich ja auch so mal mit mir treffen wollen. Ich hatte eigentlich schon Interesse. Warum auch nicht, besser als immer alleine zu sein.
Ich hatte nach Pias Tod immer wieder vergeblich versucht, Frauen kennen zu lernen, aber es wollte mir einfach nicht gelingen, ich hatte zwar immer wieder übers Internet einige Kontakte aufgebaut, aber es wurden meistens nie mehr als Mailfreundschaften daraus, und die brachen dann nach einiger Zeit auch wieder ab. Aber ich war nie derjenige, der den Kontakt abbrach, das passierte immer von der anderen Seite aus und auch immer ohne Grund, diejenigen sagte ja nicht einmal, dass sie keine Lust mehr zum schreiben hatten, sie meldeten sich einfach nicht mehr. Ich erwartete ja nicht, dort eine Freundin zu finden, ich suchte einfach nur nach persönlichen Kontakten, damit ich von Pia los kam und mal wieder unter Leute kam. Ich brauchte einfach nur eine gute Freundin, mit der ich öfter etwas unternehmen konnte, einfach jemanden zum Pferde stehlen. Ich hatte einfach keine Lust mehr, an Wochenenden alleine zu sein, fern zu sehen, ich wollte raus gehen, feiern, in Freizeitparks gehen, Museen besuchen, verreisen, einfach das, was alle Leute machten. Mit zwei Frauen hatte ich mich nur davon getroffen, aber die meldeten sich danach auch nicht mehr, ohne mir etwas zu sagen. Aber warum sollte man auch etwas sagen, sich einfach nicht mehr zu melden war ja einfacher, als ehrlich zu sein. Ich wusste nie, woran es lag. Aufdringlich war ich nicht gewesen, möglicherweise hatte ich nicht ihren Vorstellungsbildern entsprochen. Wie sollte ich so mein Selbstbewusstsein wieder finden sollen, wenn man nie offen zu mir war. Ich bekam immer wieder das Gefühl, ein Niemand zu sein. Vielleicht war ich es auch. Ich hasste Menschen, die es sich auf diese Weise leicht machten. Und noch mehr hatte ich die Schnauze voll von denen, die es vorzogen, sich immer hinter ihren Rechnern zu verstecken. Ich hatte auch zu Pias Bekannten den Kontakt verloren. Eigentlich hatte ich auch nur zu zwei Freundinnen von ihr Kontakt gehabt, zu Bianca und zu Melanie, das waren ihre besten Freundinnen.
Bianca wohnte leider nicht mehr hier, sie war kurz vor Pias Tod nach Wien gezogen, ihr Vater war beruflich dorthin versetzt worden. Sie war nicht sofort mit dorthin gezogen, sie wollte eigentlich in Dortmund bleiben und hatte bei ihren Großeltern gewohnt. Als sie dann kurz vor dem Abitur ihre Eltern in Wien besucht hatte, hatte sie dort jemanden kennen gelernt. Sie war mit ihm in Kontakt geblieben. Nach ihren Abiprüfungen war sie wieder nach Wien gefahren, sie hatte sich dann so in den Typ verliebt, dass sie beschlossen hatte, auch nach Wien zu ziehen. Seitdem war sie mit dem Typ zusammen.
Und Melanie hatte mich sehr enttäuscht. Sie schien eine falsche Freundin gewesen zu sein. Sie war damals von der Schule abgegangen, aber sie hatte nie den Mut gefunden, es ihren Eltern zu sagen, da sie in einem sehr strengen Elternhaus lebte. Natürlich hätte so etwas normalerweise irgendwann auffliegen müssen, weil sie ja dadurch kein Zeugnis mehr bekommen hatte. Aber ich hatte ihr das Zeugnis gefälscht, so dass ihre Eltern nichts gemerkt hatten und es bis heute noch nicht wussten. Stunden hatte ich gebraucht, um ihr das Zeugnis zu fälschen, es handelte sich dabei um das Abiturzeugnis, aber ich hatte es gern getan, weil ich ihr helfen wollte und ich gedacht hatte, ich tue es für eine Freundin. Ich hatte noch öfter kleine Gefallen für sie getan, Freunden hilft man ja gern, aber was für eine Freundin sie war, hatte ich dann später erfahren. Auch bei der Suche nach einer Ausbildungsstelle zur Werbekauffrau hatte ich ihr geholfen. Ich hatte mit meinem Chef gesprochen, der einige Beziehungen hatte, und der konnte weiteres regeln, so dass sie kurzfristig zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen wurde und dort einen Ausbildungsplatz bekam.
Ich hatte nie etwas von ihr verlangt, aber als Pia gestorben war und es mir schlecht ging und ich eine Freundin brauchte, hatte sie mich eiskalt links liegen lassen, hatte ständig eine Ausrede, um nicht mit mir reden zu müssen. Sie hatte nicht einmal zwischendurch gefragt, wie es mir gehe. Ich hatte einfach nicht glauben können, dass ich mich so in ihr getäuscht hatte. Wenn es ihr auch scheißegal war, wie ich mich fühlte, aber es war schließlich ihre beste Freundin, die gestorben war, sie hatte den gleichen Menschen verloren wie ich, hatte sie überhaupt kein Bedürfnis gehabt, darüber zu reden, hatte sie der Tod gar nicht bewegt? Aber sie schien doch auch so darunter zu leiden. Ich hatte es nie erfahren, sie wollte ja nicht mit mir reden, sie hatte ja immer eine Ausrede.
Da war mir klar geworden, dass ich nun ganz alleine da stand. Bianca war in Wien, und Melanie hatte sich als falsche Freundin heraus gestellt. Wahrscheinlich hatte sie in mir nur irgend so einen Idioten gesehen, der öfter mal etwas für sie tut. Jedes Mal, wenn sie „Danke“ gesagt hatte, hatte sie offensichtlich gelogen. Wenn ich einem Obdachlosen einen Euro schenkte und er „Danke“ sagte, war ich sicher, dass er es wirklich so meinte, aber bei Melanie war ich es nicht mehr sicher. Als ich ihr das Zeugnis gefälscht hatte, hatte sich Pia bei mir auch bedankt, sie war wirklich stolz auf mich gewesen, dass ich ihrer Freundin geholfen hatte, offensichtlich war sie mir dankbarer gewesen als Melanie selbst. Ich hatte mich oft gefragt, ob Melanie Pia gegenüber überhaupt eine wirkliche Freundin gewesen war.
Bei Bianca war ich sicher, dass sie eine wahre Freundin war, aber leider war der Kontakt zu ihr auch abgebrochen, weil sie ja in Wien lebte. Ich hatte immer gehofft, dass sie zwischendurch mal nach Dortmund kommen würde, aber sie kam nur zu Pias Beerdigung, danach war sie noch kein einziges Mal wieder in Dortmund gewesem, es sei denn, sie war hier und hatte mir nichts davon erzählt. Aber das konnte ich mir nicht vorstellen, sie hätte es mir mit Sicherheit gesagt und sich dann auch mit mir getroffen. Wir hörten nur noch voneinander, wenn jemand von uns Geburtstag hatte. Anfangs, kurz nach Pias Tod hatte sie sich noch öfter bei mir gemeldet und mich gefragt, wie es mir gehe, aber ich hatte nie erzählt, wie schlecht es mir wirklich ging, weil ich Angst hatte, dass sie mir dann auch ausweichen würde, und per Handy darüber zu reden, wäre sowieso nicht das gleiche gewesen, wie als wenn ich persönlich mit ihr geredet hätte. Von der Sache mit Melanie hatte ich ihr nicht erzählt, ich wusste auch nicht, ob die beiden noch Kontakt hatten.
Melanie sah ich noch hin und wieder mal in der Stadt, aber ich machte dann immer einen Bogen um sie herum, aber inzwischen hatte ich sie auch schon seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Wenn Bianca doch noch hier leben würde, dann wäre manches einfacher für mich, denn wenn eine Freundin von Pia für mich da wäre, dann wäre es so, als wenn noch ein Teil von ihr da wäre.

