Rehab

Erzählung zum Thema Geborgenheit/ Wärme

von  Mutter

Die nächsten zehn, vierzehn Tage verlaufen harmonisch. Wir frühstücken mittags dekadent, gehen manchmal ein wenig an der Alster spazieren oder setzen uns in den Park. ‚Planten un Blomen’, heißt der, sagt der Stricher. Am Liebsten geht er in den japanischen Teil, hüpft da von Stein zu Stein übers Wasser, zum Teehaus, und ich sehe ihm dabei zu. Das Hüpfen habe ich noch nicht so drauf, auch wenn ich inzwischen wieder beide Beine fast schmerzfrei bewegen kann.
Das Auge ist ebenfalls wieder komplett offen, und manchmal kann ich sogar Essen genießen, ohne mir dabei schmerzhaft den Kiefer halten zu müssen.
Er hat mir Anziehsachen besorgt, weil er mit mir raus wollte. Die meisten meiner Sachen hat er gewaschen, aber den Sweater konnte er nicht retten. Ich nehme an, ein bis zwei Liter Blut aus so einem Textil zu bekommen ist nicht gerade einfach.

Jedes Mal wenn ich mich wehre, winkt er ab. Lässt nicht zu, dass ich mich weigere. Lässt nicht mal zu, dass ich mich bedanke. Ich weiß, dass es ihm Spaß macht und wenn ich eine Wahl hätte, würde ich ihn daran hindern.
Die habe ich aber nicht. Ich bin ein Krüppel, auf Reha und Pflege angewiesen. Hätte ich mich auf den Weg nach Berlin gemacht, damals, sobald ich mich wieder bewegen konnte - ich weiß nicht, wie weit ich gekommen wäre.
Die ganze Sache hier in Hamburg stinkt. Aber bevor ich die Ursache suchen kann, muss ich wieder fit werden. Dafür brauche ich den Streuner.
Obwohl ich ein schlechtes Gewisse habe. Weiß ja genau, was passiert, wenn ich ihn mit reinziehe. Dann kann er sich gleich zum Goth-Girl legen. Falls mich jemand sieht, vielleicht der Klebe steckt, dass ich noch lebe. Ein zweites Mal sind seine Jungs sicher nicht so schlampig, den letzten Faden nicht auch noch zu durchtrennen.
Deswegen sage ich nichts, lasse zu, dass er mich bemuttert, sich kümmert. Dabei beobachtet er mich wachsam – rechnet damit, dass ich wieder flügge werde.
Nach und nach werde ich fitter, zwinge die Schmerzen langsam mit jeder Bewegung aus meinem Körper. Nehme ihn wieder in Besitz, werde Herr im eigenen Haus, bis Beine, Arme, alles wieder macht, was ich will. Erst mache ich Spaziergänge, dann gehe ich joggen. Irgendwann mache ich erste Liegestütze und Sit-Ups im Zimmer, danach folgen Klimmzüge im Park.
Obwohl meine alte Schnelligkeit noch nicht wieder da ist, ich besonders morgens eine Weile brauche, bis die Steifheit aus den Gelenken verschwunden ist, fühle ich mich irgendwann wieder wie ich selbst. Corker is back, baby.

