Stille ist

Text zum Thema Trauer/Traurigkeit

von  Zeder

Es ist bei uns meistens ziemlich still - oder die Geräuschkulisse scheint sich auf unsere Zimmer zu beschränken und es scheint so, als ob sich nichts davon vermischen könnte. Es findet nichts zu einander.
Jeden Morgen füllt Mutter die Kaffeekanne mit vier gehäuften Löffeln Biokaffee. Sie steht in ihrem fleischfarbenen Morgenmantel und jetzt, im frühen Winter, brennt die schmale Neonröhre unter dem Küchenschrank und färbt ihre Hände seltsam blass und alt, hebt kleine Äderchen hervor, die kleinen violetten Halbmonde ihrer Fingernägel und die feinen Rillen darin. Ihre Finger sind sehr schmal, im Gegensatz zu ihren Handgelenken, die zu breit für ihre dünne Gestalt scheinen und ihre Arme unausgeglichen kräftig erscheinen lassen, obwohl sie das zarteste, durchscheinendste und lebloseste Wesen ist, das ich kenne.
Vater schläft jede Nacht lange und schlecht. Ich sehe nur am Wochenende, wie er mürrisch und zerzaust an meine Mutter herantritt und ihr über die Schultern guckt, zwischendurch einen abgehackten Kommentar abgibt, so was wie: Das ist viel zu viel Butter. Und Mutter dreht sich nicht um, nimmt mit dem Messer etwas Butter vom Brot ab und beschmiert das nächste damit. Ich stelle mir dann vor, sie würde das Buttermesser nehmen und es meinem Vater einmal fließend über die schmierigen Haare streichen und sagen: Wasch dich doch mal wieder. Aber Mutter blickt kaum auf.

Ich sitze am Wochenende vormittags in der Küche und lese Zeitung. Sobald mein Vater ins Zimmer tritt, falte ich sie unsauber zusammen - ich habe dann schon die röchelnden Geräusche von der Treppe aus gehört, gepaart mit einem unsauberen Stampfen, Ziehen und Knarren des alten Holzes, das mein Vater auf unerklärliche Weise zustande bringt. Ich denke jedes mal darüber nach - er muss dafür stark auftreten, mit dem gesamten Fuß, nicht abrollen, dann auf merkwürdige Art und mit mäßigem Druck den Fuß ein Stück auf dem Holz entlang ziehen, bevor er ansetzt und den anderen Fuß nachfallen lässt.
Vater ist Rentner und gescheitertes Wesen. Wesentlich älter als meine Mutter und ich denke lieber nicht darüber nach, wie viel älter genau. Geburtstage sind hier meist nebensächlich und laufen ähnlich ab, wie alle anderen Tage. Vater ist noch mürrischer, wenn jemand zwischen Montag und Freitag Geburtstag hat, weil er dann früher aufstehen muss. Er bemängelt dann die Form des Sandkuchens, den meine Mutter tags zuvor buk, Geschenke werden fast wortlos überreicht, man bedankt sich leise. Eine Karte schreibt nie jemand. Man starrt auf den Teller, der Kuchen wird angebrochen, Mutter isst nichts, hebt mit zarten Fingern fast ängstlich ihre Kaffetasse an, als wäre die Stille, die herrscht, etwas Heiliges, das sie zu beschützen versuchte, eine jener dünnen, mit Rosen überzogenen Porzellantellerchen, die sie von ihrer Mutter erbte, dekoriert in einer verschlossenen Vitrine im Wohnzimmer. Nach dem Essen hilft einer von uns Mutter beim Abräumen, alle anderen flüchten gedämpft auf ihre Zimmer.
Mutter und Vater leben im Dachgeschoss, das einmal aus einem großen, hellen Zimmer bestand. Irgendwann in Laufe ihrer Ehe zogen sie eine Wand quer durch das Zimmer. Mutter wohnt links, Vater wohnt rechts und mir eröffnet sich das Bild des Mauerbaus: Immer noch besser als Krieg. Das Badezimmer teilen sie sich und versuchen sich dabei nicht in die Quere zu kommen. Ich bin früher manchmal unerlaubt hinein gegangen, habe, wie Kinder das tun, mit mulmigen Gefühl, nach dem merkwürdigen Stampfen und Knacken lauschend, die Dinge betrachtet, die dort standen, probierte den Rasierer meines Vaters aus und die Hautcreme meiner Mutter und, wie Kinder so sind, fiel mir damals gar nicht auf, dass sogar der Schrank peinlich in zwei gleichgroße Hälften geteilt war - der linke roch nach Jil Sander und Lavendel, der rechte nach köllnisch Wasser und geruchsarmer Seife und nicht mal mehr die Gerüche vermischten sich. Ich denke heute mit seltsamen Gefühlen daran. An besonders schlimmen Tagen, wenn ich in meinem Zimmer sitze und  weiß, dass Mutter auf der Bank hinter dem Haus sitzt und heimlich weint, stelle ich mir vor, die Treppen hoch zu rennen, den Badezimmerschrank aufzureißen und alles wild durcheinander zu kippen, sodass ich die Dinge zusammen zwänge, oder die Flakons am befliesten Boden zerschellen ließe, eines nach dem anderen. Immer noch besser als Stille.
Caroline und ich bewohnen die Etage darunter. Unsere Zimmer sind vollkommen symmetrisch, dazwischen liegt ein Badezimmer und davor ein kleiner Flur mit braunem Teppich und beigefarbenen Wänden. An ihrer Tür hängt ein Stopschild, obwohl sie nie vergisst abzuschließen. Sie ist gerade fünfzehn geworden. Ich höre aus dem Bad manchmal ein würgendes Geräusch, oft Schluchzen aus ihrem Zimmer, meist abends. Ich liege dann wach und denke darüber nach, was ich tun könnte, aber mir will nichts einfallen, dass sie aufnehmen würde, außer Wut. Ich schlafe erst ein, wenn ihr Atem ruhiger wird. Morgens gehen wir ein kleines Stück des Schulwegs zusammen, das ist Mutter lieber. Caroline redet dann kaum ein Wort, ihre Blicke prallen am kalten Asphalt ab, und ich denke darüber nach, welche Augenfarbe sie hat. Sie schiebt abwechselnd ihre Ärmel hoch und wieder runter, wahrscheinlich weil ihr heiß und kalt ist vor Angst, mir fällt dann auf, dass sie Mutters Handgelenke hat und Vaters breite Finger. Wenn sie an der Ecke nach links abbiegt schaue ich ihr manchmal nach, bis ich sie nicht mehr sehen kann. Sie berührt mit Vaters Fingern zart die Bäume, die die Straße säumen. Immer einen Schritt nach rechts machend, dann wieder auf den Gehweg, und wenn sie denkt, dass niemand sie sieht, werden ihre Schritte ein ganzes Stück leichter und ihr Kopf hebt sich merklich an – sie schaut in den Himmel.

