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Erzählung zum Thema Zukunft

von  bluedotexec

Die PKZ war das Herz eines jeden Menschen. Sie bestimmte alles, noch mehr als einst der Name. Mit ihr konnte man, sofern es erforderlich war, öffentliche Verkehrsmittel benutzen, einkaufen, sich medizinisch betreuen lassen und so weiter. Gee wohnte in Block 47, zu Fuß circa zwei Stunden von ihrer Arbeitsstelle entfernt. Sie war deshalb auf die M-Rails angewiesen. Ihre PKZ enthielt die Information über ihre Arbeitsstelle, deswegen durfte sie bis dorthin mitfahren, und nur bis dorthin. Jeder, der sich nach seiner zugewiesenen Haltestelle noch in der M-Rail befand, wurde einmalig verwarnt und bekam die Chance, an der nächsten Station auszusteigen. Kam er dem nicht nach, wurde die PKZ für eine Woche gesperrt.

Gee verließ die Straßenbahn und betrat das direkt gegenüber liegende Gebäude. Im Haupteingang wurde der PKZ-Code in ihrem Nacken abgelesen.
Jedes Mal war diese Prozedur, die nur Bruchteile einer Sekunde dauerten, ein spannender Augenblick. Es kam alle Weile vor, dass die PKZ eines Menschen auf dem Weg zwischen Straßenbahnstation und Haupteingang erlosch. Solch unabhängige Menschen waren nicht befugt, das Vernichtungsministerium zu betreten. Auch sie wurden einmalig aufgefordert, das Gebäude zu verlassen, und wer dieser Aufforderung nicht binnen viereinhalb Sekunden nach kam, wurde von zwei still und drohend in ihren Halterungen schlummernden Lasergeschützen vaporisiert.
Dieser Begriff hingegen war nicht zugewiesen, sondern entsprach dem tatsächlichen Ergebnis des Beschusses.
Gee's Zeit war noch nicht abgelaufen. Sie betrat den Aufzug, fuhr in den einhundertvierundzwanzigsten Stock des Ministeriums und verließ ihn dort so schnell, wie sie ihn betreten hatte.
In ihrer Büronische fand sie einen Stapel PKZ-Hintergrunddokumentationen. In diesem Fall war ihre Aufgabe klar.
Sie hatte sämtliche Datenbanken zu prüfen - Versicherung, Fahrzeuge, Lebensraum, Finanzen - und festzustellen, ob die entsprechende PKZ dort als vernichtet verbucht war.
Die erste PKZ war P4U-7XQ. Diese Nummer kannte sie sogar, der Mann, der sich dahinter verbarg, wurde Paul genannt und wohnte ebenfalls in LR-Block 47, allerdings 36 Stockwerke unter ihr. Sie hatten einige Male miteinander geredet.
Gee startete die Haupteinheit-Schnittstelle, die ihren Monitor mit dem Stadthauptdatenkern verband, und rief die erste Datenbank auf. Sie fing mit den Versicherungen an. Sie fing immer mit den Versicherungen an. Die PKZ von Paul war dort nicht mehr verbucht. Als nächstes rief sie die Lebensräume auf. Auch hier war "P4U-7XQ" nicht verbucht. Es folgten die Finanzen. Die gesuchte oder ungesuchte PKZ war nicht mehr eingetragen. Abschließend kontrollierte sie die Fahrzeuge. Hier fand sie die PKZ. Sie lag da, versteckte sich zwischen "P4U-7XP9" und "P4U-7XQ0", wohl in der Hoffnung, dass sie niemand entdeckte.
Gee löschte sie Kurzerhand.
Paul existierte nicht mehr. Zumindest für diese Stadt gab es den Menschen, der bis vor einer Sekunde noch "P4U-7XQ" geheißen hatte, nicht mehr. Es hatte ihn nie gegeben. Er galt ab sofort nicht mehr, und somit konnte einem neuen Menschen die PKZ zugewiesen werden.
Gee hatte auf der Schule nicht gelernt, was mit den Menschen passierte, deren PKZ gelöscht wurde, deswegen war es ihr auch egal. Sie hatte dort andere, wichtige Dinge gelernt. Sie wusste genau, dass die Menschen von einst krank und schwach waren und solchen Dingen wie Radioaktivität erlagen. Sie wusste, dass es früher Tiere gegeben hatte, die dem Menschen gefährlich waren, weil zu dumm waren um zu begreifen, wie wichtig er für diese Welt ist. Und deswegen sind sie ausgestorben. Die Geschichte war schon immer ihr Lieblingsthema.
So arbeitete sie sich durch alle Mappen, die auf ihrem Schreibtisch lagen. Die Menschen in den Kabinen um sie herum taten, soweit sie wusste, das gleiche. Es kam selten vor, dass jemand, dessen PKZ abgelaufen war, sich noch im System befand, aber es gab viele Menschen, und das System konnte nicht alles überprüfen.
Gees Arbeitszeit war nicht definiert. Wenn morgens zwei Mappen dort lagen, dann konnte sie nach zwei Minuten wieder gehen, manchmal stand auch ein ganzer Dokumentenwagen vor ihrer Nische, dann musste sie eben die Nacht auch noch arbeiten. Heute hatte sie eine halbe Stunde arbeit zu erledigen.

