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Kurzgeschichte zum Thema Verlassenheit

von  RainerMScholz

Wenn sie mit Paul zusammen ist, erscheinen ihr alle Farben anders. Das Blau des Sees ist nicht einfach nur ein Blau. Das Wasser scheint zu strahlen und zu schimmern, und obwohl die Sonne nicht schien, hatte Sandra den Eindruck, als glitzerte der See aus dem Herzen seiner Tiefen. Das Blau hypnotisiert sie, saugt ihre Gedanken auf wie das Pochen eines unmöglichen Zentripetuums; hinterließ eine leere Puppe, ein besinnungsloses Klaffen - bis Sandra zusammenzuckte, weil der Wind die Zeitungsblätter rascheln ließ. Es war unheimlich, dieses Blau des Sees, welches nunmehr einem von Böen gekräuselten Grau gewichen war. Sandra fröstelte und zog sich die Strickjacke über die Schultern. Paul schlief neben ihr auf der Decke, die sie über das störrische Gras gebreitet hatten. Sie widmete sich wieder ihrer Lektüre. Die Schlagzeilen brachten die üblichen Meldungen über Krieg, Wahnsinn und Aktienkurse, Sandra blätterte zum Lokalteil. Zwischen einer Werbeanzeige für günstige Baudarlehen der Raiffeisenbanken und der Seite für Kurioses aus aller Welt stieß sie auf die Todesanzeigen: Wir bedauern zutiefst. Frühes Ableben. Die Eltern, Schwestern und Tanten.
"Oh Gott, das kann doch nicht sein."
"Wer ist denn gestorben.", fragte Paul mit geschlossenen Augen. Weiße Zirruswolken zogen leise wispernd über den Himmel. Als hätte er gar nicht geschlafen.
"Maikel ist tot. Maikel ist gestorben. Das kann doch nicht sein."
"Welcher Maikel?", öffnete die Augen und sah in den Himmel, lässt das Blau durch seine Pupillen fließen.
"Du hast ihn im 'Zitronenfalter' gesehen. Mein Ex-Freund."
Die Zeitungsseiten zitterten in ihren Händen.
"Mein Gott. Das kann doch nicht sein."
"Ja, ich erinnere mich."
Paul richtet sich auf und sieht in ihr Gesicht.
"Und der ist tot?"
Er nimmt sie in den Arm.
"Das ist ja schrecklich. Aber er war ein Arschloch, oder?"
"Ja schon, aber einfach zu sterben."
"Du musst nicht traurig sein, Sandra."
Er legt die Zeitung zur Seite und streichelt ihren Arm. Den Kopf auf ihrer Schulter beobachtet er ein Pärchen, das weit entfernt auf der anderen Seite des Sees vorübergeht.
"Wir haben doch uns."
Sandra wischt die Tränen mit dem Handrücken fort, nimmt schluchzend einen tiefen Atemzug und umarmt ihn.
Frierend ziehen die Wolken über dunkle Seen ein Leintuch aus Blau.

Zeit. Die Zeit heilt alle Wunden. Die Zeit reißt alle Wunden auf: zerfleischt den Geist, entstellt den Körper, gibt die Wesen dem Verfall preis. Bis das Nichts bleibt und die Stunden, Minuten und Sekunden keine Bedeutung mehr haben. Die Jahre. Das Gewesene oder die Möglichkeit eines zu Seienden. Jahre, wie im Reißwolf geschredderte leere Seiten: ereignislos, grau und müde. Die Zeit nimmt, sie gibt nicht. Augenblicke verstreichen von konfirmandenblau zu ultramarin zu tiefschwarz. Am Ende einer lächerlich geringen Lebensspanne ist nichts geblieben, das Dauer besäße, Ewigkeit oder nur Stringenz, nichts ist. Nichts als die beißende Kälte eines Ozonnebels am Rande des mahlenden Universums.
Das blanke Entsetzen ob solcher Nichtigkeit. Ist alles.
Zeit. Die Zeit heilt alle Wunden.

"Ich habe doch nur dich."
"Ja."
"Ich liebe dich so sehr."
"Ja, ich liebe dich auch."
"Schwörst du's?"
"Ja, ich schwöre."

Die hohen Wipfel der Pappeln wiegen sich silbrig im Wind, der von der See über die wissende Erde streicht.
Brenne es ab!

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