Gregorius der Weise

Satire zum Thema Allzu Menschliches

von  autoralexanderschwarz

„Es ist nicht so, dass dieses Stück die Welt enttäuscht hätte“,
dachte Gregorius während er in die Flammen blickte,
„es war die Welt, die dieses Stück enttäuscht hat und was ist es noch wert darüber zu trauern?“
Die Stille um ihn herum bekräftigte diesen Gedanken.
„Es ist den Erwartungen nicht gerecht geworden, die man in es gesetzt hat
Und doch ist es keine Enttäuschung, mehr eine Bestätigung dessen, was man tut, was man fühlt.
„Nehmen Sie es nicht so schwer“,
rief der Polizeichef unschlüssig hinüber, wobei man ihm anmerkte,
dass er sehr darum bemüht war, dass man seine Worte nicht als Trost auslegen konnte.
„Ein wenig mehr Wärme in der Welt.“
Er wollte darauf nicht antworten.
Ein Lakai drängte ihn ein Stück zurück und stieß den Gluthaken heftig zwischen die aufspringenden Funken, um dann, als das Manuskript ein letztes Mal aufglühte,
mit ruhiger Sorgfalt die letzten Rußflocken in die Mitte zu schieben,
die ein Stück weit vor dem Inferno geflüchtet waren.
„Aber es war doch so friedlich“, rief Gregorius, der nun doch ein wenig den Schmerz des Abschieds in sich fühlte.
„Mitnichten war es revolutionär.“
Die Herren von der Presse traten vor und hielten das Geschehen aus den möglichen Blickwinkeln fest, doch er wusste, dass auch diese Fotos brennen würden, an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit.
Gregorius bemerkte, wie er sich langsam ins ich selbst zurückzog, einen privaten Ort suchte, an dem die Trauer für ein paar Momente erlaubt war.
Der Polizeichef trat an die kleine Bar und bediente sich wie selbstverständlich an dem alten Scotch, dann machte er auch die Presseleute auf das Getränk aufmerksam und einvernehmlich stießen sie miteinander an, während der Lakai gierig zu ihnen hinüber schielte.
„Sie nehmen es doch nicht so genau“, sicherte er sich noch in die Richtung von Gregorius ab,
doch dieser hörte ihn gar nicht.
Gregorius dachte an seine alte Mutter, die zufrieden lächelnd über ihren senilen Verstand nebenan in ihrem Bett lag.
Zu einer anderen Zeit wäre er wohl noch entrüstet gewesen, aber der Verrat wog so schwer, dass er sich langsam an ihn gewöhnte.
Atlas hatte die Welt getragen, was waren da ein paar verbrannte Gedanken und die Illusion von Frieden.
Langsam lichtete sich der Saal und all die verhassten menschlichen Körper kehrten wieder dorthin zurück, woher sie gekommen waren.
Bevor der Polizeichef ging, blickte er ihm noch ein letztes Mal ernst in die Augen, dann zog er den schweren Revolver aus dem Halfter und legte es auf eine der Häkeldecken, die seine Mutter zeitlebens in der Wohnung verteilt hatte, als sie sich noch bewegen konnte.
„Sie wissen wohl was zu tun ist“, sagte er barsch wobei man ihm merkte, dass er seine Worte weder als Abschied, noch als Zuspruch verstanden sehen wollte.
Kurz darauf war es still, einsam und verlassen lag das Wohnzimmer vor ihm, so als wäre alles Spuk und nichts als Einbildung gewesen.
Gregorius zögerte wohl einige Momente, dann hob er die Waffe und presste sie sich an die Schläfe. Kalt fühlte sich der Lauf an, irgendwie beruhigend.
*
Man fand die Leiche erst in den frühen Morgenstunden. Ein Jogger war auf den toten Körper aufmerksam geworden, der genau an dem Baum hing, an dem er sonst seine Dehnübungen ausgeführt hatte. Zuerst hatte er noch gedacht, dass ihm da jemand einen Streich spielte, doch nachdem er einige Male den starren Leib angestoßen hatte, war er sich sicher gewesen, dass da etwas nicht stimmte. Unförmig hing der Polizeichef über dem, was sich zum Zeitpunkt des Todes noch in seinem Darm befunden hatte. Auf seiner mehr als breiten Brust hatte jemand einen Zettel angesteckt, auf den mit großen Lettern „Ihr seid frei“ geschrieben stand. Rasch hatte sich ein kleiner Auflauf in dem Wäldchen gebildet und der Lakai wartete noch, bis die Fotographen das Geschehen festgehalten hatten, bevor er den Polizeichef von dem Ast schnitt. Fast wirkte er friedlich mit seinen gescheitelten Haaren und wäre die Situation nicht so ernst gewesen, wäre bestimmte jemand auf die Idee gekommen aus einem schlechten Spott heraus seine Hände über der Uniformjacke zu falten. Nur in den geöffneten Augen glomm befriedetes Entsetzen.
*
„Es steht außer Frage, dass es der Jude war“, rief der Inspektor in eines der vielen Mikrofone, welche die Presse auf dem Marktplatz aufgebaut hatte.
„Niemand sonst versündigt sich so grausam gegen Recht und Anstand und die Moral.“
Eifrig nickend notierten die Lakaien jedes Wort, wobei man sie schon von weitem an ihrer gebückten Haltung erkennen konnte.
„Und da wir hier in unserem kleinen Städtchen ja nur einen Juden haben, ist bereits ein Verdächtiger festgenommen, der in den nächsten Stunden ein Geständnis unterschreiben wird.
Da dies ein größerer Fall war und somit nicht nur die ortsansässige Presse, sondern sogar einige Herren aus der Hauptstadt vertreten waren, sah sich der Bürgermeister genötigt vorzutreten und einige ergänzende Worte hinzuzufügen.
„Es ist natürlich nicht so, dass wir nicht noch andere Beweise hätten“,
fügte er hinzu, nachdem er sich einen Großteil der Aufmerksamkeit gesichert hatte.
„Jener Jude von dem der Her Inspektor sprach ist bereits in den vergangenen Wochen vorbestraft worden, weil wir es für erwiesen halten, dass er den Brunnen auf dem Kirchplatz vergiftet hat. Dem glücklichen Umstand, dass niemals jemand aus dem Brunnen trinkt verdanken wir es, dass nicht noch mehr unschuldige Menschen gestorben sind.“
Er lächelte noch einige Male für die Fotografen, dann überließ er dem Inspektor das Wort.
„Zusätzlich kommt belastend hinzu,“ sagte der Inspektor und er dehnte seine Worte in die Länge, damit die Lakaien auch mit dem Schreiben mitkamen.
„dass wir die Dienstwaffe des Polizeichefs bei dem Juden gefunden haben.“
„Niemand sollte hier voreilige Schlüsse ziehen, meine Herren, aber halten sie fest“,
wieder wartete er einige Momente mit der Fortführung der Rede,
„halten sie fest, dass der Schuldige verhaftet ist und der Gerechtigkeit genüge getan wird.
Einige Momente sah es noch so aus, als wolle er etwas sagen, doch dann besann er sich, schüttelte den Kopf, wandte sich ab und verschwand.
*
Gregorius saß dem Inspektor gegenüber und blickte auf das Geständnis und den Stift, den er zitternd in der Hand hielt.
„Wenn Sie das Geständnis unterschreiben bedeutet dies ja nicht gleich, dass sie sich schuldig bekennen“, riet ihm der Inspektor.
