9
 Inhalt 
11 
 9
11 

10

Kurzgeschichte zum Thema Verlassenheit

von  RainerMScholz

In unablässiger, ewiger thermonuklearer Implosion starrt eine kalte Sonne über blaues Firmament. Trockenes, brüchiges Laub fällt von den dürren schwarzen Ästen knotiger Bäume und verrottet auf der harten Erde. Die Wege liegen verlassen, Windböen fegen Regenschauer an rotberingte Leuchttürme, eingeigelte Dörfer liegen wie unter Belagerung gegen die feindselige Erde auf der Lauer. Das Land schläft traumtrunken, bewusstlos, schwer gegen den Himmel.
Heiser schreien die Krähen von Giebeln und Dächern, Stromleitungen hängen dräuend beladen. Die Zeit verrinnt still, farblos, träge. Der Wechsel von Tag und Nacht vollzog sich ohne benennbaren Unterschied, lautlos schleichend, unmerklich.

Ein Essen mit ihrer Freundin Anette glitt wie ein verlorener Gedanke an Sandra vorüber. Sie piekte mit einem Zahnstocher im tropfenden Wachs der flackernden Kerze. Anette legte die Gabel auf den Teller mit den Überresten ihrer Calamares und trank einen Schluck Weißwein.
"Ist was?"
"Was, nein, wieso?"
"Du bist so still. In Gedanken ganz woanders."
"Nein. Es ist nur -"
"Was denn? Nein, doch kein Neuer, oder?"
Sandra lächelte verhalten, fühlte sich ertappt und zu leicht zu durchschauen. Blödsinnig.
"Nun, ich denke schon, Anette."
"Im Ernst?! Wer ist es. Wer ist es?"
"Du kennst ihn nicht."

Heftiger Sturm peitscht über die Landstraße. Scheinwerfer zerschneiden das sternlose Dunkel. Der weiße Mercedes Baujahr 70 rast mit hoher Geschwindigkeit in das Pechschwarz, einem unbekannten Ziel entgegen. Zergliederte Schatten hasten links und rechts vorüber, zermahlen in der sirrenden Drehzahl des Motors, ein brodelndes, gewalttätiges Crescendo im gemarterten Asphalt.
In der Ferne taucht ein zweites Scheinwerferpaar auf, die Hügel hinauf schneidet das Licht Bahnen in den Himmel. Jetzt kreuzen sich die Lichtstreifen bereits und die Entscheidung wird bald fallen müssen.
Er wechselt auf die linke Fahrspur, ohne die Geschwindigkeit zu drosseln. Es ist ein mörderische Rennen gegen die Zeit, und nur einer der beiden Teilnehmer ist sich bewusst, dass es sich um das Letzte dreht, um letzte Dinge, dass es überhaupt ein Rennen ist, dass er Kombattant ist. Ein Loslassen. Von allem. Eine Zerreißung.
Beide Fahrer sind geblendet durch das Licht der Fernscheinwerfer. Das dunkle Äußere - es wird zum Dunkel im Innern. Die Iris verengt sich
in einer Zehntelsekunde. Schneller immer schneller. Und dunkler.
Dann gibt es nur noch ein Licht. Zwei Streifen in den Himmel und eine Lichtquelle, die sich kometengleich in der Wirrnis des Schwarz verliert. Die Fahrt in der Einsamkeit der Nacht setzt sich fort.

„Er heißt Paul.“

 9
 Inhalt 
11 
 9
11 
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram