Sonnenblumen - satirisch-philosophische Gedanken im Garten

Satire zum Thema Philosophie

von  Momo

Ich hatte mir für diesen Nachmittag vorgenommen, meinen Garten in Schuss zu bringen, jedenfalls, was ich darunter verstand. Ausgestattet mit Hacke und Harke, dazu einem Eimer für das Unkraut, war ich mit Gummistiefeln in den Garten gestapft, um dem nie versiegenden Wachstum des Unkrauts zu Leibe zu rücken. Aber schon nach wenigen Hieben mit der Hacke ließ mich die sonore Stimme meines Nachbarn hochfahren, der über die mannshohe Hecke schaute. „Hallo, Frau Nachbarin, auch wieder fleißig“, grinste er mich mit seinem runden nichts sagenden Gesicht unter einem Käppi an, das er nie abzunehmen schien. Obwohl er äußerlich überhaupt nicht mein Typ war, hatte er irgendetwas, das ich interessant fand, vielleicht war es aber auch nur sein Gartenteich. „Eigentlich ist es viel zu heiß“, erwiderte ich. „Man sollte dieses wunderschöne Wetter genießen, es sich gemütlich machen und sich nicht abrackern.“ Mein Nachbar besaß neben besagtem Teich ein verwildertes Stück Land, das mit hohem Gras zugewuchert war, aus dem aber doch noch hin und wieder an einigen Stellen ein paar Blumen den Weg ins Licht gefunden hatten. Ich sah ihn nie im Garten arbeiten, er schien den Dingen seinen Lauf zu lassen. Täuschte ich mich oder sah ich ein schadenfrohes Leuchten in seinen Augen aufblitzen? „Schöne Sonnenblumen“, nickte er in die Richtung meiner Prachtstücke.

Im Frühjahr hatte ich eine Handvoll Samen ausgesät in der schwachen Hoffnung, ein, zwei Sonnenblumen durchzubringen. Es gab Sommer, in denen bei Regentagen der ganze Gartenboden mit schwarzen schleimigen Schnecken bedeckt waren, zwischen denen ich auf Zehenspitzen hindurch tänzeln musste, um nicht mit einem Quietsch auf eine zu treten, Schneckengekröse hinter mir lassend. Diese schwarzen Biester schienen ihre Existenzberechtigung daraus zu ziehen, sich an jedwedes frisch geschlüpfte Grün anzuschleimen, um es stoisch in ihren breiten zahnlosen Mäulern verschwinden zu lassen. Und besonders Sonnenblumen schienen sie zu lieben. Sie waren imstande, eine mit viel Liebe aufgezogene Pflanze, die schon einen daumendicken Stiel hatte, über Nacht zu fällen.

Aber da standen sie! Meine Sonnenblumen. Drei schöne mannshohe Sonnenblumen. Sie erinnern mich an die kraftvollen, von Farben sprühenden Bilder Van Goghs, an üppige Bauerngärten, die ohne ihre harmlose Dominanz und gelbe Freundlichkeit weniger gemütlich wirkten und an meine Kindheit.

Ich hatte sie durchbringen können und ich fühlte mich ein bisschen so, als hätten sie nur mir ihr Leben zu verdanken. Und war es nicht auch so? Ich hatte für sie sogar einen Schutzwall gebaut aus vielen spitzen Glasscherben, der in einem Ring wie ein Wehr um sie angeordnet war. Schließlich musste ich zu härteren Mitteln greifen.
Ich stieß meine Vorsätze über einen ökologisch bebauten Garten über den Haufen und kaufte „Schleimis Schneckenvernichter“.
Die schwarzen  Viecher waren in langen Sommern, in denen sie sich gefräßig, eine Spur der Vernichtung hinter sich lassend, durch meinen Garten geschleimt hatten, zu meinen persönlichen Feinden geworden. Ich schreckte vor nichts mehr zurück. Selbst die sadistische Methode, sie bei lebendigem Leibe mit kochendem Wasser zu überbrühen, um dann mit dem Wasser, in denen sie zu Tode gekommen waren, den Garten zu bewässern als Abschreckung für ihre noch lebenden Artgenossen, zog ich in Betracht.