„Es bringt nur ein wenig mehr Klarheit in die ganze Situation und was ist das schon, eine kleine Unterschrift. Sie sollten kooperativ sein, in ihrer Situation.“
„Aber ich habe es  nicht getan“,
rief Gregorius und er konnte die Entrüstung in seiner Stimme nicht verbergen.
„Ich bin ein ehrlicher Mann. Hätte ich es getan, dann würde ich unterschreiben.“
„Sie haben es also getan“, ergänzte der Inspektor und seine Stimme bekam einen listigen Unterton. „Wenn Sie es schon so freimütig gestehen dann macht es auch keinen Unterschied, ob Sie noch unterschreiben, unterschreiben Sie schon, dann könne wir alle nach Hause gehen.
„Ich unterschreibe nicht.“
Gregorius war bis zu diesem Moment dem Blick des Inspektors ausgewichen, doch nun sah er ihm gerade und fest in die Augen.
„Und ich bin überhaupt gar kein Jude. Ich bin vor einem Jahr zum Christentum übergetreten.“
Der Inspektor lächelte.
„Als ob dies so einfach wäre. Äpfel sind nicht Birnen. Birnen sind nicht Äpfel.“
Dann erhob er sich und baute sich drohend vor Gregorius auf.
„Ich sage Ihnen mal etwas. Ich kenne Sie nicht, Sie sind fremd hier, auch wenn Sie vielleicht das Glück hatten in unserem kleinen Städtchen geboren zu werden. Ich kenne jeden einzelnen Bürger dieser Stadt, bin mit ihnen zur Schule gegangen, ich vertraue meinen Mitbürgern. Vertrauen, was Sie vielleicht gar nicht kennen. Die Menschen hier sind meine Freunde.
Wenn Sie die Frechheit besitzen hier zu verkünden dass Sie es nicht waren, dann bedeutet das doch, dass Sie einen ihrer Mitbürger verleumden, einen meiner Freunde.“
Er näherte sein Gesicht dem von Gregorius so nah an, dass kein Blatt Papier dazwischen gepasst hätte und für einen kurzen, surrealen Moment glaubte Gregorius, dass der bärtige Inspektor ihn nun küssen würde.
„Dann, ganz schnell und unerwartet schlug der Inspektor zu.
Es war ein gemeiner Schlag. Einer dieser Schläge, die man nicht kommen sieht, die immer überraschen, kurz und gemein, einer jahrhundertealten Logik folgend, Faust auf Zahn, wie der Vater so der Sohn, so der Enkel.“
Tränen schossen Gregorius in die Augen, klebrige Tränen, die der Stolz zurückhielt, die nicht fließen wollten.
„Ich war es nicht. Ich sage ja nicht, dass es einer von Euch Christen war. Es könnte auch ein Muslim gewesen sein. Ich habe desöfteren gehört, dass der Wald um die Stadt herum voller Muslime ist.“
Zweifelnd blickte ihn der Inspektor an und obwohl man ihm seinem Unmut anmerkte, war dies wohl ein Gedanke, der ihm auch schon im Unterbewusstsein begegnet war.
Gregorius erblickte seine Chance.
„Es könnte ein muslimischer Terrorist gewesen sein“, setzte er hinzu,
während er den Inspektor ängstlich betrachtete, ob dieser wohl seinem Gedanken folgen würde.
*
Am nächsten Morgen war die Kirche so gut besucht, wie es sonst nur zu besonderen Anlässen, Hochzeiten, Beerdigungen und in der Weihnachtszeit der Fall war. Alle Bänke waren bis auf den letzten Platz gefüllt und sogar hinten, im Mittelgang standen einige Leute, die erwartungsvoll nach vorne blickten. Eigentlich waren die Leute in der kleinen Stadt niemals besonders religiös gewesen, man hatte sich eher mit einem religiösen Schein umgeben, die Gepflogenheiten der Eltern und Großeltern ungeprüft fortgeführt, doch an diesem Morgen war es etwas anderes, dass die Menschen im Schatten des riesigen Kreuzes versammelte, das an einem scheinbar viel zu dünnen Draht von der Decke baumelte. Ein Mord war etwas, das die gewohnten Bahnen sprengte. Natürlich schaute man auch in dieser kleinen Stadt die Nachrichten und die Gewalt und Armut in der Welt war also auch bei den Menschen, die dort saßen wohlbekannt, aber es war etwas anderes, wenn sich solche Geschehnisse in der eigenen Nachbarschaft zutrugen. Und weil der Polizeichef bei allen bekannt, wenn auch nicht bei allen beliebt war, so stellte sein Tod doch eine seltsame Neuerung in dem altbekannten Alltag dar und die Menschen wollten wissen, wie Gott über diese Sache dachte.
„In der letzten Nacht hatte ich einen Traum“, rief auf einmal der Priester, der nach vorne an das Mikrofon trat und kurzentschlossen das Eröffnungslied überging, weil er wusste, dass die Leute gekommen waren, um seine Predigt zu hören.
Mit einem Schlag war es mucksmäuschenstill, wenn man von dem Rascheln absah, mit dem einige Christen ihre Gesangsbücher beiseite schoben.
„Nun ist es wohl nichts außergewöhnliches wenn man träumt“, fuhr der Priester fort,
„wir alle haben wohl schon einmal einen Traum gehabt, aber da die Träume von Gott kommen und es ihm in seiner Allwissenheit ja gar nicht entgangen sein kann, dass ich seine Botschaft zu euch spreche, kann man annehmen, und ich bin davon überzeugt, dass dieser Traum, den ich hatte eine Nachricht des Allmächtigen war und wohl weiß ich seine Bilder zu deuten.“
Ein Raunen ging durch die Reihen.
Eine Nachricht von Gott war schon etwas, das man nicht alle Tage geboten bekam.
„In meinem Traum sah ich unsere kleine Stadt, eure Häuser, liebe Christen, eure Straßen und ich sah Euch. Doch es war nicht nur unser Dorf, das ich sah, es war die Zukunft unseres Dorfes. Ihr alle wart in feine Anzüge gekleidet, große amerikanische Autos parkten vor euren Häusern und auf allen Gesichtern lag ein Lächeln, denn es ging Euch gut, liebe Christen, es ging uns gut und schnell wurde mir klar, was Gott mir mit diesem Bild sagen wollte.
Das ist eure Zukunft, liebe Bürger, und dies ist das Paradies, das ich euch so lange versprochen habe.“
Ein Lächeln trat auf die Gesichter der Bürger, die sich nun gegenseitig auf die Schultern klopften und zu dem baldigen Paradies gratulierten. In den hinteren Reihen fing eine alte Frau an zu weinen und es brauchte nicht viel Fantasie, um ihre Tränen als Ausdruck des Glücks zu begreifen.
„Aber das war nicht alles, liebe Christen“, fuhr der Priester fort,
„ich sah nicht nur euch, sondern auch alle eure geliebten Verwandten, die der Tod sich für einige Jahre geborgt hatte und ich begriff. Im Paradies gibt es keine Trauer, im Paradies gibt es keinen Schmerz. Deshalb werdet ihr in diesem Paradies alles, was Gott euch nahm, um euch zu prüfen, wieder zurück erhalten.“
Waren die ersten Sätze noch recht ungläubig von den Bürgern aufgenommen worden, brach nun für einige Minuten ein schieres Chaos unter dem Kreuzweg aus. Jedem fiel etwas sein, dass er verloren hatte und erzählte seinem Sitznachbarn davon, der wiederum ungeduldig darauf wartete seine verlorenen Gegenstände und Menschen aufzuzählen.
