Willkommensgruß

Roman zum Thema Diebstahl

von  Mutter

Unten am Hafen kam sie gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie sich das Dynastie-Schiff majestätisch um die südliche Mole schob, und Kurs auf den Kai nahm. Sofort schwärmten ein halbes Dutzend kleinerer Boote aus - einige, um den Dreimaster das letzte Stück in den Hafen zu ziehen, andere, um möglichst als erste ihre Waren anzubieten oder eilige Passagiere direkt an Land zu bringen.
Es verging gut eine halbe Stunde, bis die letzten Tampen vertäut waren, und die breite Rampe ausgelegt wurde, um die ungeduldigen Passagiere, die sich an Deck versammelt hatten, endlich von Bord zu lassen.

Einer nach dem anderen passierten sie das letzte schmale Hindernis, das sie von märkischem Boden trennte. Anya hatte Gelegenheit, jeden einzelnen von ihnen sorgsam ins Auge zu nehmen.
Sie hatte auf einem der riesigen gusseisernen Poller etwa hundert Schritt vom Schiff entfernt Platz genommen, und aß kleine Gewürzkuchen, die sie an einem Stand in der Stadt gekauft hatte.
Die ersten drei Passagiere schienen aus demselben Guss zu sein – alle trugen massive, schwarze Plattenpanzer, und unter ihren Sachen befanden sich verschiedenste Waffen. Sie mochten in Wirklichkeit nicht ganz so groß sein, wie die Rüstungen vermittelten, aber sie stellten immer noch beeindruckende Gestalten dar. Es wunderte Anya nicht, dass die anderen Passagiere ihnen sofort Platz gemacht hatten, um ihnen den Vortritt auf der Planke zu lassen.
Sie hatte keine Ahnung, woher die drei stammten, aber es waren vermutlich arbeitslose Kämpfer mit wenig Kupfer in den Taschen, und so schenkte Anya ihnen keine weitere Beachtung. Gute Söldner verdienten genug, um sich Waffen und Rüstungen exzellenter Qualität zu leisten – aber diejenigen, die dem blutigen Handwerk treu blieben, konnten meist nicht mit Geld umgehen. Die, die ihr Kupfer beieinander hielten, suchten sich bald ein weniger gefährliches Handwerk.

Als nächstes kamen mehrere Männer, die sie in engere Erwägung zog. Keiner von ihnen überzeugte sie allerdings vollständig, und so entschloss sie sich, das Risiko einzugehen, und noch eine Weile zu warten. Belustigt beobachtete sie, wie ein schwitzender Dicker ängstlich die Planke betrat, die Arme weit ausgestreckt wie der Seiltänzer, den Anya einmal auf einem Jahrmarkt in Shi’Kaa gesehen hatte. Aber auch ihn ließ sie gehen.

Es gab für sie nur diese eine Möglichkeit, herauszufinden, wo die Reisenden abstiegen. Folgte sie ihnen jetzt nicht, hatte sie kaum eine Chance, sie in der Stadt wieder zu finden. Weiter oben, Richtung Zweiter Kreis, sah sie plötzlich, wie sich eine dürre Gestalt aus den Schatten löste. Mit einem kaum sichtbaren Nicken grüßte sie Larie, und beobachtete, wie sich der Taschendieb an die Fersen des Dicken heftete. Hierarchische Strukturen gab es nicht unter den Dieben in Purassur. Es herrschte eine Art inoffizielle Hackordnung unter ihnen, aber wenn sich Anya entschlossen hätte, sich den Dicken selber vorzunehmen, wäre es an Larie gewesen, zu entscheiden, ob er ihr die Beute streitig machen wollte.
In diesem Fall hätte sie sich allerdings keine Sorgen machen müssen. Sie war schon mehrmals mit dem schlaksigen Zwanzigjährigen aneinander geraten, und jedes Mal hatte sie den Konflikt für sich entscheiden können. Aber es gab andere Diebe, vor allem ältere, die sich von ihr nicht so leicht beeindrucken ließen. Erneut wandte sie ihre Aufmerksamkeit dem Schiff zu.
Nachdem zwei Gruppen und einige Einzelreisenden in schäbigen Kleidung und wenigen Habseligkeiten die Planke herunterkamen, begann sie, unruhig zu werden.
Vielleicht hätte sie nicht so gierig sein sollen. Vielleicht hätte sie einen der ersten Händler nehmen sollen. Den in dem grünen Samtrock, oder den Dicken, der sich in einem fort die Stirn wischte. Ihre Mutter hätte den Dicken genommen, ganz bestimmt.
Sie hatte Anya häufig gescholten, dass sie zu risikobereit für ihren Beruf sei. Wenn man vorsichtig blieb, konnte man die Gefahr fast ganz minimieren, hatte ihre Mutter immer gepredigt. Aber Anya hatte von ihrer Mutter zwar das Talent, nicht aber die Vernunft geerbt, musste sie sich mit einem Lächeln eingestehen.