Natürlich entgeht ihm nicht, dass ich die ersten Flugversuche mache. Erst freut er sich, aber dann lächelt er zusehends seltener. Eines Morgens, als ich nach dem Laufen gerade aus der Dusche komme, steht er da im Türrahmen, und sieht mich an.
‚Du wirst mich verlassen. Bald.’
Ich sage nichts, weise ihn nicht darauf hin, dass ich nicht seine Freundin bin, sondern sein Patient. Das hätte er wohl nicht verdient.
‚Kannst du nicht bleiben?’ Ich weiß, er wollte das nicht fragen. Wollte diese Scheiß-Frage runterschlucken, stolz sein. Aber er kann nicht anders.
Ich lächele müde, schüttele den Kopf. Sehe auf den Dielenboden und die einzelnen Tropfen, die meine nassen Haare dort hinterlassen.
Jetzt ist es ohnehin egal, denkt er wahrscheinlich. Macht weiter: ‚Du könntest bei mir wohnen. Das wäre einfach.’
Jetzt sehe ich ihm in die Augen, verneine. Gerne würde ich ihm sagen, dass es wegen Goth-Girl ist, dass ich mich wieder auf die Suche machen muss. Dass ich mich auf einem heiligen Kreuzzug befinde.
Aber das wäre gelogen. Meine Motive sind niederer Natur. Ich habe Angst, es könnte mir gefallen, von ihm ausgehalten zu werden. Ist vermutlich ein angenehmes Leben, so als Quasi-Lude eines gut aussehenden Strichers. Möglicherweise würde es mir nicht mal schwer fallen, mit ihm ins Bett zu gehen. Er bläst bestimmt so gut wie die meisten Frauen, mit denen ich was hatte. Kennt sich ja aus mit der Materie.
Davor habe ich Angst.
Außerdem will ich Rache. Will zurück zur Klebe, und seinen stumpfen Jungs, die zu dämlich sind, einem verschissenen Iren das Hirn so rauszuprügeln, dass er nicht mehr aufsteht. Will ihnen zeigen, wie man das macht. Würde gerne meinen geknickten Stolz wieder aufrichten, an ihren gebrochenen Körpern.
Aber ich glaube nicht, dass er einen dieser Gründe wirklich verstehen würde. Das muss er auch nicht – es reicht, dass er versteht, dass ich gehen muss.
Ich sehe ihn lange an. Länger als ich dass in all den Tagen, die wir zusammen verbracht haben, je getan habe. Mir fällt auf, wie dunkel seine Augen sind. Die passen gut zu seinem blonden Haar, lassen ihn interessant und vielschichtig erscheinen. Mochte diese blassen Blonden mit ihren blauen Augen noch nie.
Langsam lächelt er, so ein kleines schiefes, und meine Rippen tun wieder weh, die ganze Seite schmerzt. Vorsichtig, als wollte er mich nicht erschrecken, hebt er die Hand und berührt erst meine stoppelige Wange, dann meine Lippen.
Ich deute ein Kopfschütteln an. Er versteht. Lässt die Finger noch einen Augenblick an meinem Gesicht und zieht sie dann zurück.
Er packt mir die Sachen, die er für mich besorgt hat, in eine kleine Tasche und drückt sie mir in die Hand. Duldet keinen Widerspruch.
Nach einem kurzen Moment im Flur, beide von uns wortlos, mache ich mich auf den Weg. Hebe draußen auf der Straße noch mal kurz den Arm - ahne, dass er dort oben am Badezimmerfenster steht, auch wenn ich ihn nicht sehen kann.

Der erste Weg führt mich nach Altona, in meine Pension. Der Kerl am Empfang sieht überrascht hoch, als ich zu ihm an den Tresen trete. Brummt was, während er mit angelecktem Zeigefinger in einem zerfledderten Hefter blättert.
‚Zwohundert’, sagt er dann, ohne aufzusehen.
‚Was bitte?
Jetzt sieht er hoch, kneift seine Äuglein noch mehr zusammen. ‚Zweihundert, habe ich gesagt …’
‚Ich habe dich gehört, Arschgeige. Was willst du mir damit sagen?’
‚Sie sind bis jetzt Mieter des Zimmers. Da kommt eine Menge zusammen.’
Ich lehne mich über den Counter, drehe den Hefter mit einem schnellen Griff um. Finde, was ich suche.
Meine linke schießt vor und packt ihn am speckigen Kragen seines Hemdes, die Rechte verpasst ihm zwei gutmütige Backpfeifen: Rückhand, Vorhand. Batzbatz.
Seine Nase blutet.
Dann sticht mein rechter Zeigefinger auf einen Bleistifteintrag in der Mitte der aufgeschlagenen Seite. Zeigt da ein paar Mal energisch drauf, verschmiert die Schrift etwas. Dass das Zimmer einen Tag mit meinem Zusammentreffen mit der Klebe erneut vermietet wurde, kann man allerdings noch sehen.
Die linke zieht ihn etwas runter, beugt ihn in Richtung Papier. Nachdem ich ihm einige Sekunden zum Gegenchecken gegeben habe, sucht sich meine Rechte noch mal sein Gesicht. Batzbatz. Fast verspielt.
‚Woher wusstet du Pissnelke, dass ich nicht zurückkommen würde?’ will ich wissen, während er sich die Nase mit einem Ärmel abwischt.
Er zuckt mit den Schultern, ich daraufhin mit der Hand. Er beeilt sich zu sagen: ‚Zwei Typen waren hier. Anzüge, Kiezgesichter. Die wollten den Schlüssel zum Zimmer. Und meinten, ich könne es weitervermieten.’
‚Wo sind meine Sachen?’
Er zeigt mit dem Daumen über die Schulter. ‚Soll ich sie holen?’
Ich nicke und sehe ihm zu, wie er durch einen schmalen Durchgang nach hinten verschwindet. Kurz darauf packt er meine Tasche auf den Tresen.
Ich checke den Inhalt – es scheint nichts zu fehlen. Was auch? Alles, was ich an Wertsachen besitze, trage ich am Körper. Hinweise und Informationen habe ich auch keine zurückgelassen. Wenigstens waren die Amateure gründlich genug, um hierher zu kommen. Hätte ich ihnen nach der Schlamperei mit mir gar nicht zugetraut.
Ziemlich bald danach verschwinde ich aus der Pension. Ich habe noch ein Date heute Abend.


