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Kurzgeschichte zum Thema Verlassenheit

von  RainerMScholz

Um elf Uhr ist sie mit Paul vor der Kirche verabredet. Aber auch das schien nun kein Trost mehr zu sein. Er ist der einzige Mensch, der ihr geblieben war. Jetzt war er der Einzige. Das hatte sie sich immer gewünscht, dachte sie.
Das Grasland singt unter den sichelnden Windkaskaden der nie verebbenden Stürme, blassgrün liegen die vernarbten Hügel; die Dünen schaufeln den Sand durch die unermesslichen stellaren Uhren, in denen die Zeit verrinnt ins Nichts blanker Seen, in den Raum zwischen den Sternen, den niemand je durchschritten hat, um davon zu berichten. Der am Rand steht und hinabblickt in die Tiefe, die schreit und kreischt und brüllt in ihrem unauslotbaren Schwarz. Der sich dem Strudel überantwortet, in ihm verlorengeht, in seiner wilden Grausamkeit und allesverschlingenden Gier, seinem Hunger nach Leben und Sehnsucht und ungelebten Träumen -, der wird wanken, wird zerstieben im Tosen und Schäumen und stürzen in dieses bodenlose Loch der Verzweiflung. Wird ewig fallen. Und sterben in Ungewissheit. Wird wie Treibholz durch die blutende Welt hindurchfallen und verloren sein.
Denn wer sehen kann, wird die Nacht sehen. Seine Ohren hören das Brüllen des rasenden Tieres, das sich vor Schmerzen windet.
Und doch ist es nur die spiegelnde Oberfläche eines Sees, die ein Bild reflektiert: Wenn wir hineinsehen, glauben wir uns selbst zu erkennen, und doch ist es nur...das blanke Onyx der Nacht, in dem wir verloren gehen. Es war nichts. Nur ein kurzer Augenblick, ein Lidschlag. Nur der Gedanke eines flüchtigen Moments. Es war niemand. Die Verlorenheit auf dem Spiegel einer schwarzen Pupille, die sich in der gleißenden Helle des Tageslichts reflexartig verengt im Bruchteil einer Sekunde. Wie das Auftauchen eines unbekannten fremdartigen Wesens an die Oberfläche eines blanken Sees.

Nur die konzentrischen Kreise lassen erahnen, dass dort je etwas war.

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