I: Das Gasthaus von Nosteen, ein Treffen und weiteres

Roman zum Thema Fantasie(n)

von  kaltric

Nur wenig später schon war alles vorbei. Sie überraschten den Wagenzug in
dem kleinen Wäldchen, überwältigten die wenigen Wachen und kaperten die
Vehikel, welche Rodym und Brinroc in der Lage waren zu steuern. Ant'as ost'Volin
stand an ihren Seiten: vom Markte Volins.
    „Vor der Nacht werden wir es sicher nicht mehr zurück schaffen“, rief Jestien,
welcher zusammen mit Brinroc auf dem zweiten Wagen saß, dem vorderen Gefährt
zu. „Hier in der Nähe liegt aber ein Dorf, ich kenne dort einen Gastwirt. Der gibt uns
sicher eine Unterkunft.“ Er strahlte.
    Das genannte Dorf hieß Nosteen und lag etwas abseits der Hauptroute zur
Stadt, mitten im Wald. Da es fast schon ein Monopol auf die Belieferung derselben
mit Holzprodukten wie Brettern, Feuerholz, Kohle und ähnlichem besaß, wie Jestien
fleißig zu erzählen bereit war (und Brinroc lauschte noch begieriger), konnte es sich
immerhin leisten, seine Häuser gut in Schuss zu halten. Doch groß war es trotzdem
nicht. Das gesuchte Gasthaus lag direkt am zentralen Dorfplatz, welcher
gleichzeitig den Eingang zur dieser Siedlung darstellte. Die Wagen stellten sie in ein
speziell dafür vorgesehenes Nebengebäude, wohin sie der Wirt namens Talkal
freundlich wies.
    Sie mieteten sich Zimmer, wobei Jestien, welchen Brinroc bereits Anvenn zu
nennen pflegte und durfte, das Geld freundlicherweise auslegte, zogen sich an
einen Tisch in der hintersten Ecke des wenig befüllten Schankraumes zurück und
feierten noch die letzten Augenblicke des vergangenen Tages. Außer Jestien,
dieser zog sich kurz vor Einbruch der Dunkelheit bereits auf sein Zimmer zurück.
    Es ward also bereits dunkel, da stellte Ezanak Brinroc eine Frage, welche ihn
bereits seit seinem Zusammentreffen mit diesem mittelgroß gewachsenen Manne
beschäftigte.
    „Sage einmal, wo genau kommst du eigentlich her?“ Die Temperatur am Tisch
fiel merkbar. „Hier aus Machey doch sicher nicht, du siehst nicht wirklich imarisch
aus. Oder vielleicht aus Omijern?“
    „Daher sicher nicht!“ fing der Angesprochene gleich lauthals an zu dementieren,
so dass es fast die gesamte Taverne vernahm. Im gleichen Tonfall fuhr er fort: „Mit
diesen elenden Verrätern ihrer eigenen Kultur hab' ich sicher nix zu schaffen!“
    Die Besatzer eines nahen Tisches blickten sich neugierig zu ihm um.
    „Das ist einer der Punkte an euch Toljis, die ich wirklich nervich finde und wo ...
wohl nie nich' verstehen werde“, warf Rodym zum Thema ein, welcher schon
mehrere Bier zuviel intus hatte, „nur weil die armen kleinen Omisch... Omischa...
Omijernis keinen Aufstand beginnen wollen, ... um in euer ach so tolles Reich
aufgenommen zu werden, nur... nur deshalb strafft, äh, straft ihr sie derart mit
Verachtung? Ihr Spinner!“
    Das waren die wohl intelligentesten Worte, die Ezanak bisher von Rodym
vernommen hatte.
    Brinroc grollte ärgerlich zurück:
    „ Es ist nicht allein deshalb, diese räudigen ...!“
    Und damit begann ein lebhafter Streit zwischen den beiden, in dessen Verlauf
sie sich sogar gegenseitig die wüstesten Beschimpfungen an den Kopf zu werfen
begannen, bis Ezanak sie irgendwie zu stoppen vermochte:
    „Haltet die Klappen!“
    Bald verstummten sie und funkelten sich böse an, dann nahm er das Gespräch
wieder auf.
    „Also, du siehst, wir wissen bereits, was du bist, du sprichst im Schlaf ...“
    „Sehr gefährlich“, murmelte Rodym, das Gegenteil von Nüchternheit.
    „...was aber trieb dich in diese Länder und wieso hast du dich gerade uns
angeschlossen?“
    „Ihr habt mich, dann erzähle ich es halt!“ Brinroc wirkte resigniert.
