Freebase

Erzählung zum Thema Hilfe/ Hilflosigkeit

von  Mutter

Kurze Zeit später bin ich wieder auf der Straße - auf dem Weg zum Filius.
Es dauert nur einen Moment, bis mir klar wird, wo sie mich hingebracht haben. Dass ich mich in Kreuzberg befinde. Irgendwo im Wrangelkiez. Quasi in Spuckweite vom Friedrichshain entfernt.
Obwohl mein ganzer Körper schmerzt, peitscht mich eine Mischung aus Angst und Wut vorwärts. Furcht, der Filius könnte verschwunden sein, auf einer Familienfeier der Türken, und Ärger darüber, dass ich den ganzen Tag nur hatte einstecken müssen. Ohne auszuteilen.
Okay, ohne viel auszuteilen.
Über die Spree, über die Oberbaumbrücke. Hier stinkt es wie jeden Tag bestialisch nach Pisse. Wäre so einfach für die Idioten, ins Wasser zu pinkeln. Machen sie aber nicht. Ich atme durch den Mund.

Ich schlage ein paar Haken, warte immer wieder kurz ab. Stelle sicher, dass mir niemand folgt. Mich niemand sieht. Betrete den Hauseingang vom Hinterhof her.
Das Treppenhaus ist leer.
Die Wohnungstür vom Filius ist noch zu. Ich schließe auf, schlüpfe vorsichtig hinein. Der Flur ganz still.
Langsam arbeite ich von Zimmer zu Zimmer, aber in der Wohnung ist niemand. Kein Filius, keine Türken. Nirgendwo sind Spuren eines Kampfes zu sehen. Wenn der Filius ihnen nicht die Tür aufgemacht hat, und dann freudestrahlend mitgegangen ist, ist er wohl einfach raus. Gut, dass wir drüber geredet haben. Dreckige Mistratte. Treibt sich jetzt irgendwo in Friedrichshain rum, auf der Suche nach Stoff vermutlich.

Ich durchsuche methodisch und schnell die ganze Wohnung. Suche einen Hinweis, Telefonnummern, irgendwas. Auf dem zugekruschten Schreibtisch finde ich zwischen Alufolie, jeder Menge Papier und zwei mit Wasser gefüllten Bongs ein paar Fotos. Polaroids.
Bilder von den zwei türkischen Mädchen – die sehen völlig zugedröhnt aus. Nackt.
Mal von oben, mal von hinten. Manchmal ist nur eine drauf, auf anderen sehe ich beide. Und auf einigen kann ich einen Schwanz, vermutlich vom Filius, bewundern.
Die beiden sehen höchstens aus wie sechzehn, siebzehn.
Immerhin sind die noch lebendig auf den Bildern.
Ich feuere die Polaroids in die Ecke. Fluche ausgiebig, finde keine Worte für die Dummheit dieses Penners. Völlig egal, ob er sie wirklich umgebracht hat oder nicht – allein für diese Bilder würden ihm die Türken die Haut abziehen. Dieser Schwachkopf. Ich hätte ihn bis zum Dönermann treten sollen, als ich noch die Chance dazu hatte.
Fuck.
Fuckfuckfuck.
Ich atme tief durch.

Was ich jetzt tun sollte, ist ganz einfach. Ich sollte Mister Dougherty anrufen, ihm sagen, dass sein Filius mir leider abhanden gekommen sei. Dass es mir unendlich leid tue, und ja, dass ich wisse, was für ein nutzloser Penner ich sei. Ich sollte auflegen, und den ganzen Job als Verlustgeschäft abschreiben. Sollte es dem Lauf der Dinge überlassen, ob der Filius schneller, cleverer oder einfach glücklicher ist als die Daltons.
Aber das kann ich nicht.
Noch so ein verficktes geas.
Nachdem ich noch ein bisschen wie ein autistischer Käfigtiger in der Wohnung herumlaufe, von einem Ende zum anderen, versuche ich nachzudenken. Wo könnte Filius jetzt sein, wohin könnte er sich gewandt haben? Ein bisschen Zerstörungswut hilft meinem Hirn auf die Sprünge. Die Bongs fliegen in einen fleckigen Spiegel, den fast leeren Papierkorb trete ich in die Ecke. Rund ist der danach nicht mehr.
Was würde er machen, um von mir wegzukommen?
Denk nach, Corker, denk nach.
In Gedanken lasse ich den Fernseher auf den Teppich knallen, die Bildröhre implodiert. Das Bücherregal mit Fantasy-Trash übergibt sich beim Umfallen auf den Boden. Mit der Schuhspitze schiebe ich ein paar von den Büchern zur Seite – fast ausschließlich muskulöse Kerle und dicke Titten auf den Covern. So sieht’s aus, Junior, das pralle Leben.
Irgendwie glaube ich nicht dran, dass der dämliche Penner hier einfach rausspaziert ist. Dafür ist der viel zu träge. Ich checke den Tisch. Da liegt ein Stück Alufolie mit weißem Stein. Freebase. Koks. Und das dazu gehörige Feuerzeug.
Der Junkie geht doch nie hier raus und lässt die Scheiße liegen.
Also waren die Jungs hier. Während ich nachdenke, lasse ich einen hässlichen Garderobenständer auf einen Glastisch fallen.
Ich sehe sie vor meinem geistigen Auge: Lucky Luke und die vier Daltons, schnaufen im Gänsemarsch die Treppe hoch. Einer mit einem Softdrink in der Hand, ein anderer mit Köfte. Was noch, Corker, was noch? Essen gleich Müll.
Ich gehe in die Küche, leere den Mülleimer in Form einer Plastiktüte auf dem Fußboden aus. Kicke mit dem Fuß ein wenig in dem Dreck rum, bis ich eine leere Packung ‚Halley’ finde – Schokokekse. Direkt aus der Türkei. Bingo.
Okay, sage ich mir und stelle mich in den Flur. Hier kann ich besser denken. Weniger statisches Rauschen durch Juniors verkorkstes Leben.
Ich checke noch mal die Tür – keine Spuren von Gewalt. Die Wichser haben die Tür mit einem Dietrich aufgemacht. Oder geklingelt. Und der Penner hat reingelassen.
Dann haben sie ihn einfach eingetütet und mitgenommen. Zwischen die Jungfernhäutchen gequetscht - gewehrt hat er sich bestimmt nicht.

