Die Vorgaben

Erzählung zum Thema Trauma

von  ManMan

I.
Es war noch immer heiß, obwohl der Nachmittag bereits in den Abend überging. Manuela hatte das Schiebedach des alten Audi geöffnet, aber viel angenehmer wurde das Autofahren dadurch nicht.
Im Hof war ein großer Parkplatz mit Schranke. Einer, die unversehens zu sein konnte, wenn man sein Auto ohne Berechtigung hier abstellte. Seit der Hausmeister das mehrmals praktiziert hatte, waren immer ausreichend Stellplätze für die Besucher der katholischen Josefsgemeinde frei.
Manuela nahm ihre neue Handtasche aus schwarzem Nappaleder vom Beifahrersitz, öffnete sie nervös, warf einen Blick hinein und schloss sie gleich wieder mit einem tiefen Seufzer. Seit vier Tagen rauchte sie nicht mehr, aber der Griff zur Zigarette war ein Ritual, das sie allzu lange eingeübt hatte.
Vor dem altehrwürdigen Gebäude stand eine kleine Frau mittleren Alters mit langen, hinten zusammengebundenen schwarzen Haaren.. „Hallo Yelda!“ rief  Manuela ihr schon von weitem zu und winkte. Die Kurdin kam häufig, wenn die Asylgruppe tagte, schon seit  Jahren, denn ihr Status in Deutschland war unsicher. Manuela sah es an Yeldas Gesichtsausdruck, wenn es Probleme gab.  „Was ist los?“ fragte sie. Wortlos gab die Kurdin ihr ein Schriftstück. Manuela sah, dass es von der Ausländerbehörde war. „Gleich!“ sagte sie und steckte es in ihre Handtasche. „Wo ist Baran?“
„Bald kommen. Kaufen Tabak mit Dilan.“
Manuela musste sich zusammenreißen bei dem Gedanken an eine Zigarette. Rasch öffnete sie ihre Handtasche und holte ein schmales Päckchen Kaugummi heraus. „Möchtest du auch eines?“ Yelda nickte.
„Jonas heute nix da?“ fragte sie. „Doch, er wird kommen,“ meinte Manuela und strich ihr braunes Haar aus dem Gesicht. „Ich habe heute mittag mit ihm telefoniert.“
Die Kirchturmuhr schlug sieben. Als ihre Töne verklungen waren, setzte das abendliche Geläut von der Josefskirche ein.

Jonas war Pastoralreferent. Neben seiner Tätigkeit für die Gemeinde  unterrichtete er sechs Wochenstunden im Fach Religion an der Gesamtschule. Aber sowohl in der Gemeinde als auch in der Schule gab es einen hohen Ausländeranteil, und so war es in den letzten Jahren dazu gekommen, dass die Betreuung von Migranten und Flüchtlingen immer wichtiger wurde. Vor allem in den Kirchen war die Empörung über die Art, wie das offizielle Deutschland mit Flüchtlingen umging, verbreitet. Diesen Umstand machte sich der junge Pastoralreferent zunutze. Er half, wo er konnte. Gleichzeitig verstand er es, mit den Behörden zu verhandeln, und weil er als Mann der Kirche dort Respekt genoss, setzte er bisweilen durch, was anderen versagt blieb. Jonas war es auch, der zusammen mit Manuela die Asylgruppe ins Leben gerufen hatte, die sich nun schon seit vier Jahren regelmäßig jeden Dienstagabend um 19 Uhr traf.
An einem solchen Dienstag war auch Baran bei ihnen erschienen. Jonas sah sich genötigt, mit ihm einen Fragenkatalog durchzugehen, um die Glaubwürdigkeit zu überprüfen. Danach glaubte er ihm die Angaben zur Folter, auch wenn er nicht bereit war, in Details zu gehen. Dafür war es zu belastend

