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Kurzgeschichte zum Thema Verlassenheit

von  RainerMScholz

Die Luft schmeckte nach Eisen, nach Sturmgewitter, die Wipfel der Pappeln schwankten bedrohlich im Wind, die knotigen Stämme knarrten bis tief in die Erde, trockenes Laub wirbelte über die nassglänzende Straße.
Blondes Haar wellte in ihr Gesicht. Paul schlug den Kragen seines Mantels hoch, nahm ihre Hand und führte Sandra, gegen die heftigen Böen gestemmt, zu seinem Wagen.
Salzig. Von der offenen See her. Wie blankes, kühles Metall.
Gegen halb drei Uhr hatte Sandra entschieden, dass, nachdem sie fast vom Hocker gerutscht war, ein Besuch auf der Toilette unabdinglich sei, allein schon, um von ihrem Zustand nach diesen Mengen von Alkohol abzulenken. Sie fühlte sich derangiert, im Spiegel sah ihr geschminktes Gesicht schrecklich verrutscht aus. Sie entschuldigte sich bei Paul mit einem, wie sie es empfand, idiotischen Grinsen und wankte über die Tanzfläche davon. Die Lichter, die Hitze in dem Raum, die fliegenden und zerfließenden Körper und Gesichter verwirrten sie, bis sie schließlich die Toilette fand.
Sandra hatte ihn gar nicht bemerkt, doch plötzlich stand er hinter ihr, hatte sich mit ihr durch die Tür gezwängt, drängte sich an ihren Rücken und schob sie an den anderen weiblichen Besuchern vorüber, die sich frisierten, lackierten und ungezwungen zu unterhalten schienen, schob sie an den anderen scheinbar ungesehen vorbei in eine freie Kabine und verschloss die Tür. Paul drückte sie an sich, versuchte sie zu küssen in wilder Gier. Sein Gewicht ließ sie auf den Toilettensitz gleiten, er schob ihre Beine auseinander, seine Zunge suchte ihren Mund. Überrumpelt, völlig überrascht, und weil sie betrunken war, ließ sie es geschehen für den Moment. Doch als er ihre Bluse aufknöpfte, wehrte sie ihn energisch ab. Nicht hier. Nicht so. Mit hochrotem Kopf flüchtete sie aus dem Waschraum, an den erstaunten und argwöhnisch blickenden Frauen vorüber zurück an die Theke. Sie war zutiefst schockiert, jedoch auch fasziniert von diesem erschreckendem Erlebnis, etwas ganz Neues, Wildes, das sie noch nie erlebt hatte, war in ihr Leben getreten, so schien es ihr. Ein Gefühl tief in ihr verlangte erneut nach dem Geschehenen, ein Getriebensein, das ein so ganz andersartiges Fenster in ihr öffnete. Es hatte sie erregt, bis zu einem gewissen Punkt, und sie empfand Angst und Neugierde zugleich. Nicht hier. Nicht so. Aber irgendwo, irgendwann. Ganz sicher.
Paul war wieder neben ihr aufgetaucht, lächelte ungerührt, gleichzeitig ein wenig schüchtern fast. Er erbot sich, sie nach Hause zu fahren. Um Sandra drehte sich alles.

Jetzt, im Freien, wurde ihr Kopf wieder klarer, und sie fragte sich, worauf sie sich eigentlich einließ. Sie kannte diesen Mann nicht, hatte ihn noch nie gesehen, wusste nichts über ihn. Ein Fremder ging neben ihr. Doch dann erinnerte sie sich wieder an seinen Geruch, so nah an ihr, an seine Hände auf ihrem Körper, fordernd und doch sanft, wissend. Und sein Mund, seine Augen. Seine leuchtenden Augen. Es war berauschend, ein elektrisierendes Prickeln in ihrem Bauch. Schmetterlinge. Der Sturm wehte alles Beunruhigende fort. Silbrig rauschten die hohen Bäume, mächtige Fingerzeige im schwarzen Himmel.

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Kommentare zu diesem Text

MarieM (55)
(05.07.08)
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 RainerMScholz meinte dazu am 06.07.08:
Richtig. Danke. Und auch für die Empfehlungen, Marie.
Grüße,
R.
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