Adat

Tagebuch

von  beneelim

„Der Richtige ist nie gekommen und umso mehr Spaß durfte ich mit den Falschen haben“, grinst er und zückt eine Visitenkarte. An deren laminierten Rändern klebt Koks oder dergleichen. Einen kurzen Moment wirkt er unentschlossen, ob er sie mir zustecken will, sozusagen als einzige Frivolität, zu der er heute Abend fähig sein wird, dann legt er sie auf die gläserne Tischplatte des einigermaßen gelungenen Mies van der Rohe Imitats. Streut sein Pulver darauf wie ein Knecht das Futter über den Hühnerhof. Kratzt es zusammen, zerdrückt es, fädelt schmale Linien über die halbe Länge. Ich möge doch nur zugreifen.. Ob ich wisse, dass der Großteil unserer Ängste in unserer Fantasie wurzelt, dorthin haben sie sich denn zurückgezogen, als Höhlenbären, schlechte Witterung und Waldbrände ihre Bedrohlichkeit einbüßen mussten. Ich spendiere ihm einen Klumpen unausgesprochener Süffisanz tief in meinem Brustkorb, als er affektiert die freie Hand im Gelenk baumeln lässt. „Aber heutzutage“, sinniert er weiter, und er2 nickt bedächtig, während er2 näher rückt und seinen Strohhalm greift, „wissen wir doch gar nicht mehr, was wir wollen. Zum Fürchten. Todesängste verantworten bereits mehr Lungenkarzinome als Rauchen in der Kette.“
Und auch wenn wir meinten, unsere Wünsche zu kennen, was gibt uns die Sicherheit, sie in uns selbst zu verorten? Lange schon zähle nur mehr das, was sich gehört. „Man nimmt keinen Anstoß mehr daran, alles, was wir als Individuen einfordern“ – da entringt sich er2 ein zustimmendes Brummen – „ist in vergesellschaftete Postulate gekleidet, da kommen wir nicht umhin.“ Mit aufgerissenen Augen beutelt er sich kurz und reibt sich die Nase, den Kopf in den Nacken werfend. Er2 macht sich über die zweite Straße her und ich leere meinen Prosecco und wundere mich, wie mir einfallen kann, dass die Dusche danach das Enervierendste am Sex ist. Als Er2 grunzend sein Gesicht im Schoß seines Nachbarn versenkt und sich schmatzend ans Werk macht, wird es zwei Uhr dreiundzwanzig.

Im zweiten Wohnzimmer, das mit Samtpolstern und geschmackvoll bestickten Diwans ausgelegt ist, ficken drei Pärchen, während ein Siebter sich mal hier und mal dort gütlich tut und der Rest auf den geräumigen Sofas nahe dem Balkon entweder ein stumpfes Publikum gibt oder mit schlafverwandten Zuständen ringt. Bongs, Wasser-, und Opiumpfeifen machen Runde um Runde. Sie winkt mir aus dem Halbschatten zu, ich bin nicht sicher, ob das freundlich auf mich wirkt. Der bereifte Arm senkt sich auf den Platz neben ihr und sie streicht mit der Handfläche über den cremefarbenen Bezug, als müsste er für meinen Arsch vorgewärmt werden.
„Was läuft?“
„Na, sieh dich mal um.“
„Ja. Und du?“
„Mir sind die Zigaretten ausgegangen.“
„Ah.“
Meine Befürchtungen bewahrheiten sich ausnahmsweise nicht, sie bleibt einen Schenkel breit von mir entfernt und stützt mit der linken Hand ihren rechten Ellbogen, während sie die Sektflöte schwenkt. Das mittlere Pärchen liefert einen überkandidelten Orgasmus, sie zieht einen Mundwinkel in die Höhe, fasst sich ans Medaillon über ihrem Dekollete, ich bemerke, das ich mehr gewünscht denn befürchtet habe.
„Je mehr man davon sieht, desto ferner steht es einem.“
Ich ermorde meine Schlagfertigkeit. “Ja.“
Er3, hübsch befrackt und mit gewaltigem Bizeps, steht plötzlich neben mir und senkt ein Tablett auf Blickhöhe. Häppchen, irgendetwas Kandiertes. Ich zeige ihm ablehnend die Handfläche und nehme von den Erdbeeren in weißer Schokolade am Sofatisch. Greife nach dem Joint, der zwischen unseren Köpfen nach vor gereicht wird. Ich höre Gekicher und etwas von Einreisebestimmungen in die USA und zwei hingerichteten Schwulen in Teheran. Dann wieder sie. Wie es so im Job laufe, wie die Wohnungssuche voranginge, Männer, Frauen, Haustiere, Essverhalten, Hybridautos, Psychotherapie, Oscarverleihung, Fitness, verbrachte und geplante Urlaube, Antidepressiva.
„In irgendeinem Wochenmagazin fand ich unlängst einen Artikel.“
„Ach“, erwidere ich, nicht einmal uninteressiert.
„Die bulimische Gesellschaft. Recht gut. Gefällt mir, die Idee.“
„Ja. Selbstredend. Schreibst du auch wieder?“
„Gelegentlich.“ Sie steht auf und wirft mir einen Kussmund zu, begrüßt sie2 oder 5 und die beiden schlendern, sich an den Hüften umschlingend, ins Foyer. Sie schreibt. Ich notiere innerlich, wieder öfter das Stadtjournal zu lesen.