    „Einst nannte man mich noch Ijalénio y Lonir, mein Vater war dort Besitzer einer
großen Werft. Oder ist es immer noch. Mir egal.“
    Er nahm einen tiefen Schluck aus seinem Krug.
    „Er suchte sich für mich als Braut die Cijedá Lojúin, Tochter des Verwalters der
Provinz. Am Tag der Vermählung, kurz vor ebendieser, erblickte ich sie zusammen
mit einem anderen Mann, obwohl es ihr vollständig verboten war, auch nur
irgendein männliches Wesen zu sehen. Sie küssten sich. Zwar liebte ich sie nicht,
sie war mir sogar völlig egal, doch dies war trotzdem zuviel. Ich erschlug sie in
meiner Wut beide, wurde leider von einem Wachposten gesehen und musste aus
Lonir, meiner armen Heimatstadt, fliehen.“
    Ezanak erschauderte leicht, Brinroc fuhr fort.
    „Natürlich konnte ich mich dort nicht mehr blicken lassen, denn dann hätte man
auch mich getötet, in anderen Teilen Ojútolnáns sicher ebenso. Zum Glück jedoch
hatte ich in meiner Ausbildung zum künftigen Offizier in deren Rahmen auch eine
Schulung des Imaria besucht und hier, im Lande ihrer Erzfeinde, werden sie mich
sicher nicht suchen, so hoff' ich, oder wenigstens nicht die Möglichkeit dazu haben,
so denk' ich.“
    „Hast' dir aber 'nen reichlich unpassssenden Namen auserwählt!“ stichelte
Rodym. „Ro... ter Fels,... ha! Passt doch gar, gar überhaupt nicht, nicht auf dich!“
    Dann stupste er Brinroc mit dem Finger an und grinste betrunken.
    „Was ist eigentlich mit dir, was waren deine Beweggründe?“ wollte Ezanak von
Rodym einfach nur deshalb wissen, um von der anderen, eher heiklen Geschichte
abzulenken.
    „Ach, das! Das, das... das weißt du doch“, lallte dieser, „du, ja du da!“
    Er deutete mit dem Finger auf einen Punkt etwas rechts von Ezanak, der die
Augenbrauen hochzog.
    „Du dort, du hast mich, den gewall..., gewalllll... den mächtigen Rottym, nein,
Rodym, doch selber drüben an der großen Straße... - Wie hieß se noch mal?
Verflixt! - geholfen. Mir geholfen, vergessen! ...?“
    Ezanak nickte, sich jedoch erinnernd.
    „Du Tölpel hast einem hohen Tier im alten Karrac einen Gegenstand schmieden
sollen, dabei versagt und diesen verhunzt und wurdest dafür verkauft! Solltest nach
Icran verschleppt werden und brauchtest scheinbar dringend meinen Beistand!“
    Er grinste breit, sich über Rodym amüsieren.
    Brinroc verfiel in ein lautes Gelächter, Rodym sah erst beleidigt aus, vergaß
dann den Anlass dazu und gab ein sich überschlagendes Kichern von sich, das in
merkwürdigen Gegensatz zu seiner gewaltigen Körpermasse stand. Dann entsann
sich Ezanak auch wieder des Grundes, warum er damals den Sklaventransport
überhaupt überfallen hatte: er wollte sie eigenständig verkaufen, das Geld hätte er
gebrauchen können, doch Rodyms unablässige Bettelei ließ ihn schließlich
erweichen.
    Dann unterbrach plötzlich der markerschütternde Schrei einer Frau seine
Gedankengänge und die gute Stimmung am Tisch. Danach ein fast ebenso lautes
Poltern im Stockwerk über ihnen, das Zerbrechen von Glas und ein zweiter Schrei,
diesmal jedoch aus einer anderen Kehle. Brinroc und Ezanak sahen sich
verwundert an. Nur Rodym schien nichts bemerkt zu haben, er kicherte einfach
weiter vor sich hin und begann auf seiner Bank herumzurutschen. Im anderen Teil
des Schankraumes dagegen begannen die verbliebenen drei anderen Gäste,
zusammen mit dem aufgeregt aussehenden Wirt Talkal die Treppe hoch zu
stolpern. Ezanak und Brinroc zögerten auch nicht länger und schlossen sich ihnen
an.