Anmerkung von Mutter:

Teil IV von VI

*edit: 'Zen oder die Kunst, Corker zu redigieren' - eh, Anna? :)
Besonders beim Ende iss viel passiert ...

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Kommentare zu diesem Text

kontext (32)
(13.02.09)
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 Mutter meinte dazu am 13.02.09:
Das ist ein wunderbar aufbauender Kommentar, vielen Dank.

Aber ich fürchte: Du unterstellst mir da zu viel. :D
So geplant ist das alles nicht - vielleicht verinnerlicht sich manches davon, aber der Corker ist viel zu unbedarft, um so strategisch an die Sache ranzugehen.

Weißte?
kontext (32) antwortete darauf am 14.02.09:
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 Mutter schrieb daraufhin am 02.03.09:
Ich fürchte, ich habe Sie jetzt erst so richtig verstanden.

In aufrichtiger Dankbarkeit, Ihr M.
Wirklich.
Steinwolke (65)
(18.02.09)
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 Mutter äußerte darauf am 20.02.09:
Mmmh, das sehe ich etwas anders. Das Motiv des Jungen ist ja nicht das Helfen - darüber reden sie ja. Hätte den Corker ja auch 'nen Sani rufen können, ihn dann vielleicht nochmal im Krankenhaus besuchen.

Aber darum geht's ihm ja nicht. Ihm geht's ja ums Haben, um das Pflegen, um den Nestbau. Tut eigentlich nicht Corker den Gefallen, sondern macht es für sich. Hängt einer Sehnsucht nach, einem Traum?

So eine Situation, wie er ihm vorher aus der Patsche hilft, wäre mir zu platt. Das nimmt dem Corker auch zu viel von seiner Opfer/Patienten-Rolle - da zahlt dann ja nur jemand eine Schuld zurück, Corkers Dispo wäre also quasi in der Balance. Das will ich auf keinen Fall.
Steinwolke (65) ergänzte dazu am 24.02.09:
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 Mutter meinte dazu am 24.02.09:
Wahrscheinlich muss diese erste Begegnung länger ausfallen, das Interesse deutlicher werden.
Corker ist da schon angeschlagen - vielleicht reicht es aus, den Jungen da schon besorgt zu zeigen, interessiert am sich kümmern.
Immerhin hat er sich auch entschieden, Sani zu werden ...

Aber da kann man natürlich noch mehr Fundament legen, dann gibt's das Problem weit weniger hintendran ...
Kommt auch auf die Liste, zum Drüberschauen. :D
Leyla (29) meinte dazu am 17.04.09:
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Leyla (29)
(17.04.09)
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 Mutter meinte dazu am 17.04.09:
Hab'sch beides geändert/korrigiert - danke, Adlerauge. ;)

Und auch sonst. Danke. :)
AnnaKarenina (31)
(01.06.09)
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 Mutter meinte dazu am 02.06.09:
Ahem, nein ...
*rotwerd*

Sollte ich wohl umformulieren ... :)
AnnaKarenina (31) meinte dazu am 02.06.09:
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