Der glückliche Blinde

Kurzgeschichte zum Thema Sehen/ nicht sehen

von  NormanM.

Meistens sah ich ihn im Park, den Mann mit der dunklen Brille und dem Lächeln im Gesicht. Ich wusste nicht viel von ihm, außer dass er blind war, aber er schien trotzdem glücklich.
Eines Tages, als ich im Park saß und nachdachte, setzte er sich plötzlich neben mich.
„Ist das heut ein herrlicher Tag“, sagte er dann. Ich war überrascht, dass er mit mir sprach, er konnte mich doch gar nicht sehen und somit gar nicht wissen, dass ich dort auch saß. Aber vielleicht hatte er ja meinen Atem gehört, dachte ich dann. Man sagt ja oft, dass Blinde besser hören können als Menschen, die sehen können.
„Ja, das finde ich auch“, sagte ich.
„Wie die Sonne strahlt, einfach nur herrlich“, sagte er dann, während er lächelnd seinen Kopf nach hinten legte. Wahrscheinlich konnte er noch hell und dunkel unterscheiden, dachte ich. Aber was hatte er davon, wenn die Sonne schien, er sah sie doch sowieso nicht.
„Sie gucken so erstaunt“, meint er dann zu mir. Das tat ich wirklich und erst recht in diesem Moment.
„Ja, aber woher wissen Sie das, Sie sind doch…“, ich stockte, ich wollte es nicht aussprechen.
„Blind?“, fragte er. „Blinder als ein Fisch sogar“, beantwortete er selbst die Frage. „Aber ich würde, wenn ich sehen könnte, genauso erstaunt gucken, wenn mir ein Blinder so etwas erzählen würde“, sagte er dann. Da mussten wir beide lachen.
„Sind Sie von Geburt an blind“, fragte ich.
„Nein, ich wurde es in meiner Kindheit, es war ein Schwund meiner Sehnerven.“
„Das tut mir leid“, sagte ich.
„Oh, das muss es nicht. Um ehrlich zu sein, ich kann mich schon gar nicht mehr daran erinnern. Ich habe in der Zwischenzeit gelernt mit dem Herz zu sehen, wenn Sie das können, brauchen Sie Ihre Augen nicht mehr“, erklärte er.
„Ich verstehe, was Sie meinen“, sagte ich. Ich verstand es wirklich. Und ich bewunderte ihn. Er war so voller Lebensfreude. Aber ich wollte niemals mit ihm tauschen.
„Nun, ich muss zugeben, dass ich niemals damit klarkommen würde. Ich müsste auf so viele Dinge verzichten. Wenn ich daran denke, dass ich nie das Gesicht eines Menschen erblicken könnte, nie Auto fahren könnte, keine Sonnenuntergänge beobachten könnte… Außerdem sehe ich mir gern Städte an, es gibt so viel schöne Städte, auf all das könnte ich nicht verzichten“, erzählte ich.
„Das müssen Sie ja glücklicherweise nicht“, sprach der Mann. „Oh, es gibt gleich Regen, ich werde mich mal auf den Weg nach Hause machen, bevor ich nass werde“, sagte er dann. Ich sah noch oben, er hatte vielleicht Recht, der Himmel war wirklich bewölkt. So verabschiedeten wir uns. Ich sah ihm hinterher. Er bewegte sich so sicher fort, es war gar nicht zu merken, dass er blind war.
Nach ein paar Minuten fing es tatsächlich an zu regnen. Es war wirklich ein bemerkenswerter Mann, meine Gedanken beschäftigten sich noch den ganzen Tag lang mit ihm. Danach sah ich ihn nicht mehr.
Nach ein paar Tagen las ich in der Zeitung, dass sich ein Blinder umgebracht hatte. Ein Foto von ihm war dabei. Es war der Blinde aus dem Park. Ich war sehr geschockt. Gewissensbisse begannen mich zu plagen, denn ich fühlte mich schuldig an seinem Tod.

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Kommentare zu diesem Text


 Omnahmashivaya (23.01.08)
Hallo, eine bewegende Kurzgeschichte, dich mir bis auf das Ende gefällt. Warum hat sich der mann umgebracht bzw. warum macht sich der Prot. Gedanken, dass er Schuld sei? Lg Sabine

 NormanM. meinte dazu am 24.01.08:
Möglicherweise war der blinde doch nicht (mehr) so glücklich. Der prot. macht sich vorwürfe darüber, dass er so direkt war.

Lg Norman
Christoph B. (24)
(25.01.08)
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 NormanM. antwortete darauf am 25.01.08:
Tja, da soll der leser auch ruhig mal ein wenig grübeln, muss ja auch nicht immer alles verraten werden .

Lg Norman

P.S. Ich weiß, dass du jetzt in Hannover wohnst, musst es nicht immer dabei schreiben
Möwe (16)
(30.01.08)
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 NormanM. schrieb daraufhin am 30.01.08:
Hallo Möwe,

freut mich, dass dir die geschichte gefallen hat. Ja, man kann sich kaum vorstellen, dass es an seiner blindheit liegt, vor allem, wo jeder gesehen hat, wie glücklich er war und er selbst gesagt hat, dass er mit dem herzen sehen kann.
Das ist das fiese an kurzgeschichten, dass am ende immer fragen offen bleiben .

Lg Norman
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