Als sie das Gebäude verließ und ihren PDA aus der Tasche nahm, der sie mit ihrem privaten Organisationsrechner in ihrem Appartement verband, stieß sie jemand von hinten an.
"He, G33X-P4X. Sie haben heute gute Arbeit geleistet."
Gee drehte sich um. Hinter ihr stand ein ihr völlig unbekannter junger Mann. Er hatte kurze, dunkle Haare - wie vorgeschrieben - und blaue Augen.
"Wer sind Sie?"
Sie hob ihren PDA.
"K48-C5. Sie können mich Cab nennen. Ich bin Ihr Wächter."
Gee hatte in einer Unterhaltung mit einer Freundin einmal davon erfahren, dass es Menschen gab, die eine Stufe höher arbeiteten als sie es tat. Diese Menschen hatten meist etwa 20 verschiedene Vernichter unter sich und überwachten deren Arbeit, mal hier, mal dort ein wenig. Diese Personen nannte man Wächter.
"Es ist nicht üblich, dass sich Mitarbeiter untereinander kennen lernen."
"Ich weiß. Es ist aber nicht verboten. Obschon dadurch das partielle gesellschaftliche System marginal gefährdet wird, dem Sie zugewiesen sind."
"Sie meinen meine Freunde."
"In der Tat. Ich möchte an dieser Stelle meine Bewunderung für die Arbeit aussprechen, die sie mit dem E-razor leisten."
Der E-Razor war das Computerprogramm, mit dem Gee arbeitete.
"Inwiefern ist das etwas Besonderes?"
"Nun, der E-Razor ist letztendlich kein Interface. Sie nutzen demzufolge Kommandozeilen, mit denen Sie einzelne PKZs löschen. Es ist nicht so, dass Sie PKZs anklicken und sie verschwinden aus den Datenbanken. Solch armselige Aufgaben haben die Vollstrecker."
"Ja, aber die Vollstrecker müssen auch nur die PKZs entfernen, die wegen Vergehen vorübergehend aus dem System gesperrt werden müssen. Eine einfache, niedere Aufgabe."
Einige Menschen in ihrer Umgebung blickten missmutig auf.
"Wie auch immer. Ich möchte Ihnen eigentlich nur eine Empfehlung mit auf den Weg geben. Prüfen Sie nicht, wen Sie löschen, sondern wen Sie treffen. Das ist eine etwas... andere Aufgabe." Damit verschwand der Mann in der Menge. Gee sah ihm kurz hinterher, dann prüfte sie den PDA. Der Organisationsrechner meldete, dass die Lebensmittel knapp wurden. Gee würde einkaufen müssen. Sie ging zur M-Rail-Station und forderte eine TKZ an. Temporäre Kennziffern wurden benötigt, um Freunde zu besuchen - sofern man welche zugewiesen bekam - oder um einzukaufen. Gee hob den Laserscanner an den Nacken.
"G33X-P4X. Anliegen?"
"Einkauf. Lebensmittelknappheit."
"Drei Stationen. Haben sie einen schönen Tag."
Ein heißer Schmerz zuckte durch ihren Nacken, als der PKZ ein Element hinzugefügt wurde. Dann stieg sie in die Bahn.
In der Bahn herrschte keine spezielle Atmosphäre, wie eigentlich überall in der Stadt. Es war nicht zu warm und nicht zu kalt, es war nicht zu laut und nicht zu leise. Niemand redete, die Luft enthielt das Optimum an Sauerstoff.
Stille. Drei Stationen.
Dann stieg sie aus und verließ den M-Port, wie die Stationen offiziell hießen. Erneut spürte sie das Brennen in ihrem Nacken, diesmal, weil das zugefügte Element wieder gelöscht wurde.

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Kommentare zu diesem Text

Angelika Dirksen (62)
(04.05.09)
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 bluedotexec meinte dazu am 04.05.09:
Nun... danke. Allerdings gibt es, was das weiterverfolgen angeht, zwei Probleme. Erstens - ich schreibe nebenbei einen anderen Roman. Und der ist mir sehr viel wichtiger als dieser, weil ich dort im Gegensatz zu dem hier nicht auf das wahren kalter Sterilität angewiesen bin.
Zweitens - ich hab mir mit einem Kochmesser in die Hand gesäbelt und jetzt ne hübsche eklige Entzündung. Zeigefinger ist nicht drin beim Schreiben. Wenn das wieder in Ordnung ist, komme ich aber in gesteigertem Tempo voran.
Liebe Grüße,
Patrick
Elvarryn (36)
(04.05.09)
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 Mutter (05.05.09)
Jo, wie drüben ( => ) bereits erwähnt. Mutant bin ich auch nicht ... :D

Haben Sie einen schönen Tag, Bürger!
Mitternachtslöwe (27)
(06.05.09)
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