    Droben sahen sie zuerst nichts, doch ein dritter Frauenschrei, wiederum von der
ersten Stimme, durchbrach die relative Stille der frühen Nacht. Der Wirt und sein
von der Arbeit des vergangenen, anstrengenden Tages verschmutztes und
verängstigtes, doch neugieriges Gefolge stolperte den Schallwellen entgegen, um
eine Ecke des Flures und in ein Zimmer an der Ostseite des Gebäudes.
    Ezanak fiel das zertrümmerte Fenster in der dem Zimmer gegenüberliegenden
Wand auf, ein Blick hindurch offenbarte jedoch nur das unheimliche Dunkel des
nahen Waldes, also folgte er durch die Tür.
    Weiter unten nutzte Rodym seine neue Einsamkeit aus, um sich in den
Weinkeller zu schleppen und sich selbst einen auszugeben.
    Den anderen aber bot sich folgendes Bild: ein Mann, scheinbar Reisender
irgendwo aus dem Inland, lag, völlig zerstückelt wie von einem Klingensturm, in
einer großen, sich sogar noch ausbreitenden Blutlache auf seinem Bett. Dieses sah
aus, als hätte jemand dringend Feuerholz benötigt, ein Bein fehlte völlig, vermutlich
war damit die neben dem Bett liegende Frau niedergeschlagen worden. Auch sie
war blutverschmiert, ebenso die Wände, doch wies niemand davon solcherlei
Wunden auf wie Bett und Inhalt.
    Die drei Arbeiter, welche dem Wirt gefolgt waren, drehten sofort entsetzt um
und flohen Hals über Kopf. Talkal selbst fiel auf der Stelle um, bewusstlos. Ezanak
ward etwas bleicher im Gesicht, versuchte sich aber zu beherrschen, Brinroc
dagegen sah es sich einfach nur grimmig an.
    „Der Raum wurde geplündert“, bemerkte nach einer kleinen Erkundung.
„Schade - nichts mehr für uns.“
    „Ich glaub, ich sollte mich lieber hinlegen. Gehen wir auf unsere Zimmer“,
schlug Ezanak vor.
    Brinroc                                ergänzte:
„Nehmen wir den da mit.“
    Er deutete auf den Wirt, beugte sich über ihn und fischte irgendwas aus dessen
Taschen. Dann zerrten sie ihn zusammen aus dem Zimmer, weiter kamen sie mit
der schweren Last nicht. Dort kümmerte sich ein Zimmermädchen um ihn, dieselbe,
welche auch den Tatort zuerst betreten hatte.
    Es ward eine unruhige Nacht für sie, denn draußen im Dorf fand bereits recht
schnell und lautstark eine Verbrecherjagd statt, mit Fackeln bewährt durchkämmten
die Dorfbewohner, welche den Toten zwar nicht kannten, doch einen Mord unter
ihnen nicht duldeten, den gesamten Wald und störten Ezanak sogar einmal tüchtig
in seiner Privatsphäre, als sie einfach in sein Zimmer eindrangen, seine Sachen
durchstöberten und ihm sogar Fragen stellten - überraschend organisiert und
diszipliniert für einen wütenden Mob im Blutrausch. Auch zog ein Trupp zur Burg
des örtlichen Ronners um den Vorfall zu melden.
    Am Morgen jedoch waren sie nicht großartig vorangekommen, sogar die beiden
Leichen - die Frau erlag nach kurzer Zeit aufgrund fehlender beziehungsweise nicht
korrekter Hilfestellung ihrer Verletzung, einem zertrümmerten Schädel - lagen noch
immer am selben Orte.
    Ein weiteres Ereignis der Nacht war das Aufziehen eines heftigen Sturmes,
mehrmals hatten einschlagende Blitze nicht nur Bäume zertrümmert, bis
Morgengrauen hatten sich die Naturgewalten auf einen heftigen Regen verringert.
    Im Schankraum bei einem improvisierten Frühstück trafen sich Ezanak und
Brinroc wieder, ihre beiden Begleiter jedoch missend.
    Rodym wurde etwas später gefunden vom sich wieder erholenden Wirt, welcher
in den Keller stieg um nach Schäden durch den Sturm Ausschau zu halten. Der
Vermisste lag eingeklemmt unter einen gewaltigen Weinfass, ihm ging es,
abgesehen von den Nachwirkungen übermäßigen Alkoholgenusses, recht
blendend, hatte er doch als wohl einziger in dieser Nacht ruhig schlafen können.
    „Hab ich denn was verpasst?“ gab er ächzend von sich, erstaunend beim
Anblick des unordentlichen Schankraumes.
    „Ach, nichts wichtiges“, fasste Brinroc ihm zusammen.