Der Priester gab den Bürgern eine wenig Zeit, damit sich jeder das Paradies ausmalen konnte, von dem er ihnen berichtet hatte, dann sprach er weiter.
„Aber dieses Paradies ist in Gefahr, liebe Christen“, rief der Priester.
Ein Seufzen ging durch die Reihen.
Jeder blickte betreten vor sich hin, nur ein älterer Mann, der geahnt hatte, dass dort irgendwo ein Haken sein musste, rief mit unterdrücktem Zorn, dass er dies gewusst hätte.
„Ich ging also durch die Straßen unseres zukünftigen Paradieses, atmete die frische Luft,
blickte über die gut gefüllten Felder und dachte, dass dies für uns, für uns Christen eine reiche Ernte gäbe, als da auf einmal ein anderer Geruch war, ein schlechter, fauliger Geruch, der in der Nase brannte. Obwohl es ein solch schlimmer Geruch war, folgte ich ihm, weil ich wusste, dass Gott dort eine Erklärung, eine Botschaft für mich bereit hält und dann sah ich, was er mir sagen wollte: Nicht alle Häuser waren renoviert worden und vor einigen Häusern standen auch keine amerikanischen Wagen. Finstere Schatten warfen diese Häuser, die Vorgärten waren verwildert und über die rissigen und hässlichen Gartenzäune wuchs das Unkraut in eure Gärten hinüber. Oh, wie es wuchs. Auf einmal war alles voll mit diesem Unkraut und alles was es berührte, verwandelte sich. Eure Häuser verfielen, eure teuren Kleider waren löchrig und schmutzig und auch die amerikanischen Autos, die so schön in der Sonne geglänzt hatten, wurden rostig und französisch.“
Schrecken breitete sich auf den Gesichtern der Christen aus.
„Ausgerechnet französisch“, stöhnte der alte Mann, der bereits einmal die Predigt unterbrochen hatte und die Frau, die bis zu diesem Moment aus Freude geweint hatte, vergoss nun bittere Tränen um das schöne Paradies, dass sie zuvor noch so nahe und sicher geglaubt hatte. Irgendwo schrie ein Kleinkind.
„Die Sonne verdunkelte sich“, schrie der Priester,
„und obwohl ich Angst hatte, ging ich zu einem dieser Häuser, ich öffnete die Tür, presste die Hand vor die Nase und was sah ich?“
„Ich ahne es“, rief der alte Mann und diesmal schenkte der Priester ihm einen ärgerlichen Blick.
„Ich sehe Unzucht“, schrie der Priester,
„Fremde und unwürdige Gedanken, achtarmige Kerzenleuchter, Gebetsteppiche, Kuppelei und Gestank, Fremde, ich habe sie bemerkt, lauter fremde Menschen, die heimlich zwischen uns wohnen, Teufel, die dieses Paradies nicht wollen, Teufel, die euch die amerikanischen Autos nicht gönnen, Ungläubige und Franzosen. Muslimische Terroristen mit langen Bärten und Kommunisten, deren Bärte ein wenig kürzer waren, Sektiererei, Verrat und Sodomie.
Entrüstet wollte ich mich abwenden, als ich auf einmal bemerkte, dass der ganze Boden voll mit Schlangen war, hässliche garstige Schlangen, die allesamt zischten.
Ich begriff, dass überall Schlangen sind, dass das Unkraut das in eure Gärten kriecht in Wahrheit Schlangen sind. Schlangen, die alle unsere Träume vergiften, Schlangen, die unsere Paradies vergiften, Schlangen, die in die Wiegen Eurer Kinder kriechen. Christen, ich habe die Hölle gesehen, die Hölle, die sich in unserem Paradies versteckt und wisst ihr, was das bedeutet? Wisst ihr was Gott uns sagen möchte?“
„Ich weiß es“, rief der alte Mann, doch niemand achtete auf ihn, alle hingen wie gebannt an den Lippen des Priesters.
„Das Paradies ist schon da, wir können es nur nicht sehen, weil all das Unkraut, das fremde Unkraut alles überwuchert, fremde Gedanken, ketzerische Gedanken, und wenn wir unser Paradies wollen, liebe Christen, dann bleibt uns nichts als die Schlangen zu vertreiben, die Gott geschickt hat, um uns zu prüfen. Das Paradies ist nah, liebe Christen, Gott will uns das Paradies schenken, wir müssen es uns nur nehmen und das werden wir.“
Jubel brach in der kleinen Kirche aus, die Menschen umarmten sich, beglückwünschten sich zum baldigen Paradies und während sie gemeinsam das Lied Nummer 324 sangen, schmiedete ein jeder Pläne, wie es wohl am besten gelingen konnte, die Schlangen zu vertreiben.
*
Auch die Leiche des Priesters wurde in den frühen Morgenstunden gefunden. Eine der kleinen Messdienerinnen war von ihrer Mutter bereits vor der Schule in das Pfarramt geschickt worden, um einen Brief mit Vorschlägen zu überreichen, wie man die Schlangen aus der Stadt treiben konnte. Das kleine Mädchen hatte einige Male an dem schweren Glockenzug gezogen und als sie merkte, dass die Türe nur angelehnt war, war sie ihrer kindlichen Neugier gefolgt und in die Stube getreten. Der Priester saß mit nachdenklichem Gesicht an dem Esstisch und wäre er nicht vollständig nackt gewesen, hätte das Bild wohl auch nichts Erschreckendes gehabt, ein Gottesmann der nachdenklich Löcher in die Wände starrt, doch er war nackte gewesen, nackt und tot, bereits kalt und steif, als der Bürgermeister und die Presse das Haus betraten. Eifrig wurden Fotos geschossen, wobei man den Gebetsschal, mit dem der Priester erwürgt worden war, wahrscheinlich aus Gründen der Pietät über sein Gemächt gezogen hatte.
„Ihr seid frei“, stand in großen Lettern quer über die Wand geschrieben und fast hatte es den Anschein, als würde der tote Priester diese Worte betrachten und über ihren Sinn grübeln.
Der Bürgermeister diktierte dem Lakaien seine Impressionen, damit dieser für ihn eine Rede an das Volk schreiben konnte. Bald hatte sich eine kleine Menschenmenge vor dem Haus versammelt und schnell war die Botschaft bis zu ihnen nach draußen durchgedrungen. Die Schlangen hatten den Priester getötet. Die Fremden, die in der Stadt wohnten hatten ihnen den Krieg erklärt und wer zuvor noch Zweifel gehabt hatte, ob denn Gewalt und Vertreibung das Volk in das Paradies führen konnte, der war nun überzeugt, dass es ein Kampf mit dem Teufel war.
Über den Schriftzug sprach hingegen niemand.
Was bedeutete schon das Wort „frei“, wenn es von einem wahnsinnigen Dämon an die Wand geschrieben wurde.
„Ich habe gewusst, dass es soweit kommt“, rief der alte Mann und einige andere nickten mit dem Kopf, weil auch sie etwas Schlimmes befürchtet hatten.
Schnell fanden sich einige Rädelsführer und während der Inspektor sich einen Weg durch die Menge bahnte, trugen schon einige Knüppel und Metallstangen herbei, da man dem Feind doch nicht unbewaffnet entgegentreten konnte.
Der Inspektor sah dies alles mit einem gewissen Stolz, als er auf die Tür zuschritt.
