III: Die Erlebnisse von Raí

Roman zum Thema Jugend

von  kaltric

Beteiligte: Tól, Omé, Silön, Lían, Raí, Raréon, Thaléon Balouron, ein Arbeiter, ein Wagenführer, ein Fährmann, ein Diener, zwei Wächter, Bauarbeiter, Bürger von Lían

Orte: Lían, Arsullan, Darôn, Silour


Im Jahre 2002 feierte man den 20. Geburtstag von Lían; Tochter und Stadt. Lían und ihre Eltern standen am Vorabend auf der höchsten der am Berghang angelegten Stufen, von wo aus jeder Stadtbewohner sie sehen konnte. Beleuchtet von Fackeln stand Lían vor ihren Eltern.
„Lían! Heute wirst du in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen“, sprach Tól und alle Augen richteten sich auf ihn.
„Damit ist deine Kindheit vorbei und du trägst alle Pflichten eines Bürgers der Stadt!“
Lächelnd legte Líans Mutter ihr einen Kranz Blumen um den Hals.
Tól wandte sich an die versammelten Bürger: „Lasst die Feierlichkeiten beginnen; der morgige Tag soll ein Feiertag sein!“
Die Leute jubelten ihm zu und verstreuten sich.
Tól wandte sich an seine Tochter und sagte leise: „Komm morgen früh zu mir – und nun geh feiern.“
Tól und Omé selber nahmen nur unbeteiligt an den Feierlichkeiten teil, vornehmlich saßen sie am Kopfende der großen Tischreihe, die zum Zwecke eines öffentlichen Festmahles auf dem Marktplatz aufgestellt worden war. Lían saß zeitweise neben ihnen und feierte den Rest der Zeit mit den Bürgern. Raí sah oft neidisch zu seiner Schwester, derweil er ebenfalls am Tisch saß und später allein durch die Schatten wanderte. Am nächsten Morgen stand Lían beizeiten vor ihren Eltern. Wieder sprach Tól mit ihr.
„Lían, zu deinen neuen Pflichten wird es gehören, uns und den Bürgern bei der Verwaltung der Stadt zu helfen. Außerdem solltest du dich mit dem Land vertraut machen und auch lernen dich nötigenfalls verteidigen zu können. Bei diesen Aufgaben wird dir unser neuer Besucher helfen.“
Tól erhob die Stimme und rief: „Tretet ein, Raréon!“
Aus einem Nebenzimmer kam ein junger Mann in den Raum und trug ein freches Lächeln zur Schau. Der Mann verbeugte sich vor Tól und Omé und sah Lían mit blitzenden Augen an.
„Ihr müsst Lían sein“, begrüßte er sie, „ich bin Raréon.“
Lían musterte ihn und seine merkwürdige, an Wildnisleben erinnernde Kleidung in grünen und braunen Erd- sowie Grautönen. Er schien kaum älter als sie selbst zu sein.
„Lían“, mischte sich nun Omé ein, „führe deinen Gast doch bitte durch die Stadt und zeige ihm alles.“
„Ja, Mutter“, antwortete Lían wie von selbst.
„Raréon ist schon in seine Aufgaben eingewiesen worden“, sprach Tól, „er wird dir sagen, was ihr nach der Besichtigung zu tun habt.“
Damit entfernten sich Lían und Raréon. In der darauf folgenden Zeit reisten die Beiden durch das Schutzgebiet von Líans Eltern. Sie lernte die nötigen Dinge zur Verwaltung und den Umgang mit Schwert und Bogen.
Raí aber wurde immer neidischer und eifersüchtiger auf seine Schwester. Als er sah, wie gut sie sich mit Raréon verstand, wie viel Spaß die beiden zusammen hatten und was sie alles lernen durfte, fragte er seine Eltern, ob er nicht auch an einer Waffe ausgebildet werden würde. Als sie dies verneinten, erzürnte es ihn und er verkroch sich wie immer in einem kleinen Tal in den Bergen, wo er vor sich hin brütete. Diesmal aber beschloss er, seine Eltern ganz zu verlassen, da sie ihm eh nie erlauben würden zu tun, wonach es ihm dürstete, so meinte er zumindest. Er fühlte sich von ihnen vernachlässigt und war neidisch darauf, was seine ältere Schwester alles durfte. Raí erzählte niemandem von seinem Plan, nicht den anderen Kindern der Stadt, nicht seiner Schwester, Amant Emaior oder seiner Amme. Er packte lediglich heimlich etwas Kleidung, Nahrung und ähnliche Dinge derer er meinte zu bedürfen ein und schlich sich eines Tages kurz vor Morgengrauen aus dem Haus seiner Eltern und der Stadt. Niemand bemerkte sein Verschwinden.