    Da kam auch endlich Jestien die Treppe herab stolziert, mit vor Schlafmangel
geröteten Augen aber irgendwie trotzdem weiterlächelnd.
    Ob er wohl auch im Schlaf so vor sich hinlächelt? fragte sich Ezanak.
    „Scheint ja mal eine ereignisreiche Übernachtung gewesen zu sein“, freute sich
Jestien.
    „Kann man sagen“, nickte Ezanak.
    „Den Fragen nach zu urteilen, die man mir heut mitten in der tiefsten Nacht
gestellt hat, würden sie wohl gerne einen von uns beschuldigen. Fremde, welchen
einen weiteren Fremden ermordet haben.“
    „Das Gefühl hatte ich allerdings auch.“
    Der Gedanke schien Jestien zu amüsieren.
    „Und euch würde es wohl freuen, hier abzuwarten auf die Ergebnisse?“
    Ezanak runzelte kurz die Stirn und blickte zum Wirt hinüber, welcher am Tresen
stand und ein paar kaputte Gläser zu polieren versuchte. „Der wird uns wohl kaum
mehr helfen. Lasst uns lieber gleich losfahren, schließlich erwartet man uns doch in
Rees, oder?“
    „Natürlich!“ Jestien schien wieder an seine Pflicht erinnert. „Ich hole nur schnell
meine Sachen!“
    „Macht das“, murmelte Ezanak zur Antwort und vertiefte sich wieder in seinen
Becher.
    Sie verließen Talkals Einkehr, das Gasthaus, und gut eine Stunde später
befanden sie sich wieder auf der Straße gen Norden. Die Dorfbewohner schienen
von ihrem plötzlichen Aufbruch gar nicht erfreut, sie versuchten die Wagen sogar
mit Forken und Harken zu durchbohren und aufzuhalten.
    Ezanak war über den plötzlichen und so starken Fremdenhass ziemlich
erstaunt, schließlich konnten sie sich aber befreien, leider aber mussten sie einen
Wagen zurücklassen, dessen Zugtiere durch die wütenden Dörfler verwundet
worden waren.
    „Ich versteh das nicht, wir haben ihnen doch gar nichts getan“, äußerte sich
Rodym während sie die Kisten des nun nutzlosen Karrens auf den anderen
umluden. Er schien völlig verstört.
    „Mit so was muss man im tiefsten Hinterland halt rechnen...“, versuchte Ezanak
ihm eine Antwort zu geben, doch so was hatte er auch noch nicht erlebt.
    Es war, als hätte sich zwischen ihnen eine plötzliche Krankheit ausgebreitet.
Den Fall des toten Händlers und der Frau vergaß er darüber fast, umso mehr, als
der Regen ihn immer mehr durchnässte.
    Schließlich konnten sie weiterfahren. Ezanak und Jestien nahmen Platz auf
dem Wagen während Brinroc und Rodym nebenher gingen und die Tiere führen
durften.
    So legten sie den restlichen Weg schweigend daher, auch wenn Jestien sie
ständig mit irgendwelchen Erzählungen zu nerven versuchte. Irgendwann gab auch
er auf, so vergingen die nächsten Stunden ruhig, nur wenige Reisende begegneten
ihnen, niemand von Interesse.
    Als bereits die Mauern Rees' ihn Sichtweite kamen, warf Ezanak einen kurzen
Seitenblick auf Jestien. Was er sah, gefiel ihm gar nicht, das Glitzern in Jestiens
Augen interpretierte er als das eines Wahnsinnigen. Er erschauderte und rückte
unwillkürlich näher an den Rand des Sitzes.
    Jestien brachte sie nach einem kurzen Plausch mit den Torwachen am
flussnahen Südtor schnell jenseits der Mauern, ohne das die Wachen auch nur
andeuteten, dass sie mal einen Blick ins Innere der Kisten werfen wollten, was
Ezanak dem Einfluss von Jestiens Herrn zuschrieb und ein paar seiner Zweifel an
dessen Geschichte, welcher er ihnen tags zuvor aufgetischt hatte, beseitigte.
    Er beneidete die Soldaten, denn sie konnten wenigstens in ihren Unterständen
rum stehen, während er selbst noch nicht mal mehr dann noch nasser hätte werden
können, hätte er sich in den Fluss gestürzt.
    „Jetzt werden wir endlich unseren Auftraggeber kennen lernen“, meinte Brinroc
vorsichtig und sah ihn scharf an.