Es fühlte sich ungemein befreiend an, dass er durch den Tod des Polizeichefs zumindest vorübergehend in der Befehlshierarchie nach oben gestiegen war und es erfüllte ihn durchaus mit Stolz, dass er sah, wie bereit und einig das Volk sich dort zu organisieren wusste, um für eine bessere Zukunft zu kämpfen.
Er begrüßte den Bürgermeister, der einigermaßen nervös den Tisch mit dem toten Priester umrundete und den Lakai barsch nach draußen stieß, als er den Inspektor entdeckte.
„Es ist gut, dass Sie kommen.“
Der Inspektor verneigte sich respektvoll.
„Zuerst habe ich gedacht, dass es nur das Werk dieses Juden ist“, sagte er und er sprach leise und abgewandt von den Presseleuten, aber nun glaube ich, dass es sich um eine Verschwörung handelt. Begreifen Sie, was da genau passiert? Es ist ein Angriff gegen unser System, es ist ein Angriff gegen die Stützpfeiler unserer Gesellschaft. Der Polizeichef, der Priester, das kann doch kein Zufall sein. Das ist kein kleines Scharmützel, es ist Krieg. Haben Sie den Schriftzug bemerkt?“
Beide blickten hinauf zu den großen Buchstaben.
„Da will jemand Anarchie“, flüsterte der Bürgermeister und schielte hinüber zu den Fotografen, die noch immer den toten Priester fotografierten.
„Sie werden versuchen mich als nächstes zu erwischen und ich brauche ihren unbedingten Schutz. Hat der Jude das Geständnis unterschrieben?“
„Noch nicht.“
„Sehen Sie zu, dass er es unterschreibt und wir brauchen ein zweites Geständnis für das, was hier geschehen ist. Wir müssen den Leuten einen Schuldigen geben, bevor sie anfangen über diese Botschaft nachzudenken. Überlegen Sie, was hier los wäre, wenn jeder das tun würde, was er möchte. Unsere ganze Ordnung, unsere Stabilität, alles droht zu zerbersten, wenn das Volk anfängt zu denken. Niemals darf das Volk denken. Einer dieser großen Philosophen hat das gesagt.“
„Ich weiß nicht, ob dies so einfach ist.“, sagte der Inspektor, der noch immer zu den Buchstaben hinaufblickte.“
„Wie meinen Sie das?“
„Nun ja. Ich habe, genau wie Sie gesagt haben den Juden festgenommen und erhört. Er hat die Nacht in der Vernehmungszelle verbracht und so ungeschickt das jetzt auch alles scheint. Ich habe ihn sogar in der Nacht verhört. Ich will ja nicht widersprechen, aber ich denke, so leid es mir tut, er kann es nicht gewesen sein.“
Zornig fuhr der Bürgermeister herum und eine steile Zornesfalte teilte sein Gesicht.
„Ich will davon nichts hören. Er soll unterschreiben. Uns selbst wenn er es nicht selbst ausgeführt hat, so wird er es geplant haben, oh, ja, so sind sie die Juden, hecken ihre düsteren Pläne aus, aber dann fehlt ihnen der Mut sie auszuführen und sie bestechen ihre Helfershelfer.
Wissen Sie noch die Sache mit dem Brunnen?“
„Wir haben nie darüber gesprochen, aber ich denke, dass es dieses neue Düngemittel war, das die Bauern neuerdings überall versprühen. Der Lehrer meinte letztens es würde irgendwie mit dem Grundwasser zusammenhängen, das…“
Der Inspektor verstummte als er in das Gesicht des Bürgermeisters blickte.
„Er soll es unterschreiben“, flüsterte der Bürgermeister und man sah ihm an, dass er seinen Zorn nur mühsam bändigen konnte.
„Wenn Ihnen das nicht gelingt, gibt es andere, da seien Sie gewiss. Wenn jeder seine private Vorstellung von Gesetz und Ordnung hätte, wo kämen wir denn da hin. Die Sache ist ganz einfach. Wir brauchen einen Schuldigen und wenn Sie darauf spekulieren Polizeichef zu sein, dann brauchen Sie einen Erfolg. Ich erwarte, dass Sie umgehend zur Polizeiwache zurückgehen, den Juden dazu bringen dieses Geständnis zu unterschreiben und dann zum Rathaus kommen, um mein Leben und die Zukunft dieser Stadt zu beschützen. Das wäre eine Tat, die eines Polizeichef würdig wäre.“
*
Der alte Miraz wohnte ein wenig außerhalb der Stadt in einem kleinen Wäldchen, weil ihn mit zunehmendem Alter der Lärm und die Unruhe in den Gassen gestört hatte und weil einem Gerücht nach auch noch andere Muslime in den Wäldern wohnten. Abseits der Bauern und Christen hatte er sich ein gemütliches kleines Heim eingerichtet, die Bretter selbst zurechtgesägt und mit jedem Nagel, den er in das Holz schlug die Gewissheit gehabt, dass dies nun sein neues Zuhause war und er in diesen vier Wänden irgendwann einmal auch sterben würde. Das Meiste, das er zum Leben brauchte gab ihm der Wald und wenn doch einmal etwas fehlte, dann schob er seinen Karren in die Stadt und verkaufte den Bürgern Spezialitäten aus seinem fernen Geburtsland. Gerade in der letzten Nacht hatte er ein traditionelles Gebäck gebacken, dessen Rezept ein altes Familiengeheimnis war. Am Nachmittag war er aufgebrochen, weil das die Zeit war in der die meisten Familien in den paar Geschäften die es gab einkaufte und auch immer jemand dabei war, der gerade Appetit auf eine orientalische Leckerei hatte. Als er um die Ecke auf den Kirchplatz bog, sah er am anderen Ende der Straße eine große Menschenmenge, und aufgeregt winkte er sie zu sich hinüber, dass sie die Speisen, die dieses Mal besondern vortrefflich gelungen waren, probieren konnten. Ein wenig seltsam erschien es ihm schon, dass dort so viele Bürger gemeinsam standen, aber ein guter Geschäftsmann wusste eben auch aus Überraschungen seinen Profit zu ziehen.
Endlich bemerkten ihn einige Kinder, die zuvor allesamt in eine andere Richtung geblickt hatten und schon zerrten sie an den Rockzipfeln ihrer Eltern und Geschwister.
Aber anstatt das sich nun einzelne Kunden aus der Menge lösten, berieten sie sich miteinander und das aufgeregte Tuscheln brandete so laut auf, dass es unheilsverkündend bis zu ihm hinüber drang.
„Schlange“, hörte er immer wieder und auch einige andere Schmähungen, die er aber im Chor der Masse nicht verstehen konnte.
Massen sind träge, doch Miraz spürte auf einmal jene schlechte Stimmung, die sich dort drüben zusammen braute, immer wieder trafen ihn böse Blicke, die wohl auch mit einiger Absicht zu ihm hinüber geschleudert wurden und auf einmal hatte Miraz Angst.
Zögernd wendete er den Karren und blickte dabei immer wieder sorgenvoll hinüber.
„Er flüchtet, die Schlange flüchtet“, rief da mit einem Mal die Frau des Konditors und obwohl Miraz nicht verstand, was sie meinte, wusste er doch, dass es ihm galt.
Mit einem Mal rannten die Christen zu ihm hinüber und bildeten einen drohenden Kreis um ihn und den alten Karren, den er mittags mit Gebäck beladen hatte.
Das Schlimme war, dass sie auf einmal alle gleich aussahen. Viele der Menschen kannte er als zufriedene Kunden. Oft war da wohl auch ein nettes Wort gewesen und da war sogar der Sohn des Lakaien, dem er desöfteren aus Mitleid eine Pflaume oder ein Stück Kuchen geschenkt hatte.