Es war kälter geworden, merkte ich am nächsten Tag, schon ziemlich kühl für Oktober. Aber ich hatte nichts dagegen, nach diesem Horrorsommer wäre ein schön langer Winter zum Ausgleich angebracht. Ich hasste den Sommer, ich konnte Hitze nicht leiden, aber der Sommer, den wir dieses Jahr erleben mussten, war der schlimmste Sommer, den ich je erlebt hatte. Heißer und länger als alle anderen. Während die anderen Sommer immer zwischendurch ein paar kühlere Tage und auch Regentage hatten, erlebte man in diesem Sommer jeden Tag Hitze pur, ohne Pause, und das bei Temperaturen von bis zu 40 Grad. Ich hoffte, dass wir einen ebenso langen Winter bekommen würden.
Während andere Menschen gut gelaunt waren, wenn es im Sommer heiß war und die Sonne schien, wurde meine Laune umso schlechter. Wenn es im Sommer regnete, war ich zufrieden. Ich hatte einfach nichts, worüber ich mich bei Sommerwetter freuen konnte. Da merkte ich immer am meisten, wie einsam ich war. Andere unternahmen etwas, hatten Spaß, aber ich wusste nie, was ich machen sollte. Wenn ich jemanden hätte, mit dem ich den Sommer verbringen könnte, würde ich ihn mit Sicherheit mehr mögen, trotz Hitze.
Ich hatte entschieden, nun wirklich nach London zu fahren und während meiner Mittagspause die Reise gebucht. Ich hatte wirklich großes Glück, dass noch ein Platz frei war im Bus. Ich fand es nicht gerade toll, alleine reisen zu müssen, nicht unbedingt weil ich befürchtete, dass es langweilig werden könnte, ich fand eher, dass es blöd aussehen würde, wenn jemand alleine in den Urlaub fuhr und man gleich auffallen würde. Aber ich wollte unbedingt verreisen. Wenn ich schon alleine war, so wollte ich wenigstens etwas Abwechslung im Leben haben.
Ich interessierte mich gar nicht für das Hotel, dass ich reserviert hatte, Hauptsache weg, schade, dass es nur eine Vier-Tage-Reise war.

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Kommentare zu diesem Text


 Omnahmashivaya (05.01.08)
Auch der dritte Teil ist dir gut gelungen. Lg Sabine
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