Der gerade erst 14Jährige schlug sich nach Südosten durch. Er hielt sich dabei an den Verlauf der Straße nach Maggin sowie der größeren, von Maggin nach Arsullan führenden, behielt aber stets einen gewissen Abstand zur Straße ein, um auch ja nicht gesehen zu werden. Manchmal übernachtete er in einer unbewachten Scheune eines Bauernhofes, wenn er sicher war, dass ihn niemand erwischen oder bestrafen würde. Öfter noch musste er aber im Schutze eines Wäldchens am Straßenrand übernachten. Da die Nächte warm genug waren, überstand er es unbeschadet. Selten auch nahm ihn jemand auf und bot ihm einen Platz am Feuer an. Stets fragte man ihn, was er so alleine unterwegs machen würde, stets bot man ihm an, länger Unterkunft zu beziehen und seine Eltern zu finden – stets verneinte er und reiste weiter.
Irgendwann im Sommer erreichte er Arsullan. Ehemals die befestigte Grenzstadt in der Ebene im Inland, lag es nun nur noch einen kurzen Weg vom Meer entfernt. Wie Raí in der Stadt vom alltäglichen Geplapper der Bewohner erfuhr, war das Meer im Westen wie im Osten bedrohlich nahe gerückt. Die Straße nach Tambaheim in Tambien führte weiterhin eine gute Zeit nach Süden, verschwand dann jedoch irgendwann plötzlich im Meer. Am neuen jungen Strand stehend solle man aber noch sehen können, wie die Straße am Meeresboden weiterführte, gen Südosten, bis irgendwann das Meer zu dunkel wurde um noch etwas zu erkennen. Die Straße nach Darôn dagegen endete bereits kurz vor der Stadt. Man wusste aber, dass Darôn noch vorhanden war.
Alle Bewohner schienen Angst zu haben, dass das Wasser weiter vorrücken würde. Einige waren schon geflohen, auch hielten sich viele Flüchtlinge aus Tambaheim in Arsullan auf. Man hatte von Tól und Omé gehört, traute ihnen aber nicht. Die Stadt wollte neutral bleiben, wenn schon Lurruken sie vergessen hatte. Auch in Raí begann eine wachsende Angst vor dem Meer zu entstehen. Fast eine Woche hielt er sich in der Stadt auf. Er klaute sich Nahrung zusammen, übernachtete, wo er gerade einen Platz fand und so langsam wurde der Wunsch in ihm groß, in die Sicherheit seiner Eltern zurückzukehren. Schließlich erfuhr er aber, dass eine Person namens Silön auf der anderen Seite der jungen Bucht an der Arsullan nun lag, versuchte, die verstreuten Städte und Dörfer, dem Schutze ihres Lurrukens beraubt, zu vereinen. Raí kannte Silön noch, konnte sich aber an irgendwelche begangenen Missetaten nicht gut erinnern. Eine bekannte Person nun in der Nähe wähnend, beschloss er, nach Darôn zu ziehen. Vorsichtig reiste er an der Küste der großen Bucht entlang gen Westen.
Zur Überquerung des Flusses Panenfiress musste er wieder eine Weile ins Inland reisen, da wegen der Verbreiterung des Flusses zum Meer hin viele der alten Brücken zerstört worden waren. Nach einer weiteren Woche Wanderschaft – manchmal nahm ihn auch jemand mit dem Karren mit – kam er nach Darôn. Dort war alles irgendwie mit Bauarbeiten, Umgestaltungen und Beförderungen von Baustoffen beschäftigt. Raí – von dem langen Reisen erschöpft, mit zerrissenen, schmutzigen Kleidern am ungewaschenen Leib, hungrig und allgemein heruntergekommen – hielt einen Mann, einen Arbeiter, an, der gerade zwei Ochsen dazu antrieb einen Karren mit Werkzeugen zu ziehen.
