Anhalten

Erzählung zum Thema Mutter/Mütter

von  Mutter

Lokführer lässt ICE stehen.
SIEGBURG (dpa)  Ein Lokführer ist beim Stopp seines ICE auf offener Strecke aus dem Zug ausgestiegen und ohne Erklärung weggegangen. Die Passagiere mussten fast eine Stunde auf einen Ersatz-Lokführer warten. Weshalb der Mann den Zug verließ, war am Freitag noch völlig unklar.

Ich weiß nicht, warum Mama nur im ICE auftauchte. Sie hatte sich nicht im Intercity, nicht im D-Zug und nicht in der Regionalbahn blicken lassen. Eigentlich hatte sie mich sogar komplett in Ruhe gelassen, seit ihrem Tod.
Und dann, vor drei Monaten, als ich zum ersten Mal eine Fahrt mit dem ICE übernahm, erschien sie völlig unvermittelt im Cockpit.
Ich schätze, ich sollte froh sein, dass es sich um einen Zug, und nicht um sagen wir, meinen Opel Admiral, gehandelt hatte. Ich weiß nicht, ob ich den Wagen auf der Straße hätte behalten können, wenn Mama plötzlich dort aufgetaucht wäre.

Das tödlichste Tier auf dieser Welt, also das, was die meisten Tode an Menschen zu verantworten hat, ist keinesfalls eine giftige Schlange, oder ein wütendes Nilpferd – Letztere rangieren erst auf Platz Zwei dieser Liste.
Nein, angeblich gebührt diese Ehre der australischen Huntsman-Spinne – ein kapitales Riesenviech, was sich mit Vorliebe in den Innenräumen von Autos einnistet, und während der Fahrt entweder aus der Lüftung, dem Handschuhfach oder hinter der Sonnenblende hervorkommt. Da nützen dann wohl auch die niedrigen Geschwindigkeitsbegrenzungen der Australier nichts mehr.

Meine Mama hätte sicher nicht gerne gehört, dass ich sie mit einer Huntsman-Spinne von dort unten verglich, aber jedenfalls war ich froh, dass ich das Steuer nicht verreißen konnte, als sie dort vor mir erschien. Und ich war froh, dass sich zu dem Zeitpunkt niemand außer mir im Cockpit befand. Ich weiß nicht, wie die Eisenbahner-Gewerkschaft zu Zugführern steht, deren Mütter unmotiviert in den Cockpits der von ihnen gesteuerten Züge auftauchen. Deren verstorbene Mütter.
Ich bin nicht sicher, aber ich stelle mir vor, das könnte ein Kündigungsgrund sein.

Jedenfalls schien sie offenbar nur gekommen, um sich mit mir zu streiten. Über den schlechten Zustand ihres Grabes, und warum sich darauf immer nur Erika und Silberblatt befänden, und niemals Christrosen. Und darüber, dass Onkel Herbert noch einmal geheiratet hatte – wofür nun gerade ich am wenigstens konnte, hatte ich doch schon seit Jahren keinen Kontakt mehr zu Onkel Herbert – und darüber, dass meine Schwester ihr Grab nicht oft genug besuchte.
Ich nehme an, die letzten paar Jahre, die sie an meinem Leben nicht hatte Anteil nehmen können, führten dazu, dass sich bei ihr ein gewisses Bedürfnis an Kommunikation aufgestaut hatte.
Mama hatte sich mir gegenüber schon immer leicht ‚weisungsbefugt’ gefühlt, und daran hatte offenbar auch ihr Tod nichts geändert.

Auf den nächsten Fahrten, manchmal von Hamburg Altona nach Saarbrücken, manchmal von Dortmund nach München Hauptbahnhof und oft von Hamburg Altona nach München Hauptbahnhof, machte sie sich mit geübter Gründlichkeit daran, mein Leben zu sezieren.

Sie beurteilte meine kurze Beziehung zu Kerstin kritisch, wusste natürlich auch genau, woran wir gescheitert waren, und konnte mir sofort sagen, warum Monika mich verlassen hatte. Natürlich, Mama hatte zu allem und jedem eine Meinung, aber zu den Frauen in meinem Leben ganz besonders.
Sie ließ mich nicht zu Wort kommen, schwadronierte darüber, wie ähnlich ich Großonkel Karl doch sei und das es überhaupt ein Wunder war, wenn mich überhaupt eine nehmen täte. Und ob ich endlich dazu gekommen sei, den Zwischenboden aufzuräumen – Frauen würden SEHR genau auf die Zwischenböden von Männern schauen, und ob ich schon einmal daran gedacht hätte, vielleicht auch auf der Arbeit, im Zug, ordentliche Schuhe zu tragen, da besonders Frauen eines gewissen gehobenen Standards aufmerksam auf die Schuhe potentieller zukünftiger Lebenspartner schauten.
Direkt, nachdem sie sich den Zwischenboden angesehen haben, nehme ich an, verkniff mir allerdings jegliche Widerworte.