Doch nun waren sie alle gleich, eine unerbittliche Mauer von Gesichtern, die in ihrer Empörung fremd waren, eine atmende Wand, die weder Gewissen, noch Mitgefühl kannte.
„Das hat der Priester gemeint“, rief der Schornsteinfeger und zeigte mit seinem verrusten Finger auf Miraz.
„Er gönnt uns das Paradies nicht und ich wette mit euch, dass in seinem Karren Schlangen sind, die er hier heimlich verteilen wollte. Er muss es auch gewesen sein, der den Priester ermordet hat.“
Viele bejahende Zurufe erschollen ringsherum und erst jetzt wurde Miraz klar, dass hier ein Gericht abgehalten wurde und dass sich niemand auch nur im Geringsten um seine Meinung kümmern würde.
„Wir müssen die Schlangen aus der Stadt treiben“, schrie die Frau, die zweimal in der Kirche geweint hatte.
„Sonst werden wir niemals ins Paradies kommen.“
Mit einem Mal kam Bewegung in den Kreis, blitzartig zog er sich auf den fassungslosen Miraz zu, dann hagelte es von allen Seiten Schläge und Stiefeltritte. Jemand stürzte den Karren um und all das Gebäck fiel auf den schmutzigen Boden und wurde von den aufgeregten Bürgern zertrampelt. Immer wieder trafen ihn Fäuste, stießen und zerrten ihn von einer Seite des Platzes bis zum anderen, während die Menge um ihn herum brodelte. Dann liefen einige zur Seite weg, um Steine zu holen.
*
Gregorius saß noch immer am Vernehmungstisch und trauerte ganz offen um das Theaterstück, dass er für die Bürger dieser Stadt geschrieben hatte. Der Inspektor war telefonisch zum Bürgermeister bestellt worden und so blieben Gregorius einige Minuten, um über all das nachzudenken, was in den letzten Tagen geschehen war. Es hatte alles mit dem Stück begonnen und seinem Wunsch es von dem örtlichen Volkstheater aufgeführt zu sehen. Ihm war bewusst gewesen, dass sie alle nur Laienschauspieler, bestenfalls Komparsen waren, während sein Stück ein Stück Weltliteratur und somit eigentlich für größere Bühnen beschaffen war. Aber er hatte es ihnen gegönnt. Jahrzehntelang hatte er unter den Christen gelebt und dieses Theaterstück war von dem Wunsch beseelt gewesen einmal „danke“ zu sagen. Es war nicht so, als dass er Freunde gefunden hatte, aber man hatte ihn in Ruhe gelassen und wenn er abends die Nachrichten verfolgte, war er sich darüber im Klaren, dass dies bereits viel war. Dankbar er gewesen und auch wenn sich das Stück, welches dieser Dankbarkeit gewidmet war, auch an der einen oder anderen Stelle vielleicht zu kritisch geäußert hatte, war es doch als Geschenk, niemals als Angriff gemeint gewesen. Er hatte es mit seinem kleinen Gemischtwarenladen durchaus zu einigem Wohlstand gebracht und auch das Haus in dem er mit seiner alten Mutter lebte gehörte zu den schönsten in der kleinen Stadt. All dies wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht all jene Christen auch so treue Kunden gewesen wären. Er hatte das Stück der Mutter am Bett vorgelesen und so wie es von jeher gewesen war, hatte es ihr nicht gefallen.
„Du solltest dich lieber um das Geschäft kümmern, als Dir mit deiner Schöngeisterei Feinde zu machen“, hatte sie gesagt, aber dann doch darauf bestanden, dass er es ihr vorgelesen hatte.
Manchmal waren da sogar Tränen der Rührung gewesen, die aber wohl unter dem dicken Brillenglas größer gewirkt hatten, als sie tatsächlich waren.
„Es ist Schmutz“, hatte sie gesagt,
„es spielt mit Ressentiments und Verleumdungen. Die Menschen sind nun mal nicht so, wie es der liebe Gott gewollt hat, die Menschen sind böse, glaube mir, die Menschen sind böse, doch man darf ihnen keinen Spiegel vorhalten, weil sie ihn sonst zerbrechen werden. Du musst es vernichten. Verbrenne es und vergesse, dass du es jemals schreiben wolltest.“
Er hatte es nicht verbrannt, aber er hatte die Sorgen der Mutter ernst genommen und es dem Bürgermeister zu lesen gegeben. Dieser hatte es wohl nicht zu Ende gelesen, denn die Schlüsse, die er aus dem Stück zog, waren niemals die Absicht von Gregorius gewesen.
„So sehen sie also ihre Mitbürger“, hatte der Bürgermeister gesagt und dann zu einer langen Aufzählung verfälschter und aus dem Kontext gerissener Zitate angesetzt.
„Schlangen“, hatte er gesagt, „Schlangen, Mord und Totschlag. Es widert mich an.“
Seit jenem Tag hatte er nicht mehr mit dem Bürgermeister gesprochen und obwohl dessen Frau ansonsten mindestens zweimal die Woche in dem kleinen Laden einkaufte, war auch sie nicht mehr erschienen.
Wahrscheinlich lag es an dem Stück, doch die Folgen, die es zog waren so unerwartet, so unverhältnismäßig gewesen, dass er dies alles lange Zeit nicht geglaubt hatte.
Nun saß er in einer Zelle und man beschuldigte ihn den Polizeichef ermordet zu haben, einen Mann den er zwar oft für seine Kleinkariertheit und Unverschämtheit verachtet, den er aber beileibe niemals umgebracht hätte.
Er dachte gerade an den Revolver des Polizisten und wie kalt und bedrohlich der Lauf auf seiner Schläfe gelegen hatte, als der Inspektor wieder in den Raum stürmte.
„Sie verlogener Mistkerl“, schrie er zur Begrüßung und baute sich drohend vor dem kleinen Vernehmungstisch auf.
„Aber meine Geduld hat Grenzen. Jahrelang hat die Stadt Sie geduldet, in ihrem Laden eingekauft und so ihren Reichtum vorangetrieben. Und Sie, Sie, wie danken sie es uns, beschuldigen uns, verleumden uns und sie töten uns, erst töten sie uns in Gedanken, oh, ja, in kleinen Geschichten, die ihnen der Teufel einflüstert, aber eines Tages reicht es nicht mehr aus. Das Böse will hinaus aus dem Kopf und dann haben sie den Polizeichef getötet, der bereit war sie auf den rechten Weg zu führen.“
„Ich hätte gerne einen Anwalt“, sagte Gregorius und versuchte den Inspektor dabei nicht anzublicken.“
„Das haben wir gerne“, antwortete der Inspektor und der Ton ließ keinen Zweifel darüber, dass er im Namen der gesamten Stadt sprach.
„Erst wollen Sie nicht dazugehören, erheben sich über uns mit ihrer schmutzigen Moral und ihrem Ruf nach Freiheit, jetzt aber wollen sie alle Rechte, die den ordentlichen Bürgern zustehen. Wissen Sie was, sie bekommen keinen Anwalt, sie haben sich keinen Anwalt verdient, abgesehen davon, dass bestimmt keiner der Menschen die sie in den Schmutz ziehen auch nur daran denkt sie zu verteidigen. Gerade jetzt, wo der Priester durch ihr kleines Komplott gestorben ist, aber fühlen Sie sich nicht sicher. Ich bin ihnen auf der Schliche.“
Gregorius wurde bleich.