Auch Heinz  war heute abend gekommen, wenngleich mit Verspätung. Er arbeitete an der örtlichen Volkshochschule, wo er Deutschkurse für Ausländer und Türkischkurse gab.
Zwar war das Interesse an den Türkischkursen gering, aber es kamen doch immer so viele, vor allem solche mit türkisch sprechenden Männern oder Frauen als Partner, dass es ausreichte, um den Kurs durchführen zu können.
Heinz  war in den letzten Tagen aus seiner alten Wohnung am Stadtrand in eine neue Wohnung in der Altstadt gezogen. Ob er schon mit dem Umzug fertig sei, wollte Jonas wissen. Heinz bestätigte es. Jonas spürte, dass er in gereizter Stimmung war und beschloss deshalb, keine weiteren Fragen zu stellen.
Wer den Moderator machen wolle? Er blickte in die Runde.
„Mach du nur,“ meinte Manuela, und die anderen nickten. Baran und Dilan waren inzwischen auch gekommen, außerdem einige jüngere Asylbewrber, die aber wohl kein akutes Problem hatten. 
Dilan saß abseits von Yelda und Baran, als wolle er sich bewusst von seinen Eltern distanzieren. Jonas fand das nicht weiter verwunderlich, sondern hielt es für eher normal in seinem Alter. Er war zufrieden damit, wie sich Dilan entwickelte. Vor einigen Wochen hatte er, allen schlechten Prognosen zum Trotz, den Hauptschulabschluss geschafft. Und aus der Drogenszene, die sich nachmittags vor dem örtlichen Einkaufszentrum traf, hatte er sich offenbar auch zurückgezogen. Ob eine Freundin dahinter steckte?
Heinz meldete sich zu Wort. „ Nächsten Samstag tagt der Flüchtlingsrat in Hanau. Fährt von uns jemand hin?“  Zwei junge Frauen aus dem Kosovo erklärten sich bereit.
Der nächste Punkt betraf die Forderung eines Rechtsanwalts an einen Flüchtling aus Afrika. Jonas wollte bei der Kirche nachfragen.
Schließlich kündete Heinz einen neuen Kurs „Deutsch für Ausländer“ an.
„Ihr könnt allen, die ihr kennt, sagen, sie sollen sich bei mir melden.“ Er blickte Jonas an. „Sonst haben wir heute eigentlich nichts zu besprechen,“ meinte er, „jedenfalls nicht öffentlich.“.
„Okay, okay,“ meinte Tarik, erhob sich und winkte den anderen zu, das Gleiche zu tun. „Wir gehen ja schon, Alter.“
So geschah es. Als die anderen gegangen waren, befanden sich außer den drei kurdischen Flüchtlingen nur noch Jonas, Heinz und Manuela im Raum.
Diese zog das Schreiben, das Yelda ihr mitgegeben hatte, aus der Tasche. „Es ist das, was wir erwartet haben,“ sagte sie. „Herr Schmidt von der Ausländerbehörde fordert Baran auf, bis nächste Woche bekannt zu geben, ob er mit Familie freiwillig ausreist. Wenn nicht, werden sie abgeschoben...“
„Warum erhalte ich kein Bleiberecht?“ fragte Dilan empört.  „Ich bin hier geboren, ich will nicht in die Türkei. Ich kenne dort niemanden.“
Jonas schaltete sich ein. „Ich habe gestern mit Schmidt telefoniert. Er sagte, seine Geduld sei am Ende. Ich habe ihm noch einmal gesagt, dass Baran sehr krank ist, dass die psychiatrische Station, auf der er in den letzten Wochen war, in der ‚fachpsychiatrischen Bescheinigung’ geschrieben hat, dass große Gefahr besteht, dass Baran sich umbringt, wenn er wieder in das Land kommt, wo er gefoltert wurde. Eben die Retraumatisierung. Aber Schmidt sagt, das Bundesamt mache ihm Vorgaben, hinter die er nicht zurück könne.“
„Vorgaben! Vorgaben!“ meinte Heinz verächtlich. „Als ob er nur macht, was ihm vorgegeben wird. Er ist Behördenleiter, er hat doch Spielraum!“
„Mit den Vorgaben meint Schmidt, dass Baran sich auch in der Türkei psychiatrisch behandeln lassen kann.“
„Hast du mit ihm einen Termin ausgemacht? Wir müssten dringend mit ihm sprechen,“ sagte Manuela.
Jonas nickte. „Ja, wir sollen Freitag vormittags bei ihm vorbeischauen. Dann will er mit uns überlegen, was man noch machen kann.“ Er sah Manuela fragend an: „Hast du Zeit?“ Sie nickte. „Baran, kommst du auch mit?“ Dieser nickte ebenfalls. Heinz hatte freitags einen Kurs. „Ruft ihr mich nach dem Gespräch an?“ fragte er. Jonas sicherte es ihm zu.