Eben hüpfte ein Junge leichtfüßig auf die Holzbohlen und tanzte mit erhobenen Armen auf den Kai hinunter. Mit wachen Augen sah er sich um, und sein Blick fiel kurz auf Anya. Als er bemerkte, dass sie die Augen nicht senkte, lächelte er ihr frech zu und wandte sich dann übertrieben ab. Aber nicht, ohne noch ein weiteres Mal zu ihr zurückzublicken.
Ihre Aufmerksamkeit wurde jedoch von einem anderen Detail eingenommen. Seiner Kleidung nach zu urteilen schien er nur ein weiterer armer Schlucker zu sein, der sein Glück in Purassur versuchen wollte. Aber seine weichen Schuhe befanden sich in einem guten Zustand, und als er sich umdrehte, hatte sie unter seiner kurzen Jacke die Griffe von zwei Dolchen sehen können. Dieser Junge stellte vermutlich mehr dar als nur einen verschnupften Bettlerjungen. Aber diese Erkenntnis machte ihr nur noch einmal deutlich, dass sie in ihrer Mission am Hafen versagt hatte. Keine Beute für Anya heute Abend.

Sie schob sich den letzten Kuchen in den Mund und wollte eben aufstehen, als eine schlanke Gestalt auf der Planke ihre Aufmerksamkeit erregte. Eine einfach geschnittene Jacke und eine dunkle Hose verrieten erst auf den zweiten Blick den guten Schneider. Jemand, der nicht mit seinem Geld prahlte, aber dennoch welches besaß. Solche Leute gefielen ihr.
Zufrieden hielt Anya inne, und betrachtete das schmale Gesicht mit den hoch sitzenden Wangenknochen. Der Dynastie-Mann ließ seine Augen aufmerksam über das Treiben am Hafen gleiten, und sie wandte den Kopf zur Seite, um seinem Blick nicht zu begegnen. Erst als er von der Planke trat, und auf die Stadt zusteuerte, verließ sie ebenfalls ihren Posten und folgte ihm unauffällig.

Es hatte inzwischen begonnen zu dämmern, und die Menge auf den Straßen lichtete sich. Anya war dankbar, dass das Spitzgesicht sich nicht allzu viel Zeit bei seiner Suche nach einer Unterkunft ließ.
Seine Wahl bestätigte ihre frühere Vermutung. Der ‚Fasan‘ stellte keines der edelsten Häuser dar, bot aber gute mittlere Qualität, und lag nicht weit entfernt sowohl vom Kontor-Viertel der Händler als auch vom Schmiede-Viertel.
Während der Fremde in dem hell erleuchteten zweistöckigen Haus verschwand, machte es sich Anya in einem Hauseingang schräg gegenüber bequem. Falls sie Glück hatte, würde Spitzgesicht heute Abend noch den ersten Gang wagen – und er würde mit Sicherheit seine Börse mitnehmen, aus Angst, ein gutes Geschäft ohne Gold nicht abschließen zu können.
Bis jetzt hatte sich seine Geldkatze vermutlich in seinem Gepäck befunden, sicher verstaut und versteckt, und ohne Möglichkeit, selbst für einen guten Taschendieb, Zugang zu bekommen. Das würde sich hoffentlich jetzt ändern.

Jedes der Schiffe, das den Hafen von Purassur anlief, brachte Kaufleute und Geschäftsreisende, die hier profitable Geschäfte tätigen wollten. Und die meisten trugen dafür Gold bei sich. Natürlich wussten sie, dass es in einer Stadt wie dem Freihafen von Langfingern wie Anya nur so wimmelte, und natürlich gaben sie sich größte Mühe, immer auf ihr Gold zu achten, und es möglichst sicher am Körper zu verstecken. Aber all das störte Anya nicht, bedeutete kaum ein Hindernis für sie.
Die tatsächliche Herausforderung bestand darin, die Leute schon am Hafen richtig einzuschätzen. Manchmal suchte sie sich den Falschen aus, jemand, dessen Börse nichts als Kupfer enthielt, und dann konnte sie den Blender nur leise verfluchen. Oder sie wurde zu übermütig, wie es ihr heute fast passiert wäre, und ging ganz ohne Opfer aus.