„Der Priester ist tot?“
„Und jetzt tut er überrascht“, sagte der Inspektor mehr zu sich selbst als zu Gregorius.
„Es widert mich an sie zu beschützen.“
Der Inspektor spuckte auf den Boden, damit Gregorius sehen konnte, wie groß seine Verachtung war.
„Ich habe ihr Geständnis überarbeitet“, sagte er dann in einem versöhnlicheren Ton und ich biete ihnen nun zwei Möglichkeiten: Entweder sie unterschreiben oder aber sie sind hiermit frei.“
Gregorius blickte überrascht auf.
„Frei?“
Es war ein böses Lächeln, das auf das Gesicht des Polizisten trat.
„Frei vom Schutz der Polizei, vogelfrei hat man es einmal genannt. Sie wissen ja nicht, was da draußen los ist. Glauben Sie im Ernst die Bürger unserer Gemeinde lassen sich so einfach überfallen?“
Der Inspektor zog mit einer raschen Bewegung, vor der Gregorius erschrocken zurückfuhr das Geständnis aus der Westentasche und breitete es aus. An einigen Stellen war die Maschinenschrift durchgestrichen worden und einiges war neu, mit einem Kugelschreiber hinzu gesetzt worden.
„Dann wollen wir mal“, sagte der Inspektor drohend, als das Telefon im Nebenraum heftig klingelte.
*
„Der Bürgermeister ist tot“, rief jemand in der Menge, die den bewusstlosen alten Miraz umringte.
„Der Bürgermeister ist erschlagen worden“, rief jemand aus einer anderen Richtung und schon lösten sich einige aus der Gruppe und zogen die Menge hinüber vor das Rathaus.
Nur Miraz blieb verlassen zwischen seinem zertretenen Gebäck liegen und füllte die Fugen zwischen den historischen Pflastersteinen mit seinem Blut.
Niemand verschwendet auch nur noch einen Gedanken an den alten gebrochenen Mann, als die Menschen zum Rathaus hinüber liefen.
Der Bürgermeister lag auf den Stufen der Rathaustreppe, nicht einmal hundert Meter entfernt von dem Platz, wo sie ihre Steine auf den unglücklichen Miraz geschleudert hatten.
Direkt vor ihren Augen lag die letzte Autorität in ihrem Blut und „ihr seid frei“ stand auf einer weißen Fahne, die jemand zu Füßen des Opfers ausgebreitet hatte.
Der Kopf des Bürgermeisters lag offen auf einer Treppenkante und es wirkte so als blickte er hinunter zu seinem Volk, dass wie gebannt diesen Blick erwiderte.
Der Schock über den Tod des Bürgermeisters saß tief, selbst dem Lakai, der neben dem Toten kniete standen die Tränen in den Augen. Viele Jahre hatte dieser Mann der Stadt vorgestanden, war Anlaufstelle bei Konflikten und Problemen gewesen und während sein Blut in der Mittagssonne trocknete, dämmerte es Vielen, dass nun eine neue Zeit heran brach und dass es einen Steuermann brauchte, um das Schiff in ruhigem Fahrwasser zu halten.
Zögernd erhob sich der Lakai und blickte hinunter auf die Menschen.
„Ich spreche zu euch im Namen des Bürgermeisters“, rief er und zum ersten Mal betrachteten die Menschen ihn, blickten zu ihm hinauf, wollten die Worte jenes Mannes hören, der stets nur Schatten gewesen war. Rückblickend war dies einer der schönsten Momente im Leben des Lakaien.
„Der Bürgermeister wusste, dass wir angegriffen werden“, rief der Lakai,
„der Priester wusste es, der Polizeichef wusste es.
Und weil sie allesamt brave Bürger, Vorbilder für uns alle waren, müssen wir das betrachten, was sie vor ihrem Tod getan haben, um uns für diesen Angriff zu wappnen.“
Aus den Tiefen seines Herzens sprudelten die Worte des Lakaien hervor. Alles was er so lange gedacht und nicht auszusprechen gewagt hatte, drang aus ihm hervor. Der gesamte Plan dieses abscheulichen Verbrechens lag vor ihm ausgebreitet und er fühlte sich berufen das Volk über diesen Plan aufzuklären.
„Der Polizeichef war zuletzt bei der Verbrennung dieses unseligen Theaterstücks, das ich zwar nicht gelesen habe, aber über das der Bürgermeister sehr entrüstet war. Diese Stück war der Anfang des Komplotts, das die Schlangen gegen uns führen und was hat er getan, dieser brave Soldat bürgerlicher Ordnung. Er hat es verbrannt, ich habe es verbrannt und wir dachten, die Gefahr wäre gebannt. Bitter hat sich der Jude dafür gerächt und diesen guten Christen hinterrücks überfallen, aufgehängt hat er ihn, wie das Fleisch, das er in seinem Laden verkauft. Dann hat uns der Priester gewarnt, wisst ihr es noch. Er hat von Schlangen gesprochen, die uns unser Paradies nehmen, von Fremden die mit ihrem Unkraut alles überwuchern. Was hat er gemeint, wenn nicht dieses giftige Stück Papier, was wir verbrannt haben. Ermordet hat er ihn, der Jude. Ermordet und entblößt, um ihm somit auch das letzte bisschen Ehre und Würde zu nehmen, dass er zu Lebzeiten immer so stolz mit sich trug. Doch damit nicht genug. Ich habe es mitbekommen. Ich habe es gehört. Das Letzte, was der Bürgermeister versuchte, war uns den Schuldigen zu zeigen, den Juden, der bereist im Gefängnis sitzt und doch seine Helfershelfer hat, die seine bösen Pläne umzusetzen wissen.
Er ist Schuld, dass der Bürgermeister tot ist und wisst ihr warum das alles, wisst ihr wovon sein Stück handelt? Es handelt von Freiheit, hat der Bürgermeister gesagt, von Revolutionen, die noch kommen sollen. Seht ihr es. Dort steht es. Er hat seine Botschaft dort auf das Plakat gedruckt, nachdem er den Bürgermeister hinterrücks erschlagen hat, hatte er noch den Mut diese Worte dort zu hinterlassen und wisst ihr was er mit frei meint?“
Noch nie zuvor hatte jemand den Lakai sprechen gehört, meistens hatte er sich immer nur mit einem Nicken verständigt, Befehle bejaht und mit krummem Rücken im Hintergrund gestanden. Nun straffte sich auf einmal seine Figur, wie ein großer Mann stand er dort oben und sprach, was sie alle dachten. Fasste in Worte, was niemand hätte so gut aussprechen können, fast fühlte das Volk Stolz, dass der Lakai sich für sie alle erhoben hatte.
„Seine Freiheit bedeutet Revolution, sie bedeutet Krieg, sie bedeutet, dass wir alle nicht das Paradies bewohnen, dass wir schon lange hätten haben können. Denkt an den Priester. Denkt an die amerikanischen Autos. Wollt ihr diese Revolution, diese Zerstörung unser aller Träume?“
„Nein“, schrieen die Bürger und sie hatten eine Stimme.
„Wollt ihr das alles so bleibt wie es ist“, rief der Lakai,
„Ja“, rief das Volk und ein jeder fühlte sich stark, weil er Teil dieses Chors war.
„Dann wollen wir nun den Schuldigen bestrafen“, rief der Lakai, der kein Lakai mehr, sondern Autorität geworden war und kaum hatte er geendet setzte sich der Mob in Richtung der Polizeiwache in Bewegung.