II.
Am Freitagmorgen war es nicht so heiß, aber angenehm. Manuela hatte sich entschlossen, mit dem Bus in die Innenstadt zu fahren. Am Rande der Fußgängerzone stieg sie aus und ging erst einmal zum Friseur. Früher hatte sie die Haare lang getragen, aber seit drei Monaten hatte sie einen neuen Haarschnitt. Ihre Haare reichten nur noch bis kurz über die Ohren und waren auch hinten kurz. Vorne hatte sie einen Pony, der ihr ein braves Aussehen gegeben hätte, wären da nicht die übrigen Haare gewesen, die bewusst einen ungekämmten Eindruck vermittelten.
Nach einer halben Stunde waren die Haare geschnitten. Wieder einmal ärgerte sich Manuela, dass sie fast acht Euro mehr zahlen musste als ein Mann, obwohl der Haarschnitt gewiss nicht mehr Arbeit für die Friseurin bedeutete.
Während sie durch die Fußgängerzone schlenderte, betrachtete sie die vielen sorgfältig renovierten Fachwerkhäuser, von denen es in dieser Stadt so viele gab. Sie erzeugten jedes Mal ein Gefühl von Vertrautheit bei ihr. Bei Dilan dürfte es ähnlich sein, dachte sie. Er war hier geboren und aufgewachsen. Sie seufzte.
Dann steuerte sie das nächste Straßencafé an. Sie hatte noch genügend Zeit, um einen Kaffee zu trinken, bevor sie zum Pfarramt ging, wo sie mit Jonas und Baran verabredet war. Während sie den Kaffee trank, beobachtete sie zwei junge Frauen, die am Nebentisch saßen und sich angeregt unterhielten. Beide trugen luftige Kleider, und das machte sie jetzt doch ein wenig neidisch. Aber heute in der Früh hatte sie lieber eine Hose anziehen wollen, denn die übrigen Tage der Woche arbeitete sie als Sekretärin in einem Altenzentrum, und dort erwartete man, dass sie in einem konservativen Kostüm erschien. Na ja, sie hatte auch weniger konservative Kleider, das wäre jetzt passend gewesen... Aber kaum gedacht verwarf sie den Gedanken schon wieder, denn ihr fiel ein, dass sie ja zu Herrn Schmidt von der Ausländerbehörde fahren wollten, und da war es schon besser, wenn sie keine auffallende Kleidung trug.
Als sie zum Pfarrhaus kam, warteten Jonas und Baran bereits auf sie.
„Hast du mit Herrn Schmidt telefoniert?“ fragte Manuela Jonas. Der nickte. „Ja, er hat gesagt, wir könnten kommen.“
Es war ein Nebeneingang. Sie mussten eine Treppe hoch und schellten dann an einer unscheinbaren Tür. Nichts deutete darauf hin, dass hier die Ausländerbehörde residierte. Doch Jonas kannte den Eingang.
Eine junge Frau öffnete. Als sie hörte, dass sie zu Herrn Schmidt wollten, sagte sie: „Einen Augenblick, bitte!“ und schloss die Tür wieder. Nach einer Weile wurde sie erneut geöffnet, und ein schlanker Mann mittleren Alters von mittlerer Größe mit kurzen, angegrauten Haaren bat sie herein. Auf seinem Schreibtisch sah Manuela gleich einen Kugelschreiber, an dem mit Draht mehrere rote Herzchen befestigt waren.
„Von Ihrer Tochter?“ fragte sie. Herr Schmid lächelte und nickte. „Wie alt ist sie?“ wollte Manuela wissen. „Zehn Jahre,“ sagte Herr Schmidt freundlich. Manuela dachte, was dieser nette Beamte wohl sagen würde, wenn er mit seiner Tochter dieses Land auf einmal verlassen müsste. Hatte es schließlich alles schon gegeben in Deutschland.
Jonas holte aus dem Nebenraum einen dritten Stuhl. Er überließ Manuela die Eröffnung des Gesprächs. Sie stellte sich noch einmal bewusst förmlich als Bezirksreferentin einer Menschenrechtsorganisation  vor, aber das schien auf Herrn Schmidt keinen besonderen Eindruck zu machen.  Ja, natürlich sehe er die menschliche Tragik, begann er, aber es gebe eindeutige Vorgaben vom Bundesamt, und die müsse er beachten.
Welche Vorgaben er denn meine? fragte Manuela unschuldig.
„Die Vorgabe, dass der Standard in der Türkei inzwischen so weit ist, dass Rückkehrer dort eine angemessene psychiatrische Behandlung erhalten.“
Jonas sah das anders. „Davon kann keine Rede sein, das wissen Sie so gut wie ich.“
„Vielleicht haben Sie recht,“ gab sich Herr Schmidt konziliant, „aber wenn die Gerichte es so sehen, können wir wenig dagegen ausrichten.“