„Wofür werden die ganzen Arbeiter und Werkzeuge gebraucht?“ fragte er erschöpft aber mit jugendlicher Neugier, ohne zu grüßen.
Zur Strafe sah der Mann ihn misstrauisch an.
„Was geht dich das denn an, Kleiner?“
Er schickte sich an, ohne Halt mit dem Karren weiter zu ziehen. Raí musste aus dem Weg der Ochsen springen um nicht von diesen zertrampelt zu werden. Sofort folgte er aber dem Mann wieder.
„Ich will zu Silön, kennt ihr den Weg?“
Nun lachte der Mann kurz lauthals auf, lachte ihn aus.
Dann beschleunigte er den Schritt der Ochsen durch harte Peitschenschläge und rief Raí hinterher, derweil dieser wieder schnell zur Seite springen musste: „Kleiner! Folge einfach den ganzen Karren, den Weg den Fluss entlang zum Meer zur Baustelle!“
Und das tat Raí dann auch. Darôn lag an der Nechdra, einem Fluss mit etlichen Quell- und Nebenflüssen, die fast gänzlich aus dem Azirun, einem der größten Gebirge des Kontinentes, kamen und ihrerseits auch wieder zahlreiche Quellflüsschen hatten. So war das Land zwischen Nechdra und Azirun fruchtbar, aber auch nur schwer zu bebauen. Die Straße führte an der Nordostseite des Flusses, der dem Gebirge abgewandten Seite, entlang, von Panen über Arsen nach Darôn und von dort einstmals nach Serra, welches aber nun auch versunken lag. Darôn lag am nun zweitletzten größeren Nebenfluss der Nechdra, der Brestan. Die Reise zur neuen Mündung der Nechdra war demzufolge kurz, sie lag nun bereits knapp nach dem ehemals drittletztem, nun aber letztem Nebenfluss, dem Piket.
Raí wurde fast den ganzen Weg von anderen Karren mitgenommen, deren Fahrer und Treiber freundlicher und netter waren als der in Darôn. Kurz hinter der Mündung des Piket in die Nechdra konnte man bereits die Mündung der Nechdra und die Bucht erkennen. Vielmehr aber – da Raí noch nie zuvor hier gewesen und das Land vor dem Vorrücken des Meeres gesehen hatte – erstaunte den Jungen der Anblick der immensen Baustelle, die sich teilweise zwischen die Flussmündung und eine, in die große Bucht hinausragende Landspitze quetschte, sich größtenteils aber auf einer großen Insel in der Mündung ausbreitete.
„Was ist das?“ fragte Raí den Fahrer des Wagens, auf dem er mitfuhr.
„Dies wird die neue Hauptstadt Silöns“, erklärte der Mann neben ihm auf dem Kutschbock mit strahlenden Augen und Stolz.
Ein treuer Anhänger also, dachte Raí, fast so wie die meiner Eltern. Ein Teil der Stadt auf der Insel stand bereits, Raí fiel jedoch noch etwas ganz anderes auf.
„Wofür die starken Mauern und Befestigungen dort?“ wollte er wissen.
„Silön hat uns von den Lügen und Bedrohungen der falschen Mahner Tól und Omé erzählt. Silön befürchtet, dass sie mit ihrer Armee zu uns kommen könnten um auch unsere Länder zu erobern. Silön bietet nun Schutz für Darôn und andere Orte an der Nechdra und errichtet hier eine gewaltige Festung, um die Feinde aus dem Norden abzuschrecken, nun, da die meisten Soldaten und Diener von Lurruken geflohen sind.“
Raí schwieg dazu. Er hatte nicht vor, seine Eltern zu verteidigen, die ihm ständig alles verboten hatten und so selten für ihn da gewesen waren. So fuhren sie also weiter bis zu den Baustellen an der Bucht.
„Du musst hier absteigen, Kleiner“, erklärte ihm der Fahrer, „ich muss die Steine hier abliefern und werde morgen zurück nach Darôn fahren.“
„Wie komme ich auf die Insel?“ fragte Raí, obwohl er sich eher davor fürchtete, vom Wasser eingeschlossen zu sein.
