Genie und Wahnsinn XVI: August Strindberg (1849-1912)

Essay zum Thema Wahnsinn

von  JoBo72

August Strindberg ist einer der bedeutendsten skandinavischen Schriftsteller. Sein enormes Werk umfasst alle Textgattungen, insbesondere Theaterstücke. Seine naturalistischen Dramen Der Vater (1887) und Fräulein Julie (1888) verweisen thematisch und formal auf das Drama des 20. Jahrhunderts. Sein avantgardistisches Werk erreicht mit den um die Jahrhundertwende entstandenen Dramen Nach Damaskus und Ein Traumspiel eine neue Dimension, zeichnen sie sich doch durch eine radikale Abkehr vom aristotelischen Theater aus. Raum und Zeit sind aufgehoben, Traum und Wirklichkeit verschmelzen. Die Themen sind kaleidoskopisch komponiert und ersetzen in ihrer Mannigfaltigkeit das Ein-Thema-Prinzip des klassischen Dramas.

Die Kammerspiele (z.B. Wetterleuchten oder die Gespenstersonate) aus der Spätphase seines Schaffens runden das Bild Strindbergs als Erneuerer des Dramas ab: Der gleitende Übergang vom Realen in das Irreale, die kaum merkliche Verschiebung des Sublimen in das Groteske bilden die Basis für das expressionistische und groteske Theater der folgenden Jahrzehnte. O’Neill, Beckett und Sartre haben unverkennbar von Strindberg profitiert.

Über allem Avantgardistischen, über aller Provokation, die er mit seinen Stücken bewusst verband, liegt die Klarheit der Sprache Strindbergs, der damit dem Schwedischen neue Ausdrucksmöglichkeiten erschloss. Auch gab er sich im Bemühen um korrekte Terminologie den Anschein von Wissenschaftlichkeit, die er auch für die schöngeistige Literatur beanspruchte. Beschreibungen müssen treffend und klar, Vergleiche anschaulich sein, sei es, dass Wissenschaftssprache oder poetische Sprache Anwendung finden. Die Ästhetik des Wahren ersetzt bei Strindberg die Ästhetik des Schönen.

Der intellektuellen Dynamik Strindbergs entspricht ein Leben voller heftiger Krisen. Seine Labilität, die sich in häufigen Standpunktwechseln und starken Schwankungen bezüglich seiner Beziehungen zu Freunden, Kollegen und v.a. zu Frauen äußert, später auch immer häufiger in Anfällen von Verfolgungswahn und leidenschaftlichen Hassausbrüchen, ist unterschiedlich erklärt worden.

Der Dichterarzt Gottfried Benn (Genie und Gesundheit, 1930) hielt Strindberg für schizophren, was Anton Neumayr (Dichter und ihre Leiden – Rousseau, Schiller, Strindberg und Trakl im Brennpunkt der Medizin, 2000) zurückweist. Für ihn litt Strindberg an einer „speziellen Form der zykloiden Psychosen“, der „Verwirrtheitspsychose“, die „leichtfertig als spezifisch schizophren betrachtet“ werden könne, aber eben nicht als Schizophrenie zu bezeichnen sei. Aus einer Verwirrtheitspsychose erklärten sich, so Neumayr, auch paranoide Wahnideen, zu denen der Eifersuchtswahn ebenso zählt wie der Verfolgungswahn. Unter beiden Wahnideen litt Strindberg zweifelsohne.

Strindbergs Verwirrtheitspsychose weist analog der manisch-depressiven Psychose einen zykloiden Verlauf auf, d.h. Phasen mit erregter und gehemmter Aktivität wechseln sich ab. Wichtige Symptome der erregten Phase sind die Personenverkennung, d.h. der Kranke glaubt, in Menschen der unmittelbaren Umgebung Bekannte oder Verwandte zu sehen, und der Rededrang des Kranken, der nach einer Periode des Schweigens oft blitzartig einsetzen kann. Strindberg beschreibt dies so: „Wenn ich, nachdem ich wochenlang keine Gelegenheit gehabt habe, meine eigene Stimme zu hören, jemanden besuche, überschütte ich den Unglücklichen mit einem Redeschwall, sodass er sich völlig ermattet zurückzieht und mich unfreiwillig verstehen lässt, er wünsche, nie wieder mit mir zusammenzukommen.“ Eine mögliche Erklärung für Strindbergs Beziehungsprobleme.

Die Inkohärenz des Gedankenganges als ein Kardinalsymptom der Verwirrtheitspsychose in der erregten Phase zeigt sich in Strindbergs Dramen immer da, wo Traum und Wirklichkeit ineinander über gehen, und in seiner politischen Meinung stets dort, wo Strindberg seine Weltanschauung grundlegend ändert.

Der Philosoph und Psychiater Karl Jaspers über Strindberg: „In der Zeitfolge ist Strindberg schnell nacheinander und nebeneinander: Sozialist und Individualist, Demokrat und Aristokrat, fortschrittsgläubiger Utilitarier ebenso wie Fortschritt bestreitender Metaphysiker. Nach einer gläubigen Jugend wird er Atheist, Materialist, Positivist; dann schließlich theosophischer Mystizist.“

Nichts charakterisiert Strindberg jedoch besser als ein von ihm selbst gemaltes Bild aus dem Jahre 1893, das eine Landschaft zeigt, in der Himmel und Erde verschwimmen, und auf der man nur einen feuerroten Fliegenpilz deutlich erkennt. Titel des Bildes: Der einsame Giftpilz.

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Kommentare zu diesem Text

Elias† (63)
(22.02.08)
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 JoBo72 meinte dazu am 22.02.08:
Danke für den Hinweis! Gruß, J.B.
Graeculus (69)
(14.05.15)
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