„Ich hab’s auch schon öfter versucht, aber sie wollen bei mir nicht wachsen“, fuhr mein Nachbar betrübt fort. Kein Wunder, dachte ich, bei dem Wildwuchs mussten sich ja wahre Schneckenkolonien ungestört ausbreiten können, die, wenn sie nichts Schmackhaftes mehr fanden, einfach die Grundstücksgrenze wechselten. Mir schwante auf einmal, dass hier die Wurzel des Übels zu finden sein könnte. Wer weiß, womöglich beförderte er auch einige der unseligen Geschöpfe auf dem Luftweg in meinen Garten, um so ein gewisses Gleichgewicht zwischen dem Wachstum in seinem und meinem Garten wieder herzustellen. Hatte ich nicht erst kürzlich auf seinem Auto die Werbeaufschrift „Schleimis Schneckenvernichter“ gesehen? Mir kam plötzlich der absurde Gedanke, mein Nachbar könne eine Art Aufzuchtstation für Nacktschnecken auf seinem Gründstück eingerichtet haben, um die kleinen Tierchen dann geschäftsunterstützend in die Gärten nichts ahnender Bürger zu entsorgen. Sein harmloser Gesichtsausdruck schien sich auf einmal vor meinen Augen zu verwandeln. List und Tücke schienen mich unvermittelt anzuspringen.

„Es ist auch viel zu heiß“, verabschiedete ich mich hastig. „Ich sollte erst einmal einen Kaffee trinken und abends weiterarbeiten, wenn es ein bisschen kühler geworden ist.“ Verkrampft schickte ich ein kleines Lächeln in seine Richtung, zwängte mein Gartenwerkzeug in die Armbeuge und ging Richtung Haus. Erleichtert ließ ich mich zehn Minuten später mit einem kalten Saft auf der Terrasse nieder. Abstand, ich brauchte erst einmal Abstand. Gemächlich räkelte ich mich in meinem Liegestuhl. Nur ein paar Fliegen summten hin und wieder um meinen Kopf, die ich mit einer nachlässigen Bewegung verscheuchte. Durch halbgeschlossene Lider schweifte mein Blick durch den Garten und blieb schließlich an meinen Sonnenblumen hängen.

Ein unverstellter Blick auf die Dinge mit einer anderen Perspektive ist der Schlüssel, um wieder staunen zu können, dachte ich. Nichts ist selbstverständlich, nur weil es eben so ist und schon immer so war.
Es ist fast wie ein Wunder, dass ein einzelner Same eine so große Pflanze hervorbringen kann

Es ist immer alles in allem, hatte ich kürzlich gelesen.
Was bedeutete das? Dass die Pflanze im Samen und der Samen wiederum in der Pflanze ist? Erst wenn die Sonnenblume ihr Wachstum abgeschlossen hat, bildet sie neuen Samen aus und erst dann, wenn dieser optimale Umweltbedingungen vorfindet, kann aus dem Samen wieder eine neue Pflanze wachsen und die alte stirbt.

Die Antwort auf viele Fragen verbarg sich vielleicht in diesen kleinen länglichen hell-weichen Kernen, die nach Sommer und Sonne schmeckten und die zu Dutzenden gedankenlos verspeist werden, wenn wir im Bäckerladen ein Sonnenkernbrot verlangen.
In diesen Kernen steckt der Keim des Lebendigen, unsichtbar, aber vorhanden. Auch wenn wir uns noch so große Mühe geben würden, er ist von uns nicht reproduzierbar.

Es ist immer alles in allem.
Warum passiert in einer Samentüte nichts und in der Erde alles? In einer Tüte rühren und rappeln sie sich nicht, spielen scheintot, obwohl es dort ja auch dunkel ist. Wie in der Erde.
Der Schlüsselreiz, das, was ihnen zu sagen scheint: jetzt geht’s los, ist wohl das Wasser. Ohne Wasser läuft nichts. Und Licht. Sonst wüssten sie ja nicht, in welche Richtung sie wachsen müssten und würden erst gar nicht damit anfangen. Wäre es nur dunkel, gäbe es aber genug Wasser und genug Keime des Lebens, würde trotzdem nichts wachsen, weder wir noch Pflanzen noch irgendetwas.
Andererseits passiert bei nur Licht auch nichts. Legt man einen Sonnenblumenkern auf die Fensterbank auf nasse Erde – nichts.
Alles Lebendige scheint uns sagen zu wollen: Wenn das was werden soll mit dem Wachsen brauchen wir erst einmal Dunkelheit, und dann Licht, das unsere Lebensgeister weckt, und natürlich Wasser. Ohne Wasser läuft nichts. Weil Wasser alles in Bewegung bringt. Aus hart wird weich, aus fest wird flüssig. Alles Harte und Feste taugt nicht zum Leben. Feste Gedankenstrukturen bringen uns nicht weiter und ein Bocciaball schlägt dumpf auf die Erde auf und rollt bestenfalls noch ein paar Meter. Da führt ein Flummi doch ein ganz anderes Leben!

Also …. erst wenn das Wachstum der Sonnenblume zur vollen Reife entwickelt ist, bildet sie Samen aus und in jedem einzelnen Samen steckt alles, was die Sonnenblume über sich weiß – und so ist es bei allem Lebendigen. Das ist so, damit nichts verloren geht von dem, was das Leben gelernt hat. Und das es lernt, steht doch außer Frage!