„In der fachpsychiatrischen Bescheinigung steht, dass akute Suizidgefahr besteht. Vielleicht kommt es gar nicht erst zu einer Behandlung in der Türkei. Wollen Sie das verantworten?“ Jonas war erregt, und Manuela füchtete, dass er seinen Gleichmut verlieren könnte.
Tatsächlich, Herr Schmidt schien sich über diese Aussage zu ärgern. „Wenn es so ist, wie Sie sagen,“ meinte er langsam, und seine Stimme hatte auf einmal einen harten Klang, „dann müsste ich ihn hier auf der Stelle in Gewahrsam nehmen lassen. Dann kommt er ein paar Tage in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie, und dann wird er in die Türkei abgeschoben.“
Eine erschrockene Stille folgte auf seine Worte.
„Haben Sie nicht in dem Gutachten gelesen, dass der zwangsweise Aufenthalt auf einer geschlossenen Station die Gefahr einer Retraumatisierung zur Folge haben würde?“ fragte Manuela leise.
„Da gilt es eben abzuwägen, welche Gefahr größer ist,“ antwortete der Beamte.
„Sehen Sie ihn doch an, Herr Schmidt!“ meinte Jonas und wies auf Baran, der die ganze Zeit über still dabeigesessen hatte, als ginge es gar nicht um ihn, sondern um jemand anderen.
„Was würde es denn ändern, wenn ich ihm erneut für ein paar Monate eine Duldung gebe?“ fragte Herr Schmidt auf einmal, und Manuela und Jonas horchten auf.
„Die Rechtsanwältin hat gegen die letzte Entscheidung des Verwaltungsgerichts Klage eingereicht,“ sagte Jonas. „Vielleicht gibt es ja diesmal eine positive Entscheidung.“
„Sie wissen, dass wir im anderen Fall wieder hier zusammensitzen werden und vor dem gleichen Problem stehen, nicht wahr?“
„Das liegt daran, dass das Problem da ist, ein ungelöstes Problem,“ sagte Manuela.
„Wir haben ja eine Lösung. Er wird abgeschoben, und seine gesundheitliche Betreuung liegt dann in der Verantwortung des türkischen Staates.“
Jonas atmete hörbar aus. Baran saß mit versteinertem Gesicht da. Manuela schaute finster drein. Eine Weile sagte keiner etwas. Dann wandte sich Herr Schmidt an Manuela. „Ich werde beim Verwaltungsgericht anrufen, ob es bereits einen Termin für die Verhandlung gibt.“ Er tippte die Rufnummer ein und wartete.
Jonas und Manuela hörten gespannt zu. Es geht imer nur um kleine Schritte, fuhr es Manuela durch den Kopf. Damit muss man wohl oder übel zufrieden sein.
Es stellte sich heraus, dass die Akte zum Fünfzehnten des Folgemonats zur Wiedervorlage vorgesehen war. Dann würde der Termin bestimmt.
Herr Schmidt sagte: „Es wird dann wohl bald zum Prozess kommen. Gut, bis dahin können wir warten!“
Als sie das Amt verließen und in Jonas’ Auto stiegen, machte Baran nach wie vor einen sehr niedergeschlagenen Eindruck.
Manuela wandte sich an ihn: „Hast du alles verstanden? Dass du eine Duldung bekommst, bis der Prozess entschieden ist?“
Baran nickte, aber sein Gesicht hellte sich nicht auf.
Als sie ein Stück gefahren waren, meinte Jonas zu Baran, der hinten im Auto saß: „Wenigstens braucht ihr in den nächsten Wochen keine Angst zu haben, dass sie euch aus den Betten holen.“
„Ja,“ bestätigte Baran, „das gut...“
„Aber?“ fragte Manuela.
Nach einer Weile meinte Baran: „Aber ich trotzdem viel Angst haben.“

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Kommentare zu diesem Text

Caterina (46)
(02.08.08)
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 ManMan meinte dazu am 02.08.08:
Liebe Bettina,
kürzen tut bestimmt auch diesem Text gut. Darum werde ich es tun.Die Vorgeschichte hineinbringen? Mal sehen. Was die Vorgaben des Bundesamtes angeht: Natürlich ist alles nachvollziehbar, korrekt und und und... Aber das ist nicht mein Problem als Autor. Sondern: Gibt es da eine menschliche Problematik, der wir uns nicht verschließen dürfen? Sind nette Menschen, die eine Abschiebung organisieren, nicht schuldige Menschen? Hat dieser Mensch nicht eine Wahl? Es ist ja nicht das Problem, was er stattdessen machen könnte. Wenn er nur ein unschuldiges Rädchen in der Maschinerie ist, der nach seinen Vorgaben handelt -lohnt es sich etwa nicht, das zu problematisieren? . Danke für deinen Kommentar. LG Manfred.
(Antwort korrigiert am 02.08.2008)
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