Straßenbahnphilosophien - Auszug - Das Warten

Text zum Thema Allzu Menschliches

von  autoralexanderschwarz

So beginnen wir unsere Reise dort, wo gemeinhin jede Fahrt beginnt, an einer Haltestelle, irgendwo an einem dieser überfüllten Plätze, an dem die Menschen suchend aneinander vorbei in die Ferne starren. Allein heute wollen wir weder nach rechts, noch nach links, noch auf die Anzeigetafel starren, wir wollen die Menschen betrachten, die an diesem Ort gemeinsam mit uns auf die Weiterfahrt warten. Es sei an einem Morgen, an dem die Luft noch kalt und trübe und eben zu jener Zeit, an dem man einen Querschnitt der
Gesellschaft in Eintracht beieinander findet. Man achte darauf wie die Menschen stehen, ob einsam und in sich gekehrt oder gemeinsam in einer Gruppe. Ein jeder
hat sein Ziel und jene, die den gleichen Ort zum Ziel auserkoren haben, werden beieinander stehen. Noch steckt die letzte Nacht in den Gliedern, der Blick ist
ein wenig getrübt und doch ringt man sich ab, miteinander zu sprechen, wärmt sich aneinander, Wortfetzen dringen zu einem hinüber, Banalitäten werden ausgetauscht, wer mit wem, oder was wofür, Geschichten aus dem Büro oder abgehackte Dialoge über das Wetter, weil man sich so fremd ist, dass sich kein anderer Gesprächsstoff findet. „Heute ist es aber kalt“, wird dort jemand sagen und ein anderer wird wissend nicken, weil auch er den kalten November auf der Haut spürt. Ein seltsamer Zustand ist es, den man dort antrifft. Alle sind sie zu diesem Platz gekommen, um von hier zu verschwinden, ein jeder blickt
gelegentlich auf seine Uhr und gleicht im Geist die Fahrtzeit mit dem Arbeitsbeginn ab.

Unruhig trippeln die Menschen auf der Stelle um sich ein
wenig zu wärmen, oder ihrer Ungeduld Ausdruck zu verleihen. Genau betrachte man
all jene Gesichter, die man jeden Morgen aufs Neue sieht und vergisst, weil sie
nie wichtig genug schienen, um sie im Gedächtnis zu behalten. „Der Mensch ist
ein gesellschaftliches Wesen.“ Mit diesem Prädikat lebt der Mensch seit
Tausenden von Jahren und es scheint zu stimmen, wenn man die vielen Individuen
so friedlich beieinander sieht. Doch man sehe genauer hin, betrachte ihre
Kleidung, ihr Äußeres, den einzigen overten Ausdruck ihrer Individualität. Ein
jeder tut sein möglichstes, um sich von den anderen abzuheben. Bis an den Rand
der Lächerlichkeit wird diese Unterscheidung getrieben und wie selten ist es,
dass man morgens, an den Gleisen einmal zwei Hosen, Röcke, oder Schuhe sieht,
die einander gleichen. Selbst die Haare sind in den denkbar verschiedensten
Arten gescheitelt, rasiert, oder unter bunten Mützen und Kappen verborgen. Für
jeden hat die Industrie ein Rezept gefunden, um seine Persönlichkeit ganz
individuell nach außen zu kehren. Lächelnd denkt man zurück an die Zeiten, wo
alle die gleichen Perücken, die gleichen Beinkleider, die gleichen Schuhe trugen.
Doch es ist genau anders herum. Während damals ein jedes Kleidungsstück noch
von Hand, von Menschenhand gefertigt wurde, kommt diese Vielheit nun aus der
gleichen Maschine, läuft über das gleiche Fließband, der Unterschied besteht
nur noch in der divergenten Farbmischung, in kleinen Variationen in den ewig
gleichen Logarithmen. Egal ob kleine schwarze Kinder oder abgehobene und
„modische“ Designer die Versatzstücke nähten und kreierten, immer sind es die
gleichen Maschinen, die gleiche Monotonie, der gleiche Geist, welcher der
Kleidung innewohnt. Man denke zurück an den letzten Einkauf, an die vielen
glänzenden Stangen, auf denen kein Produkt den anderen gleicht und die doch in
letzter Konsequenz das gleiche Produkt sind. Für jeden Menschen gibt es eine
eigene Mode, ob Hip-Hop, Punk oder BWL, jeder versucht sich abzuheben und somit
einen Mosaikstein seiner ganz speziellen Gattung zu definieren. Ein jeder weiß
seine Haut besonders kreativ zu verstecken, ein jeder glaubt, dass es sein
eigener, sein individueller Geschmack ist, den die Medien tagtäglich in die
Hirne der Menschen brennen. Man blicke genauer, mit schonungslosem, kritischem
Blick über diese bunte Maskerade und man sieht das ewig Gleiche, die
Beständigkeit im Wandel. Ein jeder kleidet sich vorteilhaft, wobei niemand die
Frage beantworten könnte, worin denn eigentlich dieser Vorteil besteht. Die
Unterschiede werden kaschiert, der dicke Bauch durch längliche Streifen
geglättet, die Brust gepolstert, damit sie zwischen den anderen Brüsten nicht
untergeht, das dicke Gesäß unter wallend weiter Kleidung, das schmächtige in
engen Hosen dem Betrachter zugewandt. So stehen die Menschen da, warten auf die
Maschine, die sie zu ihrer Zielhaltestelle fahren wird. Niemand dieser Menschen
würde sich als Teil der Masse sehen. „Ich bin etwas Besonderes“, lautet die
Doktrin unserer Zeiten, doch würde man weiterfragen, worin denn dieses
Besondere besteht, würde man Stirnrunzeln, wenn nicht gar Feindschaft ernten.