Ich gestehe, dass ich vermutlich irgendwann das Interesse verlor, und meine Aufmerksamkeit nur mehr vortäuschte. Irgendwo zwischen Siegburg/Bonn und Düsseldorf, nehme ich an.
Tatsächlich schien Mama in den folgenden Monaten gerne kurz vor, nach oder um Siegburg/Bonn herum aufzutauchen, dort in meinem Cockpit des ICE 41, 42 oder 49, je nachdem, welche Schicht ich hatte.
Keine Ahnung, warum. Soweit ich weiß, war sie nie in Siegburg gewesen, vermutlich nicht einmal in Bonn, denn sie hasste alles, was mit dem Niederrhein zu tun hat. Ich wüsste also nicht, warum gerade dieser Ort so sehr als Fokus für ihre Erscheinungen agieren sollte – aber es schien in der Tat so zu sein.
Sie besuchte mich zwar auch auf anderen Strecken, aber dann nie so lange und vor allem nicht so oft wie in und um Siegburg/Bonn herum.

Ich hatte bereits mehrmals erfolglos versucht, nicht mehr im 41er, 42er oder 49er eingesetzt zu werden, und obgleich ich manchmal mit meinen Bemühungen Erfolg hatte, und andere Fahrten zugeteilt bekam, gelang mir dies nicht immer.
Und wenn sich meine Maschine dann unaufhaltsam mit knapp dreihundert Stundenkilometern Siegburg/Bonn näherte, dann wurde mir langsam klamm ums Herz, und ich bekam ein nervöses Zittern im rechten Augenlied. Meine Hände wurden feucht, so dass ich sie wiederholt an meiner Uniform-Jacke abwischen musste, und meine Stirn betupfte ich immer wieder mit meinem Taschentuch.
Ich mochte Mama, damals, als sie noch lebte. Und hatte mir sogar ihre Weisungsbefugnis gefallen gelassen, immer schon. Ich war der gute Sohn gewesen, der, der sich nicht auflehnte, gegen seine Frau Mama, und geduldig alles ertrug, was sie ihm aufbürdete.
Aber je länger sie tot war, umso weniger ertrug ich den Gedanken, für den Rest meines Lebens gemaßregelt zu werden, dort im Cockpit eines ruhig dahinrasenden ICEs, zwischen Siegburg/Bonn und Düsseldorf.

Und heute, als sie gerade wieder anfängt, von ihrem geblümten Kleid, was sie damals nach dem Krieg von Onkel Ulli aus den Staaten bekommen hatte, und davon, was Frau Hasenkamp für ihren Mann wieder für hässliche Kunstblumen auf das Grab gelegt hatte und überhaupt, wie ich wieder aussähe, und ob die kleine adrette Zugbegleiterin vielleicht schon einen Blick auf meine Schuhe geworfen hätte und vielleicht deswegen nicht mit mir einen Kaffee trinken würde, da schüttele ich nur den Kopf.
Nein, Mama, sage ich und schüttele noch heftiger den Kopf. Frau Lohrschmidt würde sicher keinen Kaffee mit mir trinken, völlig egal, was für Schuhe ich tragen würde. Und nein, ich habe mir keine Gedanken darüber gemacht, wie ich heute aussehe. Und den Zwischenboden – den habe ich auch noch nicht aufgeräumt.
Aber ich hatte mir Gedanken darüber gemacht, wie diese Begegnung, die nächste, mit Mama wohl aussehen würde. Und ich lächele, als ich den Bremsvorgang einleite, und zusehe, wie die Maschine auf den nächsten Kilometern langsam zum Stehen kam. Nur noch ein paar Kilometer bis Siegburg/Bonn, und Frau Lohrschmidt ist sicher schon auf dem Weg zum Cockpit. Mama protestiert, ist fassungslos, aber ich höre ihre aufgeregten Tadel kaum. Lächele immer noch.

Ich nehme einen kleinen Feldweg, durchweicht vom Regen der vorherigen Nacht, und ich fühle, wie ich immer wieder tief in die Treckerspuren einsinke. Vor mir steigen protestierend ein paar Krähen auf, und in der Ferne kann ich einen großen Schlepper sehen, der über ein gepflügtes Feld buckelt.
Nach einer Weile bleibe ich kurz stehen, um mir die Uniformjacke auszuziehen. Es ist warm für die Jahreszeit, und immer wieder sticht eine fahle Oktobersonne hinter den dichten Wolken hervor. Langsam drehe ich mich zum Zug um.
Dort vorne, im Cockpit des liegen gebliebenen ICE 42 von Hamburg Altona nach München Hauptbahnhof sehe ich Mama stehen.
Ich hebe die Hand zum Gruß und drehe mich wieder um. Mache mich auf den Weg Richtung Siegen.
Von dort aus kann ich die Regionalbahn nehmen.
Mama mag die Regionalbahn nicht. Sie sagt, dass seien keine ‚echten Züge’.


Anmerkung von Mutter:

Dieser Text folgt dem Aufruf von Steinwolke, zu der voran gestellten dpa Mitteilung einen zugehörigen Text zu schreiben.

Steinwolkes Text findet Ihr hier:  Klick mich, denn Du willst mich!

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Kommentare zu diesem Text

Kitten (36)
(10.12.08)
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 Mutter meinte dazu am 10.12.08:
Danke - aber ich stell' Dir bei Gelegenheit mal Frau Lohrschmidt vor - die ist voll adrett, aber sowas von. Vorher muss ich aber noch meinen Zwischenboden aufräumen ... :D
Steinwolke (65)
(10.12.08)
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 Mutter antwortete darauf am 10.12.08:
Kürzen, kürzen - können wir da der Mama gleich den Mund verbieten? :D
Weil in Siegburg/Bonn kann der ja so nicht stehen bleiben, der ICE ...
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