Bis zum Morgengrauen erfahre ich, dass im keltischen Tierkreis die Natter das Symbol der Heilung darstellt und dass die Nahrungsmittelindustrien, insbesondere die Fleischfabriken, den letzten Nagel in den Klimasarg schlagen werden; ich koste eine vegane Bulgurpaella und unterzeichne eine Petition gegen die Beschneidung der Frauen in einem afrikanischen Kleinstaat. Ich treffe er7, er9, sie12. Rücke letztere vor auf Rang 11. Tausche mit sie11 bei den Tequila-Melonen zaghafte Zungenküsse aus.

2
Das Leben besprechen, wie es erwachsene Persönlichkeiten zu tun pflegen, die in niveauvollen, kontroversiellen US-amerikanischen TV Serien auftreten; alternde Filmdivas zwischen dem vierten und fünften Aufenthalt in der Betty Ford Klinik, denen Sender wie HBO oder ABC Rollen häppchengleich zuwerfen, Almosen, unter denen schon das Efeu einer südstaalichen Familiengruft rascheln gehört werden kann.
Doch sie haben mir etwas voraus, denn sie lassen sich von mutigen Autoren geschliffene Worte in den Mund legen, diskutieren mit Liebhabern und entfremdeten Schwestern von der Kälte in der Familie, von der Angst vor Nähe und Hingabe und wenn die Sendezeit fortgeschritten genug ist, debattiert das schwule Beinahe-Pärchen, wie irritierend, kränkend der Umstand ist, dass sie zurückschrecken, einen Augenblick in schlimmer Gewahrwerdung verharren, wenn sie sich auf der Familienfeier beim Grillen von Ziegenkäse einen flüchtigen Kuss geben möchten.

Vielleicht liegt es am Ozean, der die Kontinente trennt, vielleicht lassen Gin und Hitze dort den Liebenden und Lebenden eine andere, härtere, aromatischere Reife angedeihen. Ich weiß nichts vom Aussprechen von Motiven, Wünschen und Animositäten, weiß nichts. Trinke wenig, rauche in Maßen, habe also anscheinend auch nicht Angst genug, um nach Fortschritten zu streben. Verstünde ich es nur, mir Probleme zu schaffen, die mir ein wenig mehr Bewegung wert wären, ich könnte diesen Abend lächelnd beschließen. Es ließe sich natürlich nicht derart arrangieren, wie es ein Drehbuch vorsehen würde, mit all diesen passenden Worten, mit diesem Timbre der Entrüstung und Kongruenz, der die Stimme erfasst, die Befreiung, die Apologie einer entkorkten Seele, wo Spruch und Gegenrede ineinander greifen wie die Krampen eines Reißverschlusses.

Aber in Filmen ein Leben zu verspüren, den Hinweis auszumachen auf die Möglichkeit der stilvollen Lösung oder auch der scheiternden Versuche, die nicht weniger stilvoll bleiben, ist mir ausreichend. Ich überlege: Überlege, wie ich es verhindern kann, mich verhindern, wenn das Leben es so bringen will, mich, als fettleibigen alternden Senioren, von schwerem Atem, brüchigem Herzschlag, oder als vitalen Rentner im Buerlecithin Rausch, Reden führend vom Trip in die Südsee und dem klaren Sternenhimmel über Samoa, der alles Individuelle vernichtet. Von Fahrradtouren entlang der Donau und dem Dahinsterben der Saunakollegen.

3
Weil alles Lebendige, da es Geschwindigkeit verliert, und in die Zeit übergeht, an Masse zulegen muss und schwerer wird, als die Parzen es zulassen wollen. Verlasse das Haus, als der öffentliche Verkehr wieder den Betrieb aufnimmt und sterbe 23 Jahre später. Zuvor, so meint die Überlieferung, habe ich auf einer Silvesterfeier in den Armen von James zaghaft gelächelt und alles recherchiert, was ich finden konnte über die bulemische Gesellschaft.

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Kommentare zu diesem Text

minze (21)
(24.03.08)
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 beneelim meinte dazu am 24.03.08:
ich stimme zu
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