Schon im Frühjahr sammeln sich die Spinnen in unserem Haus, weben ihre Netze über unsere Köpfe hinweg, sogar im Dachgeschoss, krabbeln die Decken entlang, durch Ritzen hindurch, an Duschvorhängen hoch. Mutter ängstigt sich vor ihnen, schließt sich für zwei Tage in ihrem halben Zimmer ein, verriegelt die Fenster, schläft nicht, der Staubsauger ist angeschlossen und bereit und sie saugt jede Spinne, die sie sieht, erbarmungslos in den Staubsaugerbeutel. Nach zwei Nächten beruhigt sie sich und findet sich ab, schließt die Zimmertür auf, schleicht in die Küche und beginnt mit dem Abwasch.
Aber Natasha hat Spinnen gemocht, sie ging im Spätsommer auf die kleine Wiese hinter den Häusern, die mit Heckenrosen gesäumt ist, bewaffnet mit Mutters Marmeladengläser, schob ein paar Zweige hinein und fing in jedem Glas eine Kreuzspinne ein. Zu hause reihte sie die Spinnen der Größe nach auf ihre Fensterbank. Im ersten Jahr schlich sich Mutter in Natashas Zimmer, während wir alle in der Schule waren, sammelte die Gläser mit gespitzten Fingern ein und warf sie in einen blauen Müllsack. Und als Natasha nach Hause kam, schrie und weinte sie zwei Nächte durch, bis Mutter ihr neue Gläser überreichte.
In dem Sommer vor ihrem Tod schob ich sie zum See hinunter. Ich hatte dort zwei Schwäne entdeckt, Natasha liebte auch Schwäne. Sie lief mit kleinen, lauten Schritten um den See herum, scheuchte damit die Vögel kurz auf, bevor sie sich in die Mitte des Sees treiben ließen. Natasha hockte sich sehnsüchtig ans Ufer und wünschte sich wie Schwäne im Wasser schwimmen zu können und ich versprach ihr, im nächsten Jahr mit ihr zu üben.
Abends stürmte sie manchmal ins Wohnzimmer, wenn sie nochmal aufgewacht war, flocht sich Zöpfe und rannte um Vater herum, schloss ihre kleine Ärmchen um sein braunes Hosenbein und rief: Papa, ich bin Pippi Langstrumpf. Und Vater strich ihr über den Kopf und konnte nicht böse sein. Ich schenkte ihr zum Geburtstag zwei verschiedenfarbige Strümpfe, einer in rot und grün gestreift, einer ganz lila, und sie trug sie jeden Tag, auch noch, als sie längst durchlöchert und schmutzig waren und viel zu klein und alle Leute beschämt auf ihre dünnen Beinchen sahen.
Und als ich später am Grab stand und die zerknüllten dreckigen Strümpfe aus meiner Hosentasche zog und in das rechteckige Loch unter mir warf, spürte ich die selben beschämten Blicke auf meinem Rücken. Wäre Mutter nicht schon still gewesen, wäre sie nach vorne gelaufen und hätte versucht, sie mit ihren durchscheinenden, knochigen Fingern aus der Erde zu fischen.
Natashas Augen waren blau.

