31. Spekulatius und Milch [31]

Schundroman zum Thema Begegnung

von  DIE7

Leises Schnauben weckte Fynn.

Seit zwei Tagen schon verbrachte Lander seine Tage in der Ruine am Hafen, lauschte, was der Jätti im Stockwerk über ihm trieb und zerbrach sich den Kopf, wie er es anstellen solle, den Wilden einfangen und zurück nach Suomen Lappi bringen zu können. Egal, was er ausbrütete, am Ende aller Phantasien sah er sich wie ein Gänseblümchen zerpflückt in Fetzen liegen. Der Jätti gehörte einer sehr scheuen Spezies an, die sich, wenn sie sich bedroht fühlte, mit Bärenkräften zur Wehr zu setzen wusste. Wie also sollte er einen Jätti in die Enge treiben und einfangen? Fynn hatte sich vorgenommen, den Riesen nicht aus den Augen zu verlieren, bis er eine Lösung für dieses Problem gefunden hätte. Ein Vorsatz, der überraschend einfach umzusetzen war, da der Jätti bislang keine Anstalten gemacht hatte, das Dachgeschoss zu verlassen. Jedenfalls nahm Landers das an, den Ausflug des Jätti in die Stadt hatte er verschlafen.

Doch gerade jetzt, wo Fynn wieder ein wenig eingenickt war, hatte der Jätti sich auf Nahrungssuche gemacht und machte sich an Landers Vorräten zu schaffen. Der lag auf seinem Matratzenlager, hielt den Atem an und blinzelte aus halb geschlossenen Augenlidern hervor. Der Jätti war auf Armlänge herangekommen und schnupperte am Päckchen mit den Spekulatius, zupfte einen Fetzen aus der Packung, dass die Kekse zu Boden purzelten. Der rote Riese setzte sich mitten hinein und ließ sich einen nach dem anderen schmecken. Der Hunger wird ihm jegliche Scheu vor dem Menschen genommen haben, dachte sich Fynn. So nah war er noch nie einem Jätti gekommen, damals, als er zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts noch am Korvatunturi Fallen stellte. Selbst für einen Waldläufer wie ihn hatte der Anblick eines Jätti Seltenheitswert, waren die doch schon zu dieser Zeit so selten geworden, dass man die Geschichten über sie für Schauermärchen hielt. Der Riese roch ein wenig streng. Was Lander nicht auffiel, war, dass auch er nach ein paar Tagen in der Ruine, so ganz ohne Waschgelegenheit, dem Jätti in nichts nachstand, was die Duftnote anging. Der führte soeben einen Spekulatius zum Mund, schaute zum scheinbar schlummernden Lander hinüber und zog die Nase kraus. Fynn gluckste.

Erschreckt fuhr der Jätti zurück, um im nächsten Moment unter drohendem Grunzen vorzuschnellen. Dabei packte er die Kekspackung und riss sie an sich, dass weitere Keksstücke herausgeschleudert wurden. Fynn vermied, der Bestie direkt in die Augen zu starren, zum einen, weil er den roten Riesen nicht unnötig provozieren wollte, zum anderen roch dessen Atem nach Kardamon, Zimt, Nelken und ungeputzten Zähnen – eine Würze, die selbst den stärksten Seemann dazu bewogen hätte, das Gesicht ab- und die Nase frischer Luft zuzuwenden.
“Schon gut, schon gut, bist ein braver Junge“, versuchte er zu beschwichtigen, bemühte sich um eine ruhige, tiefe Tonlage und vermied jede Hektik, obgleich ihm das Herz im Hals schlug und er lieber aufgesprungen und weggelaufen wäre.
“Hrmm“ – kam vom Jätti zurück, schon um etliches freundlicher. Fynn wandte sich ihm zu und fand den Jätti wieder in den Verzehr der Kekse vertieft, die der Pflaumenkopf ihm im Lagerhaus hatte zukommen lassen. Die Milch! Landers griff nach dem Tetra-Pack und öffnete ihn vorsichtig.
„Hier, guter Junge, nimm das hier, hmmm“, schmatzte Lander dem Jätti vor, „mniammi, lecker, lecker – schau, was ich hier Gutes für dich habe – Milch!“ Lander streckte den Arm aus und hielt dem Jätti die Milch hin, nervös, die Milch schwappte und gluckste lustig über den Rand.
“Uh hmmm…“. Zögerlich nahm der Jätti Witterung auf, schnupperte in Richtung Lander und Milch, dann tastete er behutsam vor und holte sich mit weichem, aber sicherem Griff die Milch, roch daran und trank davon mit kleinen Schlucken, vergewisserte sich dabei immer wieder, dass Lander keine Anstalten machte, sich auf ihn zu stürzen.

So verharrten sie beide noch ein ganze Weile. Als der Jätti sich erhob und mit den restlichen Keksen in Richtung Dachgeschoss aufbrach, folgte ihm Fynn, ohne sich dabei aufzurichten, vermied jedes Anstarren und sprach in ruhigem Tonfall sinnloses Zeug vor sich hin, um den Riesen seiner Friedfertigkeit und freundlichen Gesinnung zu vergewissern. Zwar machte der Jätti auf dem Treppenabsatz noch einmal kehrt und grunzte drohend in Richtung seines ungewohnten Schattens, doch ließ er zu, dass Lander ihm ins Dachgeschoss folgte. Dort sah der Kapitän das Nest, das der Jätti sich aus Säcken und Matratzen zurechtgemacht hatte, sah die Tüten mit dem Werbeaufdruck des Jesterfielder Weihnachtsmarktes und auch, dass es keinen anderen Weg hinaus als den über die Treppe gab. Dann machte der Nordmann kehrt, ließ dem Jätti eine Verschnaufpause und dachte nach. Er durfte den Jätti nicht aus den Augen lassen. Die Tüten stammten aus der Stadt. Irgendwann würde der Hunger ihn wieder in die Stadt treiben. Nicht auszudenken, was alles passieren könnte, wenn der Jätti dort gesehen würde oder gar auf Menschen wie die drei vom Hafen träfe.

Fynn Lander musste einen Weg finden, den Jätti ohne großes Aufsehen einzufangen, und ihm schwante, dass dies unmöglich wäre. Was das Vermeiden von Aufsehen anging, aber auch das Einfangen selbst schien ihm unmöglich. Gerade so unmöglich wie Zeitreisen, dachte Lander und schmunzelte, amüsiert, aber nicht überzeugt …

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