„Du nimmst die Fähre dort hinten“, er deutete nach Südwesten, irgendwo jenseits von Baugerüsten und –stoffen, „sie fährt nur, wenn genug Leute übersetzen wollen.“
„Danke!“ erwiderte Raí und stieg vom Wagen.
Der Mann fuhr umgehend weiter. Raí sah sich kurz um. Überall befanden sich Gebäude, Mauern und Straßen im Bau, etliche Leute wuselten zwischen den einzelnen Baustellen umher, Wagen und Karren lieferten Baustoffe, Werkzeuge und Verpflegung an und ständig rief irgendjemand einer weiter entfernten Person Anweisungen oder Warnungen zu. Da es noch früh am Tag war, suchte sich Raí seinen Weg zur Fähre. Diese war in Wirklichkeit nur ein alter Holzkahn, der früher wohl ungefähr an dieser Stelle der Nechdra seinen Dienst als Flussschiff getätigt hatte. Es war gerade groß genug für etwa zwei Wagenladungen und die dazugehörigen Leute. Im Moment war sie ohne Ladung.
„Bringt mich zu der Insel!“ forderte Raí von dem Fährmann.
Dieser warf ihm nur ein zahnloses Grinsen zu.
„Bursche! Siehst du nicht, dass ich auf Ladung warte? Wenn du übersetzen willst, gedulde dich, bis der Kahn voll ist!“
Raí wartete geschlagene zwei Stunden, dann endlich kamen Holz, Steine, Werkzeuge und Arbeiter für die Insel. Das Schiff schaukelte dank des klaren, warmen Tages kaum, doch lag es tief im Wasser und Raí konnte die ganze Zeit nur daran denken, dass es untergehen und sie alle ertrinken würden. Aber kurze Zeit später stand er auf der Insel. Im Südosten erblickte er ein großes Gebäude, das ihn noch am ehesten an einen Palast aus den Geschichten seiner Amme erinnerte. Er hielt direkt darauf zu, auf Straßen zwischen fertigen und halbfertigen Gebäuden hindurch, und schließlich durch die offenen Tore in den starken Mauern die den Palast umgaben. Niemand hielt ihn auf, erst vor den Toren des Palastes selber standen zwei Wachen. Zwei Bartäxte versperrten ihm plötzlich den Weg.
„Kein Zutritt zum Palast für Fremde!“ erklärte einer der Wächter und sah ihn hart an.
„Lasst mich durch!“ empörte sich Raí, der es nicht gewohnt war, dass sich ihm Wächter widersetzten, „Ich bin Raí, Silön kennt mich! – Ich muss dringend zu Silön!“
Der andere Wächter sah ihn belustigt an.
„Warum sollte Silön einen solch verdreckten Bettlerjungen kennen?“
Beide Wächter lachten, Raí aber wurde zornig und lief rot an.
„Lasst mich durch!“ wiederholte er laut und trotzig.
„Was willst du schon machen?“ grinste der erste Wächter.
In dem Moment öffnete sich eine kleine Tür in einem der Torflügel und es kam ein schwarz gewandeter Mann heraus. Er sah wichtig aus.
„Was ist hier los?“ fragte er, blickte sich zu allen Seiten um, starrte zuerst die Wächter an, welche Haltung annahmen und ernst drein blickten, dann Raí.
„Wer bist du, Kleiner?“ wollte er wissen, kniff die Augen zusammen und musterte den Knaben gründlich.
Einer der Wächter ergriff unaufgefordert das Wort: „Herr, dieser Junge will zu Silön – er behauptet, Silön kenne ihn.“
Der Blick des Schwarzgekleideten zuckte zuerst leicht verärgert zu dem Wächter, der gesprochen hatte, dann zu Raí.
„Noch mal – wer bist du und was willst du von Silön?“
Raí plusterte sich so gut es ging auf und versuchte wichtig auszusehen.
„Mein Name ist Raí – Silön wird mich sicherlich sehen wollen – und nun lasst mich endlich ein!“
Raí drang bis zu den Äxten vor, die ihm erneut schnell den Weg versperrten, und sah den Mann durchdringend an. Als von allen bewunderter und geachteter Sohn von Tól und Omé war ihm in Lían immer nur Ehrfurcht entgegen gebracht worden, anderes war er nicht gewöhnt.