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Kommentare zu diesem Text

neinneigung (33)
(05.02.09)
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 Zeder meinte dazu am 05.02.09:
von angesicht zu angesicht? traust du dich das denn? aber danke schon mal für die ankündigung.

ps: guck mal, die zeigen deinen kommentar garnicht an.
pps: ich hab ne waffe, pass bloß auf. und nichts gegen clint eastwood, außer dass der republikaner ist. (guck mal, ich merk mir, was du mir erzählst ;))
ppps: danke schön! =)

 Zeder antwortete darauf am 05.02.09:
pppps: jetzt zeigen sie den doch an. gerade nochmal glück gehabt!!!!
neinneigung (33) schrieb daraufhin am 05.02.09:
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 Zeder äußerte darauf am 05.02.09:
ach du, nein, wir beide haben glück gehabt!

ich hab nen tollen spruch für dich: wer im glashaus arbeitet, sollte nicht mit steinen um sich werfen.
neinneigung (33) ergänzte dazu am 05.02.09:
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 Zeder meinte dazu am 05.02.09:
richtig! aber realitätsfern. :)
kuss.
neinneigung (33) meinte dazu am 05.02.09:
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 Zeder meinte dazu am 05.02.09:
so kannst dus auch sehen.

aber, falls du mal auf die idee kommst wirklich mit steinen um dich zu werfen, dann helf ich dir gern. wir sitzen dann auf deinem schreibtischstuhl und zielen auf die fensterscheiben. :)
neinneigung (33) meinte dazu am 12.02.09:
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 Zeder meinte dazu am 12.02.09:
du irrst dich nicht. danke,
und überhaupt: ja
Steinwolke (65)
(05.02.09)
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 Zeder meinte dazu am 05.02.09:
schöner vergleich! ich freu mich!
paulinewilhelm (35)
(05.02.09)
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 Zeder meinte dazu am 05.02.09:
mh. ich weiß schon, was du meinst. im grunde steckt irgendwie dahinter: ich wusste plötzlich während des schreibens wo die ganze stille herkommen soll: durch verlust. also änderte ich einfach die richtung, um zum ende kommen zu können. kann man das als plötzlichen gedankensprung des erzählers nicht annehmen? dann überarbeite ich es nochmal.
und ich kann dir, wie immer, nur wieder danke sagen :)

theresa
paulinewilhelm (35) meinte dazu am 05.02.09:
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 Zeder meinte dazu am 05.02.09:
jaa! das war sehr konstruktiv! :)
ich brauch gerade ein bisschen pause von dem text, hab ihn heut vormittag und mittag runtergerattert und hundert mal gelesen.
heut abend geh ich ihn mit deinen gedanken im kopf mal durch. :)

ach, schon mal zu den spinnen: sie sollen langsam in die vergangenheit hinein führen. sie sind das erste im haus, das an natasha errinnert, führen an sie heran. und spinnen stehen bidlich für mich dafür das leben zu weben. es ist also ein ganz wichtiges bild, dass die mutter so dagegen ankämpft.

 Unbegabt (05.02.09)
toll.
shadowhunter (28) meinte dazu am 05.02.09:
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Kitten (36)
(06.02.09)
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 Zeder meinte dazu am 07.02.09:
danke fürs mitkommen :)
muse (22)
(08.02.09)
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 Zeder meinte dazu am 10.02.09:
jaa. genau, die nahaufnahmen machen das. ist auch mal was neues für mich, von der sprache und sowas.
ich danke dir.

 Isaban (09.02.09)
Hilflose Stille, die einsam macht. Man wartet regelrecht darauf, dass irgendwer oder irgendwas explodiert, aber aller Schmerz tropft nur rettungslos nach innen. Und was für ein Schmerz. Jeder der Protagonisten wurde auf sehr feine, subtile Weise sehr tief gezeichnet, beinahe zu tief, überall fällt der Leser mit in das Loch, das Natasha hinterließ.

Liebe Grüße,

Sabine

 Zeder meinte dazu am 13.02.09:
liebe isaban, ich überlege wirklich, den text noch ein bisschen auszuführen, vielleicht einen zweiten teil zu schreiben und vielleicht kommt ja doch noch eine explosion.
und ich danke dir verspätet sehr herzlich fürs kommentar und für die empfehlung und sowieso und überhaupt für die worte.

theresa
(Antwort korrigiert am 13.02.2009)
Sprachlos (17)
(22.02.09)
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 Zeder meinte dazu am 22.02.09:
vielen dank fürs kommentieren.
ich hab den text vor kurzem einer freundin gezeigt. sie sagte: ihr fehlt das gefühl. sie will wissen, wie der protagonist sich in den umständen und all der stille fühlt. ist es das, was du mit kalt und sachlich meinst? weil mich das beschäftigt hat.
danke, luka. und liebe grüße.
paule (34) meinte dazu am 03.03.09:
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 Zeder meinte dazu am 03.03.09:
danke für deine tipps, lieber paule. ich denke noch darüber nach. ein wütender text? das wäre mal etwas anderes.
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