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Kurzgeschichte zum Thema Verlassenheit

von  RainerMScholz

"Soll ich dich zur Tür bringen?"
"Nein, das Haus schläft schon. Wirst du den Weg finden?"
"Ja. Ich werde dich vermissen."
"Wirklich?"
"Nein."
"Oh, du Teufel!"
Er lachte, Zigarettenrauch quoll zwischen seinen Lippen hervor.

Sandra schloss die Haustüre hinter sich und lehnte sich benommen gegen das kühle Holz des Rahmens, lauschte, ob die Bewohner erwacht seien. Sie spähte durch das Sichtfenster der Tür, doch Pauls Wagen war bereits verschwunden. Sie hatte ihn gar nicht gehört, fast als sei er nie da gewesen. Sandra fasste mit der linken Hand zwischen ihre Beine.

Die Tage vergingen, Sandra verbrachte die Zeit mit Schreibarbeiten, doch sie hatte Mühe, sich auf nur einen vernünftigen Satz zu konzentrieren. Ihre Gedanken schweiften ab, wanderten ziellos scheinbar, um dann doch in einem einzigen zu münden: der Gedanke an den Mann, der ihr in dieser Nacht begegnet war. Um wieder zurückzukehren aus diesem Traumgespinst, machte sie sich bewusst, dass sie so gut wie nichts wusste über Paul, fragte sich, ob es klug sei, ihn noch einmal zu treffen oder überhaupt eine ernstere Angelegenheit daraus machen zu wollen. Vielleicht war sein Interesse an ihr ohnehin nur flüchtiger Art gewesen und sie musste sich mit der Erinnerung an ein kurzes Abenteuer auf dem Rücksitz eines Autos zufriedengeben. Dann wieder durchlief ein Verlangen ihren Körper, das sie so nie zuvor kennengelernt hatte.
Und noch etwas anderes war geschehen: sie träumte von ihm. Wilde Träume voller Lust und Begierde, Träume, die ihr selbst ungeheuer wurden, in denen Paul auf eine herrische und nahezu gnadenlose Weise von ihr und ihrem Körper Besitz ergriff, sich ihrer bemächtigte, sie dazu trieb, ganz in ihm aufzugehen. Verlieren in seinem Fleisch, in seinem Wesen. Das waren ihre Träume, an die sie sich bei Tage erinnerte.
Das Telefon klingelte, Sandra nahm den Hörer ab und meldete sich. Graue Wolken zogen über den verschlossenen Himmel. Die dürren, entlaubten Bäume vor dem Fenster standen unbeeindruckt, starr, ihre knotige schwarze Rinde schimmerte stumpf taubenetzt.
Sandra beschloss, den Rest des Tages freizunehmen.

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