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Kurzgeschichte zum Thema Verlassenheit

von  RainerMScholz

Züngelnde Lichtexplosionen schossen elektrisch aus der schwarzen Verschalung, grelles Scheinwerferlicht blendete ihn hinter der aus schweren samtenen Vorhängen bestehenden Schleuse, als er in den mit zuckenden Leibern bestellten Raum eintrat, bunte Lichtfontänen flackerten über verschwitzte Gesichter, zerrissen Lächeln bleckende rote Lippenpaare loderten in weißen Augäpfeln, huschten über sexdampfende Körper, die sich in der Hitze der Nacht wanden, im Stakkato des Rhythmus´ zu zerbrechen schienen.
Er setzte sich auf einen verchromten Hocker an der verspiegelten Theke und orderte ein Getränk. Und sah zu. Sein Blick wanderte über die Köpfe des illustren Publikums, das sich den Wochenendvergnügungen hingab, letztendlich doch mehr Publikum war, als illuster. Der Barmann in dem weißen Hemd mit der schwarzen Fliege lächelte ihn an. Er sah den schwarzpomadigen Mann an, nippte an dem Glas mit der klarbraunen Flüssigkeit und stellte es zurück auf die blankpolierte Marmorimitatfläche, um sich wieder der Menge zuzuwenden. Es war Samstagnacht. Die Menschen amüsierten sich unter den farbigen Lichtern synthetischer Maschinenmusik und suchten sich im Rausch des bewusstseinsvergessenen Wirbels zu verlieren, verschüttet in der Masse der Ideen, Wünsche und Träume, der unverwirklichten Möglichkeiten. Verloren zwischen all dem Unbekannten.
Oder eine Person, der sie nie zuvor begegnet sind, wird sie finden. In der Masse. Anonym. Ein Fremder. Etwas Fremdes, Eigenartiges. Etwas Unbekanntes.

Ihre schulterlangen blonden Haare wirbelten strähnig in das erhitzte schweißperlige Gesicht, der schlanke Körper dehnte sich geschmeidig, ihre Hände malten unsichtbare Gemälde - als sie seinen Blick auffing. Sie tanzte. Er stand am Rand der Tanzfläche und beobachtete sie. Und nachdem sie ihn einige Male verstohlen aus den Augenwinkeln einer tänzerischen Umdrehung, flüchtig, so gut es eben ging, betrachtet hatte, war offensichtlich, dass, so schien ihr, er nur sie anblickte, anstarrte nahezu, ganz offen, neugierig, ohne Scham oder Verlegenheit, nicht wie die anderen, die in ihren schwülen Autosuggestionen die Finger schon auf ihren Brüsten hatten, ihrem Unterleib, ihrer Haut. Spielerisch schwankte sie in seine Richtung, und beinahe wäre sie gestolpert scheinbar, wenn der Fremde sie nicht um die Taille gefasst hätte, ihren Sturz aufzuhalten.
"Oh, Entschuldigung; ich bin ganz erschöpft von der Tanzerei. Ich glaube, ich brauche dringend etwas zu trinken."
"Vielleicht darf ich dich einladen. An der Bar."
"Ja gerne. Ich hab´ dich aber noch nie gesehen hier."
"Ich bin auch noch nie hier gewesen."
"Ach so, ja. Na dann..."
Während sie die Gläser nahmen, versuchte sie ihn abzuschätzen: Mann Mitte dreißig, dunkelblond, scharfe Züge, die sein Gesicht wiederum auch weich erscheinen ließen, wie das Negativ des originären Bildes, glattrasiert, dunkle Augen, die jetzt traumverloren in den Raum sahen, als blickten sie durch sie hindurch, durchschnittliche Figur, Jeans, schwarzes Hemd. Im Grunde nicht außergewöhnlich. Doch dann sah er sie wieder an. Die Farbe seiner Augen war in diesem Licht nicht zu definieren.
"Ich heiße Sandra. Und du?"
"Paul."
Sie schwiegen sich eine Weile an, kindisch schüchtern irgendwie, dachte sie – die erste Begegnung, das Unbekannte im Anderen, blind tastendes Ausloten des Fremdartigen, Uneigenen. Sandra fühlte sich plötzlich unwohl, wünschte sich zurück zur Anonymität der Tanzfläche, als er das Gespräch von neuem aufnahm.
"Was machst du so, beruflich meine ich?"
Sie lachte albern auf, ein Kichern, das ihr gleich wieder peinlich war.
"Och, nichts besonderes. Ich bin so eine Art Hilfsdozentin an der Uni. Und du?"
"Welcher Fachbereich?"
"Was? Ach so, Germanistik."
"Das ist..."
"Literatur und so. Literaturwissenschaft. Ist nur eine Halbtagsstelle. Nebenbei mache ich noch Schreibarbeiten - du weißt schon. Alle Germanisten haben irgendwo ein unvollendetes Manuskript in der Schublade, das nie jemand lesen wird.
Und was ist mit dir?"
"Versicherung. Ich stelle Policen aus."
"Das ist auch sehr interessant, äh ja?"
"Manche Kunden schon. Bei großen Abschlüssen vielleicht, die ein Leben lang halten. Aber sprechen wir von etwas anderem."
"Ja, ist schließlich Wochenende. Trinken wir noch etwas?"
Paul lächelte und strich sich die Augenbrauen mit Daumen und Zeigefinger glatt, eine Geste, die sie als liebenswürdige Angewohnheit schon zur Kenntnis genommen hatte. Sie strich sich die Haare aus der Stirn und bestellte zwei Wodka Gimlet. Im Spiegel hinter der Bar sah sie zwei Menschen, die ihr völlig fremd vorkamen, das Blitzen der Lichter blendete sie. Überrascht schaute sie den Mann neben sich an, der im Spiegel für einen kurzen Moment ganz anders ausgesehen hatte. Die andere Person war sie gewesen.
Paul lächelte, und voller Konfusion hob sie das Glas gegen seines, um mit ihm anzustoßen.

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Kommentare zu diesem Text

MarieM (55)
(05.07.08)
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