Der Auserwählte

Erzählung zum Thema Andere Welten

von  Isaban

Langsam wurde ihm kalt. Jetzt stand er schon seit einer geschlagenen Stunde auf der Brücke und nichts tat sich. Einen Augenblick lang überlegte er, ob es wohl die Uniform war, die seine außerirdischen Freunde davon abhielt, ihn endlich holen zu kommen. Schlussendlich kannten sie ihn ja nur im Pyjama oder nackt. Oder ob es vielleicht das Tageslicht war? Standhaft hielt er aus, denn schließlich war heute der große Tag, der Tag, auf den er seit seiner Kindheit vorbereitet wurde. Und große Tage gehen nun einmal nicht ohne kleinere, mittlere oder größere Opfer ab. Und was war schon ein bisschen Frieren als Gegenleistung für eine völlig neue, völlig unbekannte Welt, in die sie ihn gewiss bringen würden!

Nach und nach wurde es Abend. Karl hüpfte vor Kälte von einem Bein auf das andere und sang Weihnachtslieder vor sich hin, um die Zeit bis zum großen Ereignis zu überbrücken. Stihille Nacht. Heilige Nacht. Nicht unbedingt, weil ihn die Situation wirklich an so etwas wie Weihnachten erinnerte, hauptsächlich, weil es das einzige Lied war, dessen Text er auswendig kannte. Er bereute zutiefst, dass er nicht die dicke Winterjacke angezogen hatte und noch mehr, dass er Nichtraucher war. Raucher hatten wenigstens Streichhölzer dabei und damit hätte er sich ein Feuerchen machen können, zum Aufwärmen.

So richtig verlor er schließlich die Lust, auf das große Ereignis zu warten, als es so etwa gegen 23 Uhr begann zu nieseln, um dann gegen Mitternacht orkanmäßig in regelrechte Sintfluten umzuschlagen. Bei seiner nächsten Entführung sollte es möglichst Sommer sein. Oder mindestens Mai. Das würde er den Graugesichtern sagen, wenn sie endlich kamen. Mittlerweile hüpfte und trippelte er nicht nur wegen der Kälte, auch seine Blase schien sich gegen ihn verschworen zu haben. Bei seinem Glück würde das Ufo genau in dem Augenblick auftauchen, in dem er seinen Strahl in den Wind stellte. Nein, so was sollte man sich verkneifen. Zumindest solange man kann. Wenn man kann. Nun ja, wer weiß, sie hatten schließlich immer schon viel Interesse an seinem Penis gezeigt. Soweit er sich erinnerte.

Als es schließlich dämmerte und er einsehen musste, dass da bei der Kommunikation mit seinen extraterrestrischen Bekannten etwas schief gelaufen zu sein schien, zog er sich das zuvor ufoerscheinungs- und blasentaktisch prophylaktisch abgelegte Kleidungsstück erleichtert wieder an. Vorhin war es ihm noch unwichtig erschienen, aber inzwischen konnte er sich die Aufregung gut vorstellen, die das Verlassen des ICEs auf offener Strecke verursacht hatte. Sein Chef würde außer sich sein. Und seine Mutter wohl noch außersicher. Er sah die alte Dame regelrecht vor sich, wie sie ihre Finger wrang, und vor sich hinmurmelte:
„Man weiß ja, wo sowas endet!“

Mist aber auch. Immer, wenn er grade glaubte, dass er endlich beweisen könnte, wie sehr ihn alle, alle, aber auch wirklich alle falsch einschätzten, passierte irgendwas, das ihn wieder in ein schräges Licht setzte. Aber wer weiß, vielleicht gehörte das ja auch zum großen Plan, vielleicht war das ja eine von den geschickt ausgetüftelten Sicherheitsmaßnahmen, damit der Auserwählte sich nicht zu früh verriet, damit keine Neider angelockt wurden, so eine Art eingebaute Sicherung, damit nicht irgendwann einmal der Falsche auf der Brücke steht. Schließlich hatte ja selbst Jesus nicht so besonders auserwählt ausgesehen, als er da am Kreuz bammelte. Täuschen und Tarnen, irgendwie logisch, oder? Aber es zeigte auch ganz, ganz deutlich, wie sowas enden kann.