Doch die Masse, von der sich keiner, selbst der Betrachter
dieses Geschehens nicht freimachen kann lässt sich grob in Klassen unterteilen.
So gibt es Menschen, die in diese Anonymität hineingeboren, gar nicht auffallen
wollen. Jeder Blick der sie nur streift zerrt an den Nerven, strapaziert das
eigene Selbstbewusstsein bis zum Zerreißen. Auch diese Menschen halten sich für
etwas „Besonderes“, doch es soll ein privates Besonderes bleiben, privat, weil
allzu viel Spott und Gemeinheit ihr Heranwachsen begleitete. Auch diese
Menschen stehen in Gruppen, es sind die unauffälligen, die marginalen Gruppen,
traurige, bebrillte Gesichter, die hilflos einander Mut zusprechen.
Freundschaften die darin begründet sind, dass man endlich jemanden gefunden
hat, dem man sich wenigsten in einigen kleinen Details überlegen fühlen kann,
denn das Besondere, an das sie alle so inständig glauben, besteht doch nur
darin, überlegen zu sein, überlegen im Geist, in der Spontaneität, im Tiefsinn,
den man sich bemüht an den Tag zu legen. Doch man wende den Blick ab, von jenen
ungeliebten Kindern ihrer Zeit, man schaue dorthin, wo die Unterhaltung nicht
zaghaft und flüsternd, sondern laut und zur Selbstdarstellung benutzt wird.
Jene Menschen, die besonders laut von der letzten Party, von dem letzten
Ereignis, dem letzten „Event“ sprechen, um sich von der restlichen Masse
abzuheben. Jene Menschen die ihre privatesten, ihre tiefsten Geheimnisse in der
Masse in ihre Handys brüllen. Auch sie stehen beieinander und ihre Blicke
versichern sich, dass auch sie, sie im Besonderen, etwas Außergewöhnliches
sind, während sie sich über die Schlagzeilen der Zeitungskästen austauschen.
Was zählt schon der monotone Beruf, die Position als unterstes Rädchen in einem
kalten System, wenn man denn wenigsten die neidischen Blicke der anderen auf
sich ziehen kann?

Doch man verweile nicht bei ihnen, blicke suchend weiter und
man wird jene Menschen entdecken, die dort alleine warten, die immer, selbst im
dichtesten Gedränge abseits stehen, die suchend umher schauen, um jemanden zu
finden, mit dem sie Gruppe sein können und die beschämt ihren Blick senken, wenn
man ihn kreuzt. Diese ausgestoßenen, einsamen Menschen, auch sie halten sich
für etwas Besonderes und sehen diese Besonderheit in ihrer Einsamkeit
bestätigt. Die Marginalisierung durch die Masse wird zur gefühlten
Unabhängigkeit, die Einsamkeit schmerzt nicht mehr so sehr, wenn sie selbst
gewählt erscheint. Diese geistigen Einsiedler, immer ein wenig abseits, stehen
doch nahe genug der bunten Gruppen der Selbstdarsteller, um etwas
aufzuschnappen, um so etwas wie Stolz zu entwickeln, dass sie eben nicht dort,
sondern alleine stehen. Sie sind es die zwar am unscheinbarsten, aber am
aufmerksamsten ihre Umgebung betrachten, sie sind das Publikum, ohne das die
anderen Gruppen nicht bestehen könnten und nur, weil sie dies nicht wissen,
stützen sie die, die ihre Blicke immer nur mit Verachtung erwidern.
Und wenn die Bahn Verspätung hat, bemerkt man wie die Masse
aufgeregter wird. „Es kann doch nicht sein, dass die Bahn immer zu spät kommt“
und ähnliche Sätze zeugen davon, dass Kommunikation mehr, als einen
informativen Charakter hat. „Ich habe es eilig“, „ich bin etwas Besonderes“.


Und während sie dort so stehen, diese Individuen, diese
Postmodernisten, nähert sich in der Ferne die Straßenbahn, bereits gut gefüllt
an den vielen anderen Stationen, die alltäglich das gleiche Bild bieten. Die
Entschlossenen treten bereits vor an die weiße Linie, die Übermütigen
überschreiten sie, die Zaghaften finden sich bereits damit ab, dass sie wohl
diesmal keinen Platz bekommen werden, aber doch stirbt die Hoffnung auf den
letzten Wagen erst, wenn die Bremsen quietschen und die Bahn in die Haltestelle
einfährt.

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