Es ist immer alles in allem.
Das bedeutete doch dann wohl auch, dass alles, was in unserer Dimension jemals existiert hat, als geistiges Potential natürlich, in allem steckt, was existiert. Es ist nur eine Frage der Entwicklung, dass es erkannt wird.
Und da alles, was existiert bipolar ist, muss auch unser Ursprungsort bipolar sein, oder etwa nicht? Meine Kinder gleichen mir doch auch. – Aber wenn etwas bipolar ist, ist es weltlich und etwas Weltliches kann kein Leben schaffen.

Die Lösung zeigt vielleicht mein Sonnenblumenkern.
Er wächst im Zusammenspiel mit Licht und Dunkelheit. Licht wie Liebe, Gott und Leben. Dunkelheit wie Hass, Teufel und Tod. Nur im wechselseitigen Geben und Nehmen kann hier etwas lebendig werden und wachsen.

Und der all-einige Gott? Nur ein Phantom, eine Illusion, ein Glaubenskonstrukt?
Nur wenn Licht und Dunkelheit, Leben und Tod nicht mehr zwei-teilig, sondern als eins begriffen werden, kann man auch ihn begreifen, weil alles von ihm kommt.

Und das, was lebendig macht?
Das, was lebendig macht, kann wohl nur im Licht bzw. in der Liebe zu suchen sein. Weil nur hier Wachstum stattfindet.
Und, um es noch einmal festzuhalten, damit es überhaupt anfängt zu wachsen, in der Dunkelheit.
Vielleicht hat sich ja der allmächtige Gott selbst in die Dunkelheit befördert, ein Teil von ihm jedenfalls, nur einmal als Gedankenspiel, um hier zu wachsen und wissend zu werden, um mehr über sich herauszufinden. Wenn ich alleine wäre, würde ich auch nichts wissen, selbst, wenn ich allmächtig und vollkommen wäre.

Es ist immer alles in allem.
Vielleicht gibt es so etwas wie einen kosmischen Schöpfer, bei dem jeder lebendige Organismus seine Zelle und alle Zellen ihn als Lebewesen ausmachen. Die Menschen als höchstentwickelte Geschöpfe der gesamten Evolution, ausgestattet mit allem Wissen über die Entwicklung des Lebens, wären dann sozusagen seine Samen, nur als Gedankenspiel natürlich.

Es ist immer alles in allem und in allem kann man sehen, dass das Leben rund ist. Schließt sich ein Kreis, beginnt ein neuer.
Wenn die Menschen also eines Tages alles über das, was sie trägt, wissen, wenn alle Informationen des Organismus, dem sie angehören entschlüsselt wurden, ist das Wachstum beendet. Eine Dekade geht zu Ende und eine neue auf einer höheren Ebene kann beginnen.

Der Samen ist reif und kann wieder neu ausgesät oder auch verspeist werden.

Wozu das alles, dachte ich. Schön und gut. Wenn ein Zeitalter zu Ende gehen sollte und ein neues begann, wo war der Unterschied? Zwischen dem Alten und dem Neuen? Wächst aus dem Sonnenblumenkern eine neue Pflanze, sieht diese doch genauso aus wie die vorhergehende. Oder nicht?
Aber daraus besteht doch die Evolution. Dass etwas Neues entsteht und sich durchsetzt, weil es besser ist wie das, was es schon gibt.
Eine neue Sonnenblume, wie sollte die wohl aussehen?

Die Sonne ist gerade hinter dem Horizont verschwunden. Feuchte Nebel steigen auf und überziehen Gräser und Pflanzen mit einem silbrig schimmernden Netz von abertausenden winzigen Wassertröpfchen. Langsam, ganz langsam beginnt sich unter Steinen, großen Blättern und im Schutz langer Grashalme etwas zu regen. Schwarze glänzende kleine Ungeheuer kriechen im Sekundentakt, eine Schleimspur hinter sich lassend, langsam auf junges, frisches Gemüse, gerade erst geschlüpfte Jungpflanzen und auf eine Sonnenblume zu. Da, die erste Schnecke erreicht endlich ihr Ziel und kriecht, langsam, ganz langsam am schon verholzten dicken Stiel einer Sonnenblume hoch, um sich an frischeren Pflanzenteilen gütlich zu tun. Doch was ist das?
Spinnenartige klebrige Haartentakel beginnen sich über Schleimi langsam, ganz langsam liebevoll sanft in einer zärtlichen Umarmung zu schließen -  um sie nach drei Tagen ausgesaugt und bis auf einen kleinen schwarzen Klumpen verschrumpelt wieder freizugeben.
So eine Sonnenblume braucht viel Energie, um zu wachsen!

Gejagte verspeist Jäger, Licht umarmt Dunkelheit, Liebe verschluckt Hass, das wär’s doch!

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