Karl zumindest hatte jetzt endgültig die Schnauze voll vom Auserwähltsein, zog die Nase hoch und begann, die Böschung zu den Schienen hinunter zu steigen. Er konnte nicht mehr nach Hause, Kreuzigung hin oder her. Da wählte er dann doch lieber den Todeskuss des ICE 815. Das ging schneller und war moderner. Und gründlicher.
Die Gegend unter der Brücke kam ihm seltsam bekannt vor. Na klar, er kannte die Umgebung, schließlich fuhr er fast täglich mit seinem Zug hier durch, aber er konnte sich nicht erinnern, sich je bei irgendeiner Gelegenheit die Unterführungswände so genau angeschaut zu haben, dass ihm die Sprüche, die diese verrückten Halbstarken dort hingeschmiert hatten schon durch den Kopf geisterten, noch bevor er sie zu Ende gelesen hatte.

Na, egal. Wahrscheinlich war der sicherste Ort, um sich gekonnt überrollen zu lassen die Tunnelmitte. So schnell war ein richtiger ICE schließlich nicht zu bremsen, wenn der Zugführer erstmal grünes Licht bekommen hatte. Zugführer. Kurz grübelte er, wer wohl heute Dienst hatte, wem sie wohl seine Schicht aufgebrummt hatten. Wahrscheinlich dem Kuntze. Heinzi Kuntze. Der nahm doch jede Überstunde mit, hatte zuhause acht Mäuler zu stopfen. Heinzi.
Und wenn der jetzt einen Schock bekam und ein Trauma oder so was und dann nicht mehr arbeiten konnte? Wer sollte dann für all die kleinen Kuntzes sorgen? Und wahrscheinlich war Frau Kuntze schon wieder guter Hoffnung und bekam einen Blasensprung, wenn sie hörte, dass ihr Mann...

Nein, kein guter Plan. Er musste sich etwas anderes überlegen. Vielleicht etwas weniger Drastisches. Wie Untertauchen oder so. Untertauchen klang doch gut! Noch halb in Gedanken drehte sich Karl um und wanderte, eng an die Tunnelwand gedrückt, falls der 815er ein paar Minuten zu früh dran war, wieder dem Ausgang zu, als er über zwei Frauenbeine stolperte.

Gummistrümpfe und Gesundheitsschuhe Größe 39. Die sahen fast aus, wie die hässlichen Schuhstrafen, die Frau Eberle meistens trug. Frau Eberle, die in seinem Haus immer über alles Bescheid wusste, das Flurputzen überwachte und die er seit mindestens fünf Tagen nicht mehr im Hausflur getroffen oder hinter ihrem Spion erblickt hatte. Und sie sah gar nicht gut aus, so ohne ihren Hauskittel.

„Frau Eberle, ist Ihnen nicht wohl, ist alles in Ordnung?“, fragte er. Mehr pro forma und aus anerzogener Höflichkeit, denn ihr Kopf lag ordentlich auf einer Apfelsinenkiste, etwa drei Meter weiter, so, als sollte sie sich selbst mit ihren empört aufgerissenen Augen beobachten. Zuschauen. Bei was auch immer. Das sah jetzt nun so ganz und gar nicht nach natürlicher Todesursache aus. Karl schluckte. Den Verlust von Frau Eberle konnte er ja noch verkraften. Auch den Anblick des vielen Blutes, zumal jenes höchst rücksichtsvoll im Schatten lag. Aber was da unter der Kilroy-Zeichnung, direkt über dem Leib der toten Frau mit rostroter Farbe an die Wand geschmiert stand, das war einfach eine Unverschämtheit und auf jeden Fall etwas, das sich gegen ihn persönlich richtete.