Der Mann überlegte eine Weile, dann befahl er nachdenklich, doch ruhig: „Lasst ihn durch – er scheint keine Gefahr zu sein – ich werde mich um ihn kümmern.“
Raí folgte dem Mann durch die Gänge des Palastes.
„Mein Name ist Thaléon Balouron, erster und höchster Berater von Silön“, stellte dieser sich vor. „Falls du dich wunderst – wie in deinem eigenen Heimatland stammen viele in dieser Gegend von Luvaunen ab. Silön hat beschlossen, diese Sprache zu fördern – ebenfalls, wie es bei euch geschieht.“
Das interessierte Raí natürlich nahezu gar nicht. Stattdessen fiel ihm etwas anderes auf.
„Ihr kennt mich also!“ stellte er fest.
Balouron lächelte, ein irgendwie unpassender Ausdruck in dem düsteren Gesicht mittleren Alters.
„Silön meinte, es könnte ein Junge vorbeikommen – einer unserer Helfer, der Arsullan besuchte, hat uns Kunde gebracht. Du könntest dieser Junge sein, also frage ich lieber Silön.“
Sie kamen an zwei großen, schwarzen Torflügeln zu stehen.
„Warte hier!“ ermahnte Balouron, öffnete einen der Flügel einen spaltbreit, schob sich hindurch und schloss ihn wieder hinter sich.
Raí wartete minutenlang und sah sich die Inneneinrichtung an. Das meiste war noch kahl und leer, aber an den Wänden hingen bereits einige Wandteppiche. Diese konnten dort zwar noch nicht lange hängen, sahen aber bereits verstaubt aus und erzählten von uralten Schlachten und Begebenheiten. Ansonsten war der Palast tatsächlich eher spärlich eingerichtet. Nach einiger Zeit öffnete sich der Torflügel wieder und der Kopf eines weiteren Mannes lugte heraus.
„Ihr dürft eintreten“, sprach der Diener und schob die Flügel weit genug auf, damit Raí hindurch passte.
Der Raum hinter dem Tor war offensichtlich ein erst notdürftig eingerichteter Thronsaal. Die Erhebung für den Thron war schon vorhanden, sonst aber nur Kerzenleuchter und einige wenige Möbel. Der Diener deutete auf eine Tür rechterhand der Thronerhebung, verbeugte sich und verschwand durch eine Tür linkerhand von dieser. Raí stand nun allein im Saal. Schließlich ging er durch die Tür, auf die der Diener gedeutet hatte. Ihn erwartete ein Arbeitszimmer, mit Schreibtischen, Bücherregalen und Stühlen sowie weiterführenden Türen. Silön stand mit einem Buch in der Hand an einem Regal und las darin. Dann bemerkte Raí einen zuerst gespielt erstaunten Blick, gefolgt von einem erfreuten warmen Lächeln. Das Buch wurde geschlossen und auf einen Tisch gelegt. Silön kam auf ihn zu und nahm ihn kurz in den Arm, trat dann zurück und sah ihn an.
„Es erfreut mich, dich hier begrüßen zu dürfen, Raí. Aber was führt dich zu mir?“
Nun musste Raí kurz verlegen zu Boden blicken, während er mit offenem Mund nach Worten suchte, um sich zu erklären.
„Ich – ich bin von Zuhause weggelaufen“, begann er unsicher.
Dann aber übermannte ihn die Wut auf seine Eltern: „Nie erlaubt man mir, zu tun, was ich tun möchte! – Alle achten immer nur auf Lían!“
Raí schien den Tränen nahe. Silön lächelte beruhigend weiter.
„Und warum bist du gerade zu mir gekommen?“
„Ich habe in Arsullan gehört, dass du hier bist – und wo sollte ich sonst hin? Ich kenne hier nur dich.“
Wieder lächelte Silön.
„Du kannst gerne hier bleiben – und mir helfen, wenn du willst und kannst.“
Raí witterte endlich wichtige Aufgaben für sich. Diese Aussichten ließen ihn erfreut aufblicken.
„Was soll ich tun?“
Ein drittes Mal lächelte Silön, tiefere Gefühle verbergend.