    Er erwiderte den Blick und antwortete:
    „Das werden wir ja sehen.“
    Sie fuhren durch die Stadt, deren Straßen an diesem Ruhetag fast nur noch
bevölkert wahren von Müßig- und Spaziergängern, doch einige wenige arbeiten
auch, denn es war die letzte Woche des Monats und damit mussten Vorbereitungen
getroffen werden für die Feiertage. Jestien führte sie bis zu einer Seitengasse, dort,
so sagte er, sollten sie darauf warten, dass man ihnen den Wagen abnehmen und
sie weitere Anweisungen erhalten würden.
    „In Ordnung, dann warten wir“, seufzte Ezanak und besah sich die
heruntergekommenen, doch immerhin gemauerten, Wände der umgebenden
Gebäude.
    In der Gasse lag immerhin nicht ganz soviel Unrat wie in anderen Städten, die
er schon gesehen hatte, doch war es trotzdem unangenehm. Rodym, der das
wesentlich saubere Karrac gewohnt war, rümpfte die Nase und sah angewidert
drein, Brinroc unbekümmert und Jestien so, als würde er sich über ihr Unbehagen
freuen.
    Die Gasse führte zwischen zwei dreistöckigen Gebäuden durch, die
Durchschnittshöhe für Häuser in Rees, war nicht sonderlich breit und über nur einen
Zugang von der Straße her erreichbar, die andere endete an einem dritten
Gebäude, auch sehr hoch und alle ohne direkte, von der Gasse aus erreichbaren
Zugangsmöglichkeit.
    Ideal für einen Überfall geeignet, ohne Fluchtmöglichkeit für das Opfer, etwas,
das Ezanak im Moment nicht sehr beruhigend fand. Doch immerhin hörte der
Regen allmählich wieder auf, wenn auch die dunklen Wolken weiterhin den Himmel
zierten und ihren Aufenthaltsort in leichte Dunkelheit tauchten.
    „Wie lange werden wir denn noch warten müssen?“ quengelte bereits Rodym.
    „Und woher weiß unser Auftraggeber eigentlich, dass wir überhaupt hier sind?“
ergänzte Brinroc.
    „Er weiß es“, antworteten ihm Ezanak und Jestien fast gleichzeitig, was
letzteren sehr amüsierte.
    „Glaubt mir, wir sind hier nicht umsonst“, bekräftigte ersterer noch mal und
konzentrierte sich auf die Beobachtung der Dächer über ihm.
    Das veranlasste Brinroc zu einem nervösen Griff zu seiner am Gürtel
baumelnden Armbrust, die er ab da fest umschloss.
    Als sich die Lüfte dann allmählich klärten, tauchten am Eingang des Weges
sechs Gestalten auf, eine davon eine dunkelhaarige Frau, wie Ezanak interessiert
bemerkte, ein anderer Censyr, nun wieder mit zwei Schuhen. Sie kamen langsam
auf den Wagen und dessen Geleiter zu, blieben in geringer Entfernung stehen und
musterten die Wartenden. Dann trat ein gut gekleideter, besonders für diese
Gegend, doch mit hübscher Narbe direkt auf der Nase verzierter Mann vor und
verbeugte sich leicht vor ihnen.
    „Seid gegrüßt! Mein Name ist Lvsynac und ich schätze ihr wisst, wer uns
schickt. Wir sind hier um die Gegenstände entgegen zu nehmen und euch zu
danken. Hattet ihr eine erfolgreiche Reise? Ich sehe nur einen Wagen, ist das
alles...? Man sagte mir, es sollten zwei sein? Habt ihr etwa einen Teil verloren? Das
würde meinen Herrn gar nicht erfreuen, es hätte unangenehme Auswirkungen auf
mich und euch.“
    „Es waren auch zwei, doch dank kleiner Schwierigkeiten in einem Dorf nicht
weit von hier mussten wir einen aufgeben“, fing Ezanak seine Erklärung an und
versuchte sich zu beeilen, als er sah, wie die Begleiter Lvsynacs die Hände an ihre
Waffen gleiten ließen.
    „Doch konnten wir die Ladung auf diesem hier“, er deutete auf dem Wagen auf
dem sie hergekommen waren, „verstauen und problemlos herbringen. Zumindest,
sofern ihnen der Regen nichts ausgemacht hat ... und sie nicht den Wagen haben
wollten ...“ Er versuchte sich nichts von seiner Nervosität anmerken lassen und sah
aus dem Augenwinkel, wie Brinrocs Hand an seiner Armbrust leicht zuckte. Sogar
Rodym spürte ihre Anspannung.