Und im schlimmsten aller Fälle machte sie alles richtig, aber ihr Opfer hatte entweder Ware an Bord, die es zu verkaufen dachte, und damit entsprechend wenig Bares in den Taschen, oder besaß einzig unangenehme Dinge wie geschriebene Geldanweisungen. Papiere, die für Anya wertlos waren, und die sie nur manchmal für einen Bruchteil ihres Wertes an Warrot den Wanst verkaufen konnte.
Jedes Mal, wenn sie eines der sorgfältig beschriebenen Papiere in den Händen hielt, fühlte sie sich persönlich betrogen. Dann war ihr, als könnte sie den Bestohlenen in einer entfernten Gasse hohnlachen hören, ob der vergebenen Mühe, die sie sich gemacht hatte. Das war natürlich kindisch, aber in ihr blieb das Gefühl, dass die Leute lieber ehrliches Gold mit sich herumtragen sollten. Sie tat das schließlich auch.
Anya erhob sich langsam, als sie Spitzgesicht aus der Herberge treten sah. Er orientierte sich kurz, und machte sich dann auf in Richtung Nordosten, dort, wo sich die Tuchhändler befanden. Anya wusste nicht genau, wo sich sein Ziel befand, und wie viel Zeit sie hatte, und so schloss sie schnell zu ihm auf.
Schon bald bot sich eine gute Gelegenheit. Eine Gruppe Jugendlicher, offenbar angetrunken, nahm fast die gesamte Breite der Gasse ein, und gab sich keine Mühe, dem Spitzgesicht Platz zu machen. Als er von einem der Burschen an die Wand gedrängt wurde, und seine Bluse fast mit Met ruiniert bekam, befand sich Anya direkt hinter ihm. Mit einem drohenden Blick entfernte er sich von der Gruppe, nachdem sie ihn hatten passieren lassen, und bemerkte weder, dass sich jetzt ein junges Mädchen bei den Männern befand, noch, dass seine Börse fehlte.
Gutgelaunt lächelte Anya einem der Jungen zu, als er sie bemerkte.

‚Hey, wo kommst du denn her?‘ bemühte er sich mit schwerer Zunge zu sagen. Scheinbar leicht überfordert, machte er einen seiner Begleiter auf Anya aufmerksam. Schon bald hatte die Gruppe sie umringt, und bot ihr von verschiedenen Seiten etwas zu trinken an.
‚Vielen Dank, lieber nicht. Aber hier ist etwas für Eure Bemühungen.‘ Sie hatte die Hand des Ersten ergriffen, und drückte ihm ein Silberstück in die ausgestreckte Hand. Dann schloss sie seine Finger darum, und beobachtete, wie er verständnislos auf das Geld starrte.
‚Bleib‘ noch ein bisschen‘, sagte einer von ihnen, als sie sich zum Gehen wandte und packte sie am Ärmel ihrer Jacke.
Mit einer schnellen Bewegung machte sie sich los und zog gleichzeitig ihren Dolch, dem sie ihm in die kurzen Bartstoppeln drückte.
‚Amüsiert Euch ohne mich‘, sagte sie drohend, aber mit einem Lächeln.

Die Botschaft schien sich ihren Weg durch den Nebel des Alkohols gebahnt zu haben, denn er nickte nur, und öffnete für Anya den Kreis. 
Ohne einen weiteren Blick zurück lief sie die Straße hinunter, Richtung Fremdenviertel. Mehrere Häuserecken später hielt sie kurz an, um den schweren Geldbeutel, dem sie Spitzgesicht abgenommen hatte, zu untersuchen. Er übertraf ihre kühnsten Erwartungen.
In dem Beutel befanden sich weit über zwanzig Münzen, allesamt aus Gold. Soviel Geld hatte sie in ihrem Leben noch nicht auf einmal besessen. Auf jeder von ihnen befand sich ein merkwürdiges Bild von einem Krokodil oder einer Echse.
Mit einem schnellen Blick sah sie sich um, und musste dann über sich selbst lächeln. Ihre Mutter hatte immer gesagt, eine Diebin müsse aufpassen, dass sie nicht zuviel stahl. Denn dann gehörte sie zu den Reichen, und die Reichen wurden bestohlen. Und es sei für niemanden schlimmer, bestohlen zu werden, als für einen Dieb.

Es gab ein paar alte Schulden, die sie zu begleichen hatte, aber das würde ihr immer noch den Großteil des Geldes lassen – und sie hatte keine Ahnung, was sie damit anfangen sollte.
Sie stahl nicht aus Notwendigkeit – meistens jedenfalls nicht. Eine Börse in der Woche, etwas Essen hier und da, würde für ihre Bedürfnisse völlig ausreichen. Sie stahl, weil sie es konnte. Es war das, was ihre Mutter ihr beigebracht hatte, und von dem sie wusste, dass sie gut darin war. Für einen Moment überlegte sie, ob sie dem Spitzgesicht sein Geld zurückgeben sollte, vielleicht, um zu sehen, ob sie es ihm einige Stunden später wieder abnehmen konnte. Aber dies stellte nicht mehr als einen kurzen Gedanken dar, so wenig schätze sie den Wert des Goldes nicht.

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Kommentare zu diesem Text

TeBö94 (23)
(16.05.14)
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 Mutter meinte dazu am 19.05.14:
Hey TBö94,
vielen Dank für Deinen Kommentar.

Es wird leider zu dem Roman hier auf KV keine Fortsetzung geben, ich habe schon vor Jahren aufgehört, Texte einzusetzen.
Zu dem Roman gibt es zwar noch deutlich mehr Text, der wird aber wohl nie hier landen.
Prosa, noch dazu Romane und dann auch noch Fantasy haben hier letztendlich einfach zu wenig Leser.

Lieben Gruß, Mutter
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