„Lass uns erstmal hinsetzen. – Willst du etwas zu trinken?“
Durstig und erschöpft nickte Raí schnell, bevor er sich auf einen der Stühle setzte. Silön nahm Krug und Becher aus einem Schrank, stellte sie auf den Tisch, goss Raí und sich feinsten Obstsaft ein und setzte sich dann Raí gegenüber. Raí trank begierig.
Silön goss ihm mehr ein und fuhr fort: „Wie du sicher gehört hast, versuche ich die Städte und Dörfer an der Nechdra zu einen und zu schützen. – Die Feste hier soll als Mittelpunkt meiner Pläne dienen und besonderen Schutz bieten. – Es würde mich nicht wundern, wenn deine Eltern weiter versuchen mich zu behindern. – Weißt du, ich wollte deinen Eltern nur dienen und helfen, ich stand lange in ihren Diensten. Doch dann bemerkte ich ihre wahre schändliche Absicht und nun versuchen deine Eltern, mich zum Schweigen zu bringen.“
Silön blickte völlig ernst und unschuldig, Raí weiterhin begierig.
„Wie kann ich dir helfen?“
Nun sah Silön ihn noch ernster an.
„Hilf mir dabei, das Land an der Nechdra zu einen. – Tamirús und Lurruken haben dieses Gebiet bereits völlig aufgegeben und überlassen es nun sich selbst, da überall das Meer Land verschlungen hat und hier schreckliche verwirrende Zustände ausgebrochen sind. – Niemand sagt den Leuten mehr, was zu tun ist, noch bietet ihnen jemand Schutz und Hilfe.“
„Aber ich habe Angst vor dem Meer“, musste Raí kleinlaut zugeben.
Silön lächelte ihn aufmunternd an.
„Geh nach Darôn. – Ich setze dich dort als Statthalter ein. – Sag den Leuten in meinem Namen, was zu tun ist.“
„Aber ich möchte lernen zu kämpfen“, wand Raí ein.
Erneut musste Silön lächeln, diesmal erheitert.
„Keine Angst, ich lasse dir die besten Ausbilder zukommen, die ich finden kann. – Und wenn die Verwaltung von Darôn steht und wir eine Armee aufbauen können um uns zu verteidigen, wirst du sie anführen!“
Raís Augen begannen zu leuchten. – Sofort willigte er ein. Silön lächelte diesmal erfreut.
„Meinen Berater – Thaléon Balouron – hast du ja bereits kennen gelernt. – Bleib einige Tage oder Wochen hier im Palast, er wird dich in deine Aufgaben einweisen und dir zur Seite stehen. – Geh einfach in das Zimmer gegenüber von diesem. – Auf der anderen Seite des Thronsaales.“
Damit verabschiedeten sie sich voneinander und Raí umarmte Silön in kindlicher Freude. Silön lächelte ein letztes Mal – alles verlief erfreulich.
Raí wurde zwei Wochen lang von Balouron eingewiesen. Er reiste dann zurück nach Darôn, wurde dort den Einwohnern als neuer Herr von Darôn öffentlich vorgestellt und bekam einen Stab von Beratern zugeteilt, die ihm bei der Bewältigung der Verwaltungsaufgaben helfen sollten, in Wirklichkeit aber natürlich den Großteil der Arbeit selbst übernahmen. Lieber konzentrierte sich Raí auf das Kämpfen mit Schwert und Schild, Bogen und anderen Waffen; ebenso brachte man ihm das Führen von Kriegern bei, zwei Jahre später – weiterhin unterstützt von Beratern und über Hauptleute, die seine Fehler wieder gut machen konnten.

Zu Raís 16. Geburtstag verkündete Silön auch den Namen der nun fast fertigen Feste in der Nechdramündung, während an der Stadt noch fleißig gebaut wurde. Man kannte sie ab sofort unter dem Namen Silour – manchmal auch geschrieben: Silûr. Auch festigte Silön die Herrschaft über das Nechdraland bis zur Stadt Arsen, fast am anderen Ende der Nechdra, welche Silöns Schutz annahm. Die Vorgänge der Machtfestigung Silöns und des Lernens Raís gingen die nächsten Jahre ohne größere Vorkommnisse voran. In der Zwischenzeit hielten aber die Abläufe auch im Gebiet von Tól und Omé nicht an.

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