    Die Narbennase, wie Ezanak Lvsynac bereits in Gedanken nannte, hob
beruhigend die Hand und sah zu Jestien hinüber, welcher immer noch auf dem
Wagen saß.
    „Stimmt das, wirklich alles da?“
    „Ja“, schoss es fast aus Jestien hinaus, „es fehlt nichts.“
    „Gut. Der Wagen selbst ist nur als Mittel zum Zweck dienlich, sonst ist er
unwichtig ... und was den Regen anbelangt, wir können ja überprüfen ob noch alles
in Ordnung ist.“
    Gleichzeitig, schon während er sprach, bewegten sich die sechs zum Wagen
und erklimmten die Trittstufen an dessen Seite, um an die Kisten heranzukommen.
Ezanak, Brinroc und Rodym blieben unten stehen, für sie war kein Platz mehr auf
dem Wagen und konnten sich stattdessen nur die Rücken der Ankömmlinge
angucken. Ezanak spielte schon mit dem Gedanken an Flucht, sollte mit den Kisten
etwas Lvsynac nicht befriedigen, und bewegte sich unbewusst ein paar Schritte
Richtung Straße.
    Vier der Männer schickten sich an, eine davon zu öffnen, Lvsynac sah ihnen zu,
während Jestien und die Frau vorsichtig Ezanak und seine Männer im Auge
behielten. Als schließlich einer der Deckel gehoben wurde, schoss Ezanak fast
sofort ein übler, Brechreiz verursachender Gestank in die Nase, den er aber nicht
so recht einzuordnen vermochte. Während er gegen die Übelkeit ankämpfte, was
Rodym und Brinroc überhaupt nicht gelang, hielt er sich schnell einen Ärmel seines
Mantels vor die Nase, um den Geruch wenigstens zu unterdrücken.
    Auf dem Wagen sahen die Reaktionen dagegen anders aus, Jestien erstrahlte
glückselig, Lvsynac warf einen kurzen Blick auf den Inhalt und nickte, der Frau ihr
Blick blieb eisern, während sie und der Rest aber scheinbar vom Geruch nicht
weiter betroffen schienen. Dann senkte sich der Deckel endlich wieder und fast
sofort war die Luft befreit von dem Quäler der Riechorgane.
    Dann wandte sich Lvsynac wieder Ezanak zu.
    „Alles in Ordnung aber wir müssen es noch genauer überprüfen. Das Geld
erhaltet ihr morgen ...“, fing er an und wurde von Brinroc unterbrochen, der seine
Armbrust hob.
    „Und wie können wir euch trauen?“ quetschte er in gefährlichem Tonfall hervor.
    „Lass das!“ zischte ihm Ezanak leise zu und legte eine Hand auf seinen
Waffenarm.
    Auch Lvsynac hob beschwichtigend die Hände.
    „Vertraut uns, wir könnten euch nämlich vielleicht noch für einen weiteren
Auftrag gebrauchen. Sucht euch Unterschlupf in einem Gasthaus, dann kommen
wir morgen zu euch. Bis dahin ist nichts mehr zu sagen.“
    Damit verabschiedete er sich und alle Sieben, Jestien also auch, fuhren,
beziehungsweise gingen, davon. Brinroc starrte ihnen böse hinterher, während
Rodym sich erst wieder von der Wand lösen musste.
    „Tun wir wie vorgeschlagen“, schlug seinerseits wiederum Ezanak vor.
    Das Treffen hatte ihm Kopfschmerzen als Andenken hinterlassen und er
gedachte, diese wieder loszuwerden.
    „Wenn du jetzt nicht endlich damit herausrückst, für wen wir überhaupt
arbeiten...“, drohte ihm Brinroc und hob viel sagend seine Armbrust.
    Könnte das bloße Funkeln in jemandes Augen wirklich ein Feuer auslösen,
dann hätte man an Ezanaks seinen wohl eine Fackel entzünden können.
    Er antwortete:
    „Es ist der ehrwürdige Hvlangar Luqur. Ich nehme an, dieser Name sagt dir
etwas?“
    Letzteres richtete er an Rodym. Der sah einfach nur verwirrt drein und Ezanak
rollte entnervt mit den Augen.
    „Oje. Ich erklär's euch nachher, in 'ner Taverne, lasst uns hier endlich
verschwinden, ich mag diesen Ort nicht.“
    Ein großer Krieger mit kurzem braunem Haar, leichtem Bartwuchs und sonst
recht muskulösem Körperbau, welcher sich in einer leicht schmutzigen,
schwarzgrauen Mischung aus Plattenpanzer und Kettenrüstung versteckte, mit über
dem Rücken geschnallter Lederscheide, in welcher ein Schwert steckte, sicher um
einiges länger als Ezanaks Bein, saß auf einem Hocker an der Theke und hielt sie
scharf im Auge, schon fast die gesamte Zeit über, seit sie in dieser Taverne
namens 'Zum Macaten' waren.