*
„Aufhängen wollen wir den Juden“,
sangen die Menschen, die sich vor der Polizeiwache versammelt hatten und ihre Worte drangen durch die dicken Mauern bis nach drinnen, in die Vernehmungszelle, in der Gregorius saß und auf den verschwundenen Inspektor wartete.
Vor ihm lag das Geständnis und er merkte, wie in ihm der Wunsch aufkam diesen Zettel zu unterschreiben, was bedeutete es schon, seine Unterschrift auf dem Papier, wo doch alle ihr Urteil bereits gefällt hatten. Verbrannt war das Stück, das rückblickend das Größte war, dass er in seinem Leben geschrieben hatte und was bedeutete es, wo die Menschen es doch alle zu kennen glaubten. Mit zitternder Hand griff er nach dem Stift.
Sollte doch alles seine Ordnung haben, ihre Ordnung, die ihn nie gestört hatte.
Er hatte niemanden getötet, aber er hatte sich in den Menschen getäuscht, jahrelang getäuscht, immer nur die Oberfläche betrachtet, höflich gegrüßt, gratuliert und gelächelt, den Hut gezogen vor ihrer aller Verachtung. Er war hier geboren worden, hatte bis auf eine kleine Reise an die Ostsee das Städtchen niemals verlassen und doch war er hier fremd, fremd geboren, er würde auch fremd sterben. Diese Täuschung wurde ihm bewusst und als den Stift anhob, um seinen Namen auf das Blatt zu schreiben, unterzeichnete er im Geiste diese Erkenntnis, die ihm zu spät, so viel zu spät gekommen war.
*
Als Miraz sich schwerfällig erhob und noch ganz benommen von all den Schmerzen in seinem Körper war, glaubte er das Gefühl einer Eingebung zu haben, eine göttliche Botschaft, die nur für ihn allein und für diesen Moment bestimmt war. Obwohl er bis zu dem Moment, als er auf die Menschenansammlung stieß nichts von all dem gewusst hatte, was dort in der Stadt passierte, sah er auf einmal klar. Bilder und Erläuterungen, die er nie gesehen oder gehört hatte, fügten sich in seinem Kopf zusammen und irgendwoher strömte eine mächtige Kraft in seinen Körper, stützte ihn, als er sich aufrichtete. Ein langer Knüppel, den einer der Bürger liegengelassen hatte, bot sich ihm als Stock und gab ihm den Halt, um hinüber zum Rathaus zu humpeln.
„Gott ist groß“, flüsterte Miraz und Gott half ihm trotz der Schmerzen weiter vorwärts zu gehen.
Verlassen lag die Rathaustreppe in der Ferne und trotz seiner schlechten Augen wusste er, dass dort jemand war, der zu ihm hinüber blickte.
Der Lakai hatte die Kleider des Bürgermeister angelegt und sich sogar die goldene Ordenskette umgehangen. Staatlich sah der kleine Mann aus, der sonst immer so bleich und so traurig geblickt hatte. Die Schuhe glänzten im Sonnenlicht.
Zu seinen Füßen lag der Inspektor und daneben lag das Messer, das ihm mehrmals in den Bauch gestoßen worden war.
„Ihr seid frei“, schrieb der Lakai auf einen Zettel, den er dem alten Miraz entgegenhielt.
Darunter lag der Bürgermeister, bis auf die Unterwäsche entkleidet und auch er war tot.
„Warum machst Du das?“, fragte Miraz als er auf den Lakaien zuschritt.
Der Lakai betrachtete ihn gedankenverloren, spielte unablässig mit der Ordenskette, die um seinen Hals hing. Die Augen waren wässrig verklärt.
„Ich mache dies, weil ich es kann“, antwortete der Lakai, „so wie jeder das macht, was er kann, jeder Fisch will einmal den Schwarm führen und wenn er ihn führt, dann wird er ihm voran schwimmen und jeden, der ihn ablösen will mit seinem Blut verteidigen.“
Miraz hatte genug gesehen.
Insgeheim erwartete er jeden Moment, dass sich der Lakai auf ihn stürzen würde, doch nichts dergleichen passierte, sie sahen sich einfach an, maßen sich mit ihren Blicken, durchschauten einander und blickten dabei doch aneinander vorbei.
Ganz langsam wandte sich Miraz ab, blickte mehrmals über die Schulter zurück und verließ den Rathausvorplatz. Er hätte nach Hause, in das kleine Wäldchen gehen können, hätte seine sieben Sachen packen und einfach verschwinden können, doch er begriff den Betrug, dem diese Bürger ausgesetzt waren, er begriff ihre Angst, die hinter den Steinen lag, die sie auf ihn geschleudert hatten, er empfand Mitleid für diese armen Menschen, die nicht für sich selbst denken konnten, die jeder für sich nett und freundlich waren, die erst als Schwarm, wenn der Falsche sie führte über alles Fremde herfielen.
„Ich werde es ihnen sagen“, dachte Miraz und der Gedanke erfüllte ihn mit Zuversicht. Wenn man den Menschen sagte, dass sie betrogen worden waren, würden sie sich schamvoll besinnen. Sie würden wieder Bürger sein, Nachbarn und Freunde, Individuen, die der Hass zur Zeit einte.
„Ich werde es ihnen sagen“, dachte Miraz und folgte den Geräuschen, die immer nur dort entstehen, wo sich eine große Anzahl von Menschen versammelt, aufgeregt schrieen alle durcheinander und trotz aller Zuversicht bekam er Angst, als er auf die Menge zuschritt.
*
Gregorius hatte das Geständnis unterschrieben.
Wäre der Inspektor im Raum gewesen, so hätte er es ihm überreicht, doch da niemand da war, faltete er es und steckte es in die Brusttasche. Es gab einem Spiegel in dem Raum durch den Mann die Verhörzelle von dem Nachbarraum aus überblicken konnte und vor diesen Spiegel trat Gregorius und zupfte sich sein Hemd zurecht, bog den Kragen in die richtige Form und strich sich mit dem Zeigefinger einen Scheitel in die Haare.
Er hatte sich seit langem nicht mehr selber betrachtet und staunte darüber wie alt sein Gesicht geworden war. Er hatte ein erfülltes Leben geführt und er konnte sich nicht beschweren. Natürlich war dies alles ungerecht und falsch, aber es gehörte eben dazu, war Teil des Lebens und rechnete man es gegen all das Gute, dass man gesehen hatte, dann war selbst diese Ungerechtigkeit irgendwo gerecht.
„Wir wollen ihn hängen“, schrieen die Menschen draußen vor der Polizeiwache und in ihrer Einigkeit machten sie Gregorius auf einmal wütend. Er war bereit diese Schuld auf seine Schultern zu nehmen, war bereit dafür sich zu opfern, damit sie ihr normales, selbstzufriedenes Leben fortführen konnten. Er brachte ihnen das Geschenk, dass sie in dem Stück nicht sahen, das er für sie geschrieben hatte und er erwartete ein wenig Anstand für dieses Opfer, keinen Dank, keine Versöhnung, aber Würde.
Er musste ihnen entgegentreten, er musste für sein kleines Leben kämpfen und vor allem, in erster Linie mussten sie erfahren, wie falsch sie dachten, wie falsch sie waren. Mochten sie ihn dort draußen zerreißen, er würde ihnen den Spiegel vor ihre Fratzen halten, jenen Spiegel, vor dem ihn seine Mutter gewarnt hatte und wenn sie ihr dämonisches Selbst erkannten, dann mochten sie ihn zerreißen, es würde nur ihre nachträgliche Scham steigern.