Unten im Hof stiere ich in den Himmel. Macht das meine Lage besser? Zu wissen, dass sie ihn haben? Unwesentlich.
Den Anruf bei Mister Dougherty spare ich mir fürs Erste. Obwohl ich nicht weiß, wie viel Zeit ich habe. Bis sie ihn ausnehmen wie einen Fisch, und die leere, ausgeweidete Hülle in die Spree schmeißen.
Gehört die Spree hier zu Friedrichshain oder Kreuzberg? Keine Ahnung.
Mit gesenktem Kopf setze ich mich wieder in Bewegung, zurück über die Brücke.
Zum Café, zu dem Vereinshaus der Türken in Kreuzberg. Das ist die einzige Spur, die ich habe.
Kurz darauf stehe ich an der Ecke, kann sowohl den Vordereingang als auch den Parkplatz dahinter beobachten. Auf diesem Parkplatz bin ich raus gekommen, nach dem Intermezzo auf dem Männerklo. Hab’ die grüngestrichene Feuerschutztür zugeschlagen und bin weg.
Weder der Dreier noch der Siebener stehen auf dem Platz, und ich klappe den Kragen meiner Jacke hoch. Muss warten.
Bin ohnehin nicht davon ausgegangen, dass sie Junior hier fertigmachen. Einem Iren kann man mitten im Café vielleicht noch die Fresse polieren, um ein paar Antworten zu erhalten. Stört ja keinen. Aber so einen Junkie mit Verbindungen zum Organisierten rituell die Eingeweide rausnehmen – das macht man doch besser woanders.

Zwei, drei Stunden verstreichen, ich gehe zwischendurch nur kurz zu einer freien Grünfläche, um an einen Busch zu pissen. Werfe beim Pinkeln kurze Blicke über die Schulter.
Zehn Minuten später kommt einer von den Daltons hinten raus, hat sich gerade noch was in den Mund geschoben. Kreuzt weiter oben die Straße und ich löse mich von der Ecke, folge ihm.
Es ist jedenfalls nicht mein Freund vom Pissoir – die anderen drei kann ich nicht auseinander halten. Vielleicht sollte ich alle vier markieren – ganz individuell. Dann weiß ich wenigstens jedes Mal, mit wem ich es zu tun habe. Ich beschließe, dem nächsten von den Dicken die Nase zu brechen. Das ist markant. Oder den Arm. Mit so einer weißen Schlinge kann man den gut von Weitem erkennen.

