Augen in Sturmgrau

Erzählung zum Thema Persönlichkeit

von  Mutter

Mein ganzes Leben lang habe ich blaue Augen besessen - bis neulich.
Ich musste mir für einen kurzen Abstecher nach Tanger einen Provisorischen Reisepass ausstellen lassen.
Auf dem Amt sitze ich da, betrachte die kargen Wände mit Tierpostern und den Zetteln mit den klugen Sprüchen, und warte darauf, dass meine Sachbearbeiterin aufhört in ihren Rechner zu tickern.
Plötzlich hält sie inne. Sieht mich über den Rand ihrer Lesebrille an. Misstrauisch.
Mir wird leicht unwohl. Jahrelang hatten mich meine Eltern vor dem staatlichen Missbrauch der elektronisch lesbaren Personalausweise gewarnt, und plötzlich flammen Urängste in mir auf.
Was lässt die Dame stolpern? Was hatte Schäuble dort über mich hineingeschrieben?

Sie schaut mich wieder an, kneift die Augen zusammen und sagt dann: ‚Blau?’
Ich nicke – habe allerdings keine Ahnung, wovon sie redet.
‚Ihre Augen sind doch nicht Blau!’ fährt sie dann fort.
Nein? Die waren immer schon blau, will ich einwenden. Aber sie kommt mir zuvor.
Sie schüttelt den Kopf. ‚Nein, nein, die sind nicht Blau.’
Ich warte. Will ängstlich wissen, welche Farbe meine Augen wirklich haben. Hatten, all die Jahre.
Sie lehnt sich über den Tisch zu mir, kneift die Augen noch mehr zusammen. Lehnt sich dann zurück. ‚Die sind doch eher Stahlgrau.’
Ich kann es kaum fassen. Innerlich jubele ich, lasse mir aber nichts anmerken.
Stahlgrau, davon träumen alle Jungs. In wie vielen Westernheftchen taucht am Anfang ein Fremder mit stahlgrauen Augen auf, und du weißt: Der isses! Der macht sie alle fertig.
Und jetzt darf ich der Fremde mit den stahlgrauen Augen sein. Ich übe schon mal den verbitterten Blick, weil diese Fremden mit stahlgrauen Augen haben immer auch so einen harten, unbarmherzigen Blick drauf.
Ich traktiere die Sachbearbeiterin mit meinem neuen Blick.
Sie merkt nichts.
Dann schüttelt sie den Kopf. ‚Nein …’ murmelt sie.
Nein?
Sie sieht mich wieder an. ‚Ich glaube, das ist eher ein … Sturmgrau.’
Wie ein Kartenhaus fallen meine Träume in sich zusammen. Ich werde keine Kneipe in Mitte betreten und alle Anwesenden gnadenlos taxieren. Niemand wird mir sofort sein Bier in die Hand drücken, in der Hoffnung, mein Freund zu sein.
Keiner wird in der U-Bahn aufstehen, um mir Platz zu machen. Aus Angst, in der Nähe meiner harten Augen zu sein.
Schade. Ich bin so gerne ein Fremder.

Und nun soll ich also sturmgraue Augen haben. Wie die See? Ich mag das Meer nicht besonders, kann nicht mal schwimmen. Die Tiefe ängstige mich, hat mein Therapeut mal gesagt. Hab ich ihm sofort geglaubt.
Ich zögere. Sturmgrau ist natürlich längst nicht so abgeklärt wie Stahlgrau, aber während Ersteres eine reine Jungs-Sache ist, kann ich mit sturmgrauen Augen sicher auch bei den Mädchen punkten. Sturmgrau ist Leidenschaft, ist Verwegenheit und ein bisschen Mystik. So was mögen Mädchen. Doch, mit Sturmgrau kann ich mich vielleicht doch anfreunden.
Die Sachbearbeiterin offenbar auch – ist halt auch ein Mädchen. Mitte Vierzig.
Sturmgrau scheint zeitlos zu sein.
Jedenfalls trägt sie bei Augenfarbe ‚Sturmgrau’ in meinen neuen Provisorischen Reisepass ein, und ich freue mich auf die Mädchen in Tanger. Die werden staunen.