Er zog das Geständnis aus der Brusttasche und zerriss es.
Sie hatten keine Freiheit verdient.
Mehrmals warf er sich gegen die verschlossene Tür bis sie schließlich nachgab und er im Büro des Polizeichefs stand. Sauber eingetütet lag dort dessen Dienstwaffe auf den Schreibtisch, eben jene Waffe, die er sich an den Kopf gehalten hatte, als er für einen Moment bereit war für diese Menschen zu sterben.
Mit einigem Zorn riss er die Tüte auseinander und ergriff die Waffe.
*
Die Bürger warteten auf den Inspektor.
Obwohl sie bereits immer wieder voller Zorn auf die verschlossene Türe blickten, fehlten ihnen doch der Mut diese Türe auch einzutreten. Schließlich war der Inspektor eine angesehene Person, einer von ihnen und bevor sie dort hineinstürmten wollten sie doch eine Art Segen, dass das Gesetz auf ihrer Seite war.
Es hatte sich eine erwartungsvolle Ruhe angebahnt, in der jeder fühlte, dass gleich etwas passieren würde, dass der Erste nach vorne stürmte und die Menge mit sich riss.
Alle fassten die Steine fester, die sie auf dem Hinweg eifrig gesammelt und verteilt hatten.
Kinder, die das ganze Geschehen noch nicht vollständig begriffen zeigten immer wieder auf die Polizeiwache und fragten ihre Eltern, was denn nun eigentlich dort drinnen sei, als mit einem Ruck die Tür aufsprang und Gregorius aus dem Haus trat.
Sofort wollten sich die Menschen auf ihn stürzen, die vorderste Reihe rannte auf ihn zu, jeder wollte der Erste sein, der seinen Mut bewies und für die gute Sache einstand, als ein lauter Schuss alle Vorsätze zerfetzte.
Hocherhoben stand der Jude in dem Türrahmen und hielt den rauchenden Revolver drohend ausgestreckt. Die Mutigsten und Schnellsten, die sich am weitesten vorgewagt hatten, drängten sich nun zurück in die Menge, in der niemand in der vordersten Reihe stehen wollte.
Panik machte sich breit, doch keiner traute sich davonzulaufen, weil die Waffe in Gregorius Hand sie drohend im Schach hielt.
„Ich war bereit mich für euch zu opfern“, schrie Gregorius und seine Stimme war so laut, dass sie selbst die Menschen in den letzten Reihen erreichte.
„aber jetzt ist das vorbei. Ich will euch einige Worte von Gerechtigkeit erzählen und den Ersten, der sich bewegt, werde ich erschießen.“
Alle standen still, niemand wagte eine Bewegung.
„Es geht um euch, also kommt ein Stück näher.“
Zögernd näherten sich die Bewohner der Stadt wieder, wobei die Frauen und die Kinder weiter hinten blieben.
„Ich werde nicht in Bildern zu euch sprechen, weil ich nun weiß, dass ihr sie nicht versteht.
Ihr seid taub für alles, was man euch nicht direkt in eure hörigen Gehirne schreit und es ist eine Schande, dass ihr euch davor fürchtet frei zu sein. Es ist wahr, dass es in meinem Stück um Freiheit ging, doch es war die Freiheit des Denkens, die Freiheit des Geistes, der Gedanke, das jeder für sich selbst denkt, dass man die Antworten selbst sucht und nicht übernimmt und vervielfältigt. Ihr wart ungerecht, weil ihr feige wart. Ihr seid alle Menschen und darum weiß ich, dass auch in eurer Brust ein Gewissen wohnt, jenen kleinen Schmerz den ihr fühlt, wenn ihr etwas Falsches tut, wenn ihr ungerecht seid. Ihr habt nicht auf euer Gewissen gehört, ihr seid taub für euer Gewissen, unterdrückt euer Gewissen.“
Während der letzten Worte kippte die Stimmung.
Das Volk, das bisher ängstlich zu Gregorius geblickt hatte, fühlte sich in seiner Seele gedrängt und vielleicht dachte auch der eine oder andere, dass es gar nicht möglich war eine so große Menge im Schach zu halten und es machte sie wütend wie dieser Jude vor ihren Kindern mit ihnen sprach.“
„Ich habe niemanden getötet“, rief Gregorius, ich wollte euch ein Manuskript schenken.
Doch seine Stimme wurde unsicher. Er bemerkte, wie die Blicke trotziger und rebellischer wurden, wie es wieder eine Einheit wurde, die dort gegen ihn aufbegehrt und er erkannte dass es nicht möglich war, dass seine Mutter recht hatte, dass es keinen Spiegel gab, welcher der Verblendung der Menschen gewachsen schien.
Drohend reckten bereits einige die Fäuste, überall wurde geflüstert und konspiriert, aus der eingeschüchterten Schar wurde ein einziger wohlorganisierter Organismus.
„Es ist alles vergebens“, dachte Gregorius und dann hatte er Angst um sein Leben, um sein Haus, um sein geordnetes Leben, sein kleines Geschäft.
Suchend blickte er sich nach allen Seiten um, ob nicht von irgendwo Hilfe zu erwarten war.
Drohend zog sich der Ring des Volkes fester um ihn, da entdeckte er an der Straßenecke, dort wo die Gasse zum Marktplatz kreuzte den alten Miraz, einen dieser wilden Muslime, die draußen, in den Wäldern hausten.
„Ich habe den Polizeichef nicht umgebracht“, schrie Gregorius,
„es war Miraz, der muslimische Terrorist.“ Und er zeigte auf den alten Mann, der auf einen Stock gestützt mit leuchtenden Augen über die Straße auf sie zuschritt.
Bewegung kam in die Menschen, man sah einigen an, dass sie nachdachten, abwogen zwischen dem bewaffneten Juden und dem alten hilflosen Muslim, der vor Schmerzen fast nicht gehen konnte.
„Er war es, der den Bürgermeister umgebracht hat“, schrie Gregorius und nun wandten sich alle um und blickten zornig zu dem Muslim hinüber, der die Frechheit besaß immer weiter auf sie zuzugehen.
Dann entlud sich der Zorn des Volkes.
Gleichzeitig rannten  sie auf den alten Mann zu, der ihnen beschwichtigend die Hände entgegenstreckte und schon hatte sich ein wildes Gerangel entwickelt, Miraz wurde von Arm zu Arm, von Faust zu Faust gestoßen.
Erst torkelte, dann stürzte er und von allen Seiten fielen die Bürger über ihn her, um endliche den Schuldigen zu bestrafen, der für all das, was geschehen war verantwortlich schien, der Fremde, vor dem der Priester gewarnt hatte.
Niemand achtete mehr auf Gregorius der sich abwandte, um zurück nach Hause zu seiner Wohnung zu gehen. Er wusste dass der Zorn sich nun entladen würde und dass die meisten Bürger, wenn all dies vorbei war wieder in seinem Laden einkaufen würden.
Er hatte einen tiefen und traurigen Blick in die Seele seiner Stadt geworfen und war nun bereit alles zu vergessen und weiterzuleben.
Vielleicht war es dass, was Freiheit bedeutete.

Ende

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (10.12.22, 14:55)
Ein langer Text und ein ebenso langer Zeitraum ohne Kommentar - letzteres habe ich nun beendet.

 autoralexanderschwarz meinte dazu am 11.12.22 um 16:47:
Danke dafür, wobei ja auch nicht jeder Text einen Kommentar braucht.

Gruß
AlX
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