    Er hatte seinen Blick auf sie gehaftet, als sie rein kamen und Brinroc lauthals
etwas zu trinken verlangte, und sich seitdem kaum etwas anderem gewidmet,
höchstens noch manchmal dem Weinbecher in seiner Hand.
    Ezanak versuchte ihn zu ignorieren und die anderen beiden schienen eh nur auf
ihre Getränke acht zu geben. Und natürlich auf das Essen, von welchem besonders
Rodym reichlich geordert hatte. Nun, nach Vollendung des Mahles, widmeten sie
sich intensiv einem Misch aus Karten- und Würfelspiel, bei welchem Ezanak nur
lustlos zusah und vor sich hin grübelte.
    Über den Luqur musste er sie letztendlich sogar schon auf dem Hinweg
aufklären, da besonders Rodym mit seiner Neugier allzu nervte. Er hatte ihnen
gesagt, dass Hvlangar Luqur der wohl reichste Händler von Rees und Umgebung
war und somit einer einflussreiche Persönlichkeit, ihnen jedoch kurz entschlossen
verschwiegen, beziehungsweise in Rodym nicht die Erinnerung wachgerufen, dass
es derselbe Hvlangar Luqur war, welcher damals für den Verkauf von Rodym in die
Sklaverei verantwortlich war, denn Ezanak hatte auf den Transporter, welchen er
überfallen hatte, deutlich den Schriftzug Tysher es'Hvlangar Luqur an'Rees lesen
können, Eigentum von Hvlangar Luqur aus Rees.
    Und er beschloss es weiterhin geheim zu halten, denn eine zukünftige gute
Zusammenarbeit mit Luqur war ihm lieber als ein sich rächender Rodym.
    Er warf einen kurzen Seitenblick auf den Raum beobachtenden Krieger und war
schon drauf und dran aufzustehen und ihn zu fragen ob er vielleicht ein Problem
hätte, da tauchte aus einem Hinterzimmer der Taverne plötzlich eine Frau auf, bei
deren Anblick Ezanak fast vergaß weiterzuatmen.
    Er sah sie gebannt an, wie sie Richtung Tresen ging, und musterte sie genau.
    Mittelgroß (Durchschnittsgröße in Rees), mit schulterlangem braunen Haar und
einem Gesicht bei dem Ezanak fast zerfloss. Sie trug etwas, das man wohl
gleichsam auf einem Ball als auch mitten in einem Schlachtfeld hätte tragen
können, er ward sich nicht schlüssig, ob er es Wohlstandskleidung oder eine
Lederrüstung nennen sollte, achtete aber dann lieber auf anderes.
    Sie ging direkt an dem Krieger vorbei, warf ihm keinen einzigen Blick zu und
deutete ihm nur per Wink, ihr zu folgen, was er auch tat.
    Dieser Glückspilz, dachte Ezanak neidisch, doch dann trafen sich die Blicke von
ihm und dem Krieger und es lief ihm kalt den Rücken runter. Da wusste er, dass
dieser Mann wohl nicht der Liebhaber sondern vielmehr der Leibwächter der
Schönheit war und ihn wohl als Bedrohung für seiner Herrin Wohlergehen sah. Als
sie beide durch die Tür verschwanden, dachte er über dieses Ereignis nach, und es
fiel ihm irgendwas Vertrautes an ihr auf, wusste jedoch nicht was.
    „Ez, geht's dir nich' gut?“, fragte Rodym fürsorglich als er Ezanaks gläsernen
Blick wahrnahm. Dieser wandte sich ihm, wie aus einem Traum aufwachend, zu.
    „Bitte?“
    „Hier, nimm 'nen Schluck!“ Rodym schob ihm einen Becher lecischen Weines
herüber und Ezanak nahm eine Mundvoll.
    „Danke ...“
    „Also warten wir jetzt bis morgen?“ erkundigte sich auch Brinroc.
    „Also erwarten wir den morgigen Tag.“ Ezanak nickte.
    „Un' dann geht's weiter?“ wollte Rodym wissen.
    „Das wird sich zeigen, ich kann es noch nicht sagen.“
    „Dann lasst uns das gute Zeug hier mal vernichten!“ stimmte Brinroc an und hob
seinen Krug, denn ein einfacher Becher wäre ihm zu klein gewesen.