Ein paar Minuten laufe ich dem Dicken hinterher, meist in Richtung Park. Dann biegt er links ein und klingelt an einer Tür. Während er wartet und was in die Gegensprechanlage grunzt, drücke ich mich hinter die Ecke. Nur falls er auf die Idee kommt, sich umzusehen. Kommt er nicht.
Als er im Eingang verschwindet, sprinte ich hinterher. Halte die Tür gerade noch auf, bevor sie wieder ins Schloss schnappt.
Warte, bis seine schweren Schritte auf der Treppe leiser werden.
Schiebe mich in den dunklen Hausflur, nehme zwei, drei Treppenstufen auf einmal, mit langen, kontrollierten Schritten. Bin leise wie der Teufel, aber der Dicke hat vermutlich eh’ nur sein eigenes Keuchen im Ohr.
Im Zweiten klopft er, ich bin anderthalb Treppen unter ihm.
Schieße hoch, zu ihm auf den Absatz, springe ihm von hinten auf den Rücken und lasse den Ellenbogen senkrecht von oben direkt auf seinen fetten Nacken krachen.
Thai-Boxen, meinte mein ehemaliger Ausbilder damals. Ich hab’ nie viel übrig gehabt für Kampfsportarten und vor allem das ganze Brimborium drum rum. Aber das hat mich nicht daran gehindert, nützliche Dinge davon rauszupicken und mir anzueignen.
Der Dicke sackt nach vorne und rutsche ihm vom Buckel. Beeile mich, stemme mich seitlich in ihn rein, um zu verhindern, dass mir sein Körper den Weg zur Tür versperrt. Komme mir vor wie so ein Pfleger im Zoo, die sich gegen die Elefanten lehnen, um die zu dirigieren. Keuchend stehe ich auf der Fußmatte, der erschlaffte Berg neben mir auf dem Boden.
Die Tür öffnet sich einen Spalt. Die Kette liegt vor. Oh, goodie. Die größte Leistung des Teufels war, den Menschen weis zu machen, dass Türketten sie vor irgendwas beschützen können.
Der eingesprungene Kick entfernt Kette und den Dicken, der sie aufgemacht hat, mit chirurgischer Präzision von der Tür. Ich schiebe mich durch den entstandenen Spalt, packe den benommenen Dalton am Nylonhemd. Alba-Berlin. Ich ziehe ihn ein wenig hoch, ramme ihm die Stirn auf die Nase. Blubbernd fällt er wieder hin.
Ich versuche elegant, über ihn rüber zu steigen, um in die Wohnung zu kommen, aber er ist zu fett. Ich strauchle, trete ihm auf den Arm. Sorry, bro’.
Der dunkle Gang führt an Küche und am Bad vorbei nach hinten. Zwei-Zimmer-Wohnung, fleckiger Teppich. In besseren Tagen war der Weiß. Oder Cremefarben, schwer zu sagen. Garderobenhaken mit ein paar Jacken, einem Hängeboden voller Umzugskartons.
In der hellen Öffnung des Türrahmens hinten taucht ein dritter Dicker auf. Er flucht. Will in die Jacke greifen, aber ich fliege schon den Gang entlang auf ihn zu.
Tackle ihn an der Hüfte, treibe meine Schulter tief und hart in seinen Wanst.
Wir gehen beide zu Boden, ich oben.
Kurzer Haken zum Kinn, noch einen an die Schläfe. Er ist brav und bleibt liegen.
Ich stoße mich von ihm ab, springe auf. Aber das Halbdunkel im Zimmer ist leer.
Bis auf Junior.
Ich checke kurz das andere Zimmer mit der angelehnten Tür, an dem ich vorbei bin, aber es ist ebenfalls verlassen.
Schätze, der Hagere ist mit dem letzten Dalton auf Tour. Vielleicht, um die Eltern der Mädchen zu holen.

Unmöglich zu sein, ob sie ihn mit irgendwas voll gepumpt haben, oder ob das noch die Nachwirkungen seiner Eigenbehandlung sind.
Zusammengesackt hängt er in den Kabelbindern, die fettigen Haare berühren fast die Knie seiner Jeans.
Ich packe ihn am Kragen, während ich ihn los schneide. Lasse ihn dann auf den durchgetretenen Teppich fallen. Mir Latte, ob er sich die Schneidezähne raus bricht. Macht ihn auch nicht hässlicher.
Muss mich beeilen - im Hausflur ein gestrandeter Walfisch, ein weiterer in der offenen Wohnungstür. Ich habe keine Lust, die Jungs reinzuholen – meine Bandscheiben sind mir lieb und teuer. Am Besten, wir verschwinden einfach nur.
Mit einem Stöhnen richte ich Juniors leblose Form auf, gehe in die Knie und lege ihn mir über die Schulter.
Im Flur muss ich seitwärts gehen, um durchzupassen, und während ich die Treppe runtergehe, streift er mit den Turnschuhen den abbröckelnden Putz.


Anmerkung von Mutter:

Teil IV von V

*edit: Danke schön, AK ... *artignick*
:D

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Kommentare zu diesem Text


 RainerMScholz (14.01.09)
Viele Hauptsätze?
Gruß,
R.
markkkk (28) meinte dazu am 02.02.09:
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 Mutter antwortete darauf am 09.02.09:
Würde mich freuen ... :)

Und das ... zweite Drittel schaue ich mir noch mal an - dieser sehr eigene Duktus ist natürlich manchmal nur schwer konsequent durchzuhalten, vielleicht bin ich da etwas aus'm Takt gekommen.

Danke ...
Leyla (29)
(16.04.09)
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 Mutter schrieb daraufhin am 17.04.09:
Beides korrigiert ...

UND ich habe sogar noch einen gefunden, der Dir entgangen ist.
HAH!

:D

Danke schön ...
Leyla (29) äußerte darauf am 17.04.09:
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AnnaKarenina (31)
(01.06.09)
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 Mutter ergänzte dazu am 01.06.09:
Beides richtige Fragen ...
Lasse ich mir mal durch den Kopf gehen - vielleicht lässt sich da tatsächlich unkompliziert an der Reihenfolge was drehen.

Und zur Zerstörung - mmmh, ich bin sicher, ich finde ein paar Sachen, die er konkret zerstören könnte. ;)

Danke Dir ...
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