Siggi was here! Als hätten sie gewusst, dass die Außerirdischen ihn versetzen würden.
„Verdammtes Pack! Glaubt bloß nicht, dass Ihr mich fertig machen könnt!“, brüllte er.
„Ich weiß, wo sowas endet!“


Anmerkung von Isaban:

Aufgebaut auf:


  Anhalten: Karl

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Kommentare zu diesem Text

KeinB (29)
(24.12.08)
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 Isaban meinte dazu am 24.12.08:
Ach weißt du, die Jungs haben Ferien. Irgendwo muss man sich schließlich abreagieren.
KeinB (29) antwortete darauf am 24.12.08:
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 Lars (24.12.08)
hihi, genau mein humor, liebe bine. besonders die stelle: "Das sah jetzt nun so ganz und gar nicht nach natürlicher Todesursache aus." , hat es mir echt angetan.

ich wünsche dir ein frohes weihnachtsfest . . . und immer schön den kopf behalten, ohne schreibt es sich so schlecht;-))

lars

 Isaban schrieb daraufhin am 24.12.08:
Ich geb mir alle Mühe!
Frohe Weihnachten, Lars
und viele liebe Grüße,
Sabine
managarm (57)
(24.12.08)
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 Isaban äußerte darauf am 24.12.08:
Herzlichen Dank, lieber Frank.
(Mit Scheinheiligkeit kann ich auch nicht so wirklich gut umgehen, dann lieber ein mörderisches Lächeln. )

Ich wünsche dir schöne Feiertage und ein Weihnachten ganz nach deinem Geschmack.

Liebe Grüße,
Sabine

 AZU20 (24.12.08)
Morden, und das zu Weihnachten? Ganz schön frech, Sabine. Dir und denen, die Dir nahe stehen, ein frohes Weihnachtsfest. LG

 Isaban ergänzte dazu am 24.12.08:
Hihi, guck mal, das ist doch herrlich, oder? :-D

Veröffentlicht am 24.12.2008, 3 mal
überarbeitet (letzte Änderung am
24.12.2008). Dieser Text wurde bereits
73 mal aufgerufen; der letzte Besucher
war weg am 24.12.2008.


Liebe Grüße und auch dir (und weg!) ein schönes Weihnachtsfest,

Sabine

 Reliwette (24.12.08)
Der arme Zugführer! So eine saftige Paranoia! Das ist überhaupt nicht komisch- soll es wohl auch nicht sein....
Manchmal scheint es mir, dass solche Menschen u.a. auch Regierungsbänke drücken....
Winke mal rüber - vom Deich ins Binnenland!

Der Meermann

 Isaban meinte dazu am 24.12.08:
Du, den Verdacht hatte ich auch ab und an mal!

Meermann, ich wünsche dir und deinen Lieben zum Fest nur das Allerbeste,
ganz viel Glück, Gesundheit und Zufriedenheit.
Genießt die Feiertage.

Liebe Grüße,
Sabine

 Didi.Costaire (24.12.08)
Liebe Sabine,

schon in der ersten Zeile wird die arme Stunde geschlagen, doch dann ist es erstmal vergleichsweise friedlich. Ein paar wirre Gedanken, ein bisschen Respektlosigkeit seitens des Prots gegenüber weiblichen Wesen. Bis

ja bis... uuaaah!

Ich frage mich, wie du die Geschichte in nur noch einem Teil auflöst. Bin gespannt.

Liebe Grüße und schöne Feiertage!
Dirk

 Isaban meinte dazu am 30.12.08:
Schau dich nicht zu auffällig um, wenn du seltsame Schritte hitner dir hörst, sonst fühlt er sich noch beobachtet.
Danke für deine Rückmeldung, Dirk.
Liebe Grüße,
Sabine
Steinwolke (65)
(30.12.08)
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 Isaban meinte dazu am 30.12.08:
Du, was meinst du wohl, warum ihm dort alles so bekannt vorkommt und warum zufällig die Hausmeisterin dort alles aus erhöhter Position beobachtet?

Ach, vielleicht morde ich doch zu subtil. Ich denke drüber nach.
Vielen Dank für deine Rückmeldung, liebe Grüße und die besten Wünsche für einen guten Rutsch,
Sabine
Elvarryn (36)
(17.03.09)
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 Isaban meinte dazu am 17.03.09:
Los, aufzählen, ich bügle.
Elvarryn (36) meinte dazu am 17.03.09:
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Misanthrop (31) meinte dazu am 17.03.09:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
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