    „Jap!“ erwiderte Rodym.
    Da lief plötzlich über den Tisch eine kleine dunkle und scheinbar suizidale
Spinne.
    „Verdammtes Ungeziefer!“ mit diesen Worten ließ Brinroc seinen Krug wieder
herabsausen und direkt auf das arme Tier, dass Krug und Spinne beide ihr Ende
fanden und eine klebrige Symbiose eingingen.
    „Haste halt davon!“ kicherte Rodym und Brinroc brüllte lauthals, man solle ihm
einen neuen Krug bringen. Oder zumindest so ähnlich drückte er sich aus, nur nicht
ganz so höflich und mit mehr Schimpfwörtern sowie einer kurzen Tirade über die
Haltbarkeit und Nützlichkeit der Tonkrüge in diesem nicht so wunderschönen
Etablissement gespickt.
    Dann frönte er wieder einer anderen Leidenschaft von ihm: mit Hilfe des
Karten-/Würfelspiels Rodym das nicht vorhande Geld aus der leeren Tasche zu
ziehen und ihm stattdessen einen Schuldschein nach dem anderen abzuluchsen.
    Die Betten später wären ihm sicher auch nicht recht gewesen, denn in ihren
Zimmern erspähte man tatsächlich weiteres solches Ungeziefer, doch konnte er
zum Glück eines der Schankmädchen dazu überreden, dass sie ihn bei sich
schlafen ließ. So führte Ezanak denn einen Krieg gegen die Insektenplage,
während Brinroc einen der etwas anderen Art genoss.
    Am nächsten Morgen wachte Ezanak mit den Ergebnissen der verlorenen
Schlacht auf, mehrere schlimme Wanzenbisse, Rodym schien dagegen unberührt
geblieben zu sein und Brinroc trug größere Bissspuren, wie Ezanak erstaunt
wahrnahm.
    „Mit einem Rezanni gekämpft?“ erkundigte er sich.
    „Nein, mit was wilderem“, antwortete Brinroc mit einem breiten Grinsen.
    „Noch gefährlicher?“ Rodym schien tatsächlich darüber nachzusinnen.
    Da betraten Lvsynac samt Gefolgschaft die Taverne, er hatte sie wirklich
gefunden. Luqurs Fühler schienen ziemlich weit zu reichen, nicht nur in dieser
Stadt. Er begrüßte sie sogleich.
    „Ah, da seid ihr ja! Ich hoffe, ihr habt euch gut ausgeruht...?“
    „Mein Schlaf war fantastisch“, unterbrach sogleich Brinroc und Ezanak
grummelte ihn an. Lvsynac fuhr fort.
    „Ja, ich sehe, ihr seid bereit. Nun, ihr habt jetzt die Wahl, wollt ihr sogleich euer
Geld haben oder noch etwas für uns erledigen? Dann verzehnfachen wir euren
Sold, sofern ihr erfolgreich seid, sonst gibt es nämlich gar nichts!“
    „Ich will jetzt ...“, fing Rodym seine Antwort an und wurde von Ezanaks Ellbogen
in seiner Magengegend unterbrochen.
    „Sprecht bitte weiter“, drängte er und Lvsynac nickte.
    „Die von euch gelieferten Kisten werden von meinen Leuten in ein paar Tagen
nach Nyrron gebracht und von dort zu ihrem endgültigem Bestimmungsort. Ihr
könnt sie begleiten und bei der Verteidigung der Kisten helfen, zumindest ab
Pyredar, denn bis dahin werden wir den ersten Teil des Weges per Schiff auf dem
Britanlak zurücklegen und Überfälle von Flusspiraten werden wohl kaum zu
befürchten sein.“
    „Wir sollen euch also bloß von Pyredar nach Nyrron geleiten? Klingt zu einfach,
erwartet ihr außergewöhnliche Schwierigkeiten?“
    Ezanak sah ihn scharf an.
    „Nein. Aber ihr wisst ja bereits, wie wichtig uns der Inhalt der Kisten ist.“
    Lvsynacs Gesicht blieb starr und ausdruckslos.
    „Ja... natürlich... . Also wann sollen wir voraussichtlich in Pyredar auf euch
treffen?“ Rodym gab einen missbilligenden Laut von sich bei Ezanaks fast schon
perfekter Zusage.
    „Wir geben euch Zeit bis zum letzten Tag der übernächsten Woche, dann
fahren wir, solange nichts dazwischen kommt oder kam, an der Voroc los.“

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