***

Ein paar Monate später muss ich meinen Personalausweis erneuern. Inzwischen war ich umgezogen. Ich sitze also auf einem neuen Amt in Moabit, mit einer neuen Sachbearbeiterin. An den Wänden die gleichen Tierposter, die gleichen Aphorismen.
Ist auch Schäuble für verantwortlich, nehme ich an.
Sie reißt mich aus meinen Gedanken, indem sie unwirsch sagt: ‚Sturmgrau? So was gibt es nicht!’
Ich will protestieren, will auf meine Augen zeigen und rufen: Doch, sehen Sie nur, Sturmgrau! Wirklich und wahrhaftig! Will ihr den leidenschaftlichen Blick zeigen, mit dem ich seit Monaten durch Berlin laufe, und mit dem ich Tanger im Sturm erobert habe.

Mache ich aber nicht – ich bin mir nicht sicher, ob sie für leidenschaftliche Blicke zu haben ist, gerade. Also warte ich ab.
Sie sieht mich verärgert an. So, als wäre ich direkt für diese ihrer Meinung nach nicht existente Augenfarbe zuständig. Als hätte ich mit Kugelschreiber selber die Farbe in meinem Pass abgeändert.
Die Sachbearbeiterin schüttelt den Kopf, nimmt mich genauer in Augenschein. So, wie ihre Kollegin damals. Ich schlucke.
Ich möchte keine blauen Augen mehr haben. Blaue Augen bei Mädchen sind gut – die mag jeder gerne leiden.
Bei Jungs – da ist Blau nichts. Ist einfach nicht aufregend genug.
Aber dass die Dame jetzt feststellt, ich hätte eigentlich braune Augen, dunkel und geheimnisvoll wie Antonio Banderas, daran glaube ich eher nicht. Kann mir kaum vorstellen, dass sie jetzt in meinen Ausweis schreibt: Augenfarbe: Wie Antonio Banderas.
Eher unwahrscheinlich.

Dann sagt sie: ‚Grau. Ihre Augen sind Grau.’ Und nickt bestätigend.
Ich bin etwas niedergeschlagen. Obwohl Grau natürlich um Längen besser ist als Blau, und vielleicht sogar besser als Antonio-Banderas-Braun, ist Grau weitaus gewöhnlicher als Sturmgrau oder sogar Stahlgrau.
Aber damit werde ich in Zukunft wohl leben müssen.
Verhandeln will ich auf keinen Fall. Könnt ja sein, dass sie plötzlich entscheidet, im Universum der Personaldokumente gibt es doch nur Blau, Grün und Braun.
Und mit meinen blauen Augen bin ich fertig. Die haben mir jahrelang alle Chancen verbaut, mich runtergezogen. Das ist jetzt vorbei.

Immerhin hatte ich die Mädchen in Tanger mit meinem leidenschaftlichen Sturmgrau in der Zwischenzeit gebührend beeindruckt.


Anmerkung von Mutter:

Basiert auf einer (fast) wahren Begebenheit. Den Reisepass habe ich noch irgendwo, und der Perso liegt hier direkt vor mir. Und in Tanger war ich auch … ;)
Na gut, nur dass die Augen zwischenzeitlich nicht sturmgrau, sondern blau-grau geworden waren.
Details …

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Kommentare zu diesem Text

Kitten (36)
(12.05.09)
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 Mutter meinte dazu am 12.05.09:
Ja ...

So halt.

Danke ... :)
Bohemina (29)
(12.05.09)
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 Mutter antwortete darauf am 12.05.09:
Danke Dir ... :)
kontext (32)
(12.05.09)
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 Mutter schrieb daraufhin am 12.05.09:
:)

Ja, mit den 'Lecks' hatte ich in der Tat auch zu kämpfen, und bin ihrer wohl nich ganz Herr geworden.
Im eigenen Hause, quasi.

Danke Ihnen, und werd's mir merken.
Das mit dem Mocca.
mannemvorne (51)
(12.05.09)
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 Mutter äußerte darauf am 12.05.09:
Hehe, danke vielmals.

*rotwerd*

Aber: Der eigentliche Star ist der hier:  Jup, der hier isses - echt mal! :)
mannemvorne (51) ergänzte dazu am 12.05.09:
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 Mutter meinte dazu am 12.05.09:
:D
parkplatzbison (29)
(13.05.09)
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 Mutter meinte dazu am 13.05.09:
Cool, danke ... :)
Steinwolke (65)
(14.05.09)
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 Mutter meinte dazu am 14.05.09:
Ja, vielleicht - wobei es schwer werden könnte, was zu finden, was durch das 'Grau' ausgelöst wird.
Besser, bzw. einfacher wäre es vermutlich, was zu finden, wo das fehlende Sturmgrau einen echten Unterschied macht ...

Nonnom ...
*nachdenk*

Ach ja, die BW-Geschichte: Aufschreiben! :)
Klingt großartig, will ich lesen ...

Danke schön ...
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