Wohin führt sein Konzept?

Erörterung zum Thema Erziehung

von  Hoehlenkind

Zweifellos ist ein solches "Training" wirksam. Auch ohne offensichtliche Gewalt hinterlässt eine solche Dauerberieselung mit Demütigungen in der kindlichen Seele tiefe Spuren, die meist nicht wieder verschwinden werden. Eingefahrene Gleise, die es nicht so leicht wieder verlassen kann. Es wird spuren, wann immer jemand sich ähnlich wie seine Eltern verhält. In Gegenwart von "Respektspersonen" wird es unauffällig sein und reibungslos funktionieren. Es wird im Rahmen seiner geistigen Fähigkeiten lernen, was man ihm vorsetzt. Alles in allem also ein fast universell einsetzbares Rädchen im Getriebe.

Bei soviel Licht gibt es natürlich auch Schatten. Der Psychoanalytiker Arno Gruen hat sich intensiv mit diesen Schattenseiten des Gehorsams auseinandergesetzt, u.a. in seinen Büchern "Der Verrat am Selbst" und "Der Verlust des Mitgefühls". Unter Selbst ist der angeborene Kern zu verstehen, der sich zum Ich entfaltet, dazu gehören z.B. die körperlichen Empfindungen und Gefühle. Bei soviel Training von Fremdbestimmung wird das Selbst zur Quelle von Störungen im Verhältnis zu den Eltern und zur gesellschaftlichen Macht, die sie vertreten. Das hat zur Folge, das irgendwann das Kind sein Selbst verrät, sich selbst unterdrückt, um die überlebenswichtige Beziehung zu den Eltern nicht zu gefährden.

Daraus folgt ein psychologischer Mechanismus, die "Identifikation mit dem Aggressor". Nach all den Niederlagen will das Kind auf der Seite der Starken sein, es identifiziert sich mit der Macht, unter der es gelitten hat. Das kann Vater oder Mutter persönlich sein, aber auch die anonyme Macht des "man", der gesellschaftlichen Ordnung, der sich auch die Eltern unterworfen haben.

Das verratene und unterdrückte Selbst verschwindet nicht, aber es wird abgespalten und zusammen mit den ursächlichen Schmerz- und Ohnmachtserfahrungen ins Unterbewusste verdrängt. Dies ist der Grund, warum so viele Erwachsene kaum noch Erinnerungen an ihre Kindheit haben, insbesondere an ihre damalige Gefühlswelt. Mit dem Selbst geht auch das Mitgefühl für andere verloren. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, heißt es, aber wie soll das gehen für jemanden, der sich selbst hasst? Er kann höchstens "lieb sein" zur bedrohlichen Macht, um des "lieben Friedens" willen.

Inneren Frieden werden so Erzogene jedoch nicht finden. Frustrationen eine Weile auszuhalten, kann trainiert werden. Doch die Frustrationen selbst bleiben, sie suchen sich einen Ausweg in Aggression und Hass. Sie richten sich gegen alles, was nicht unter dem Schutz der Macht steht, mit Vorliebe gegen Menschen, die anders sind: andere Nation, andere Rasse, andere Kultur. Besonders auch gegen alles, was sich schwach zeigt, weil Schwäche wieder an den Schmerz der eigenen Schwäche zu erinnern droht, die sie erlebt und nur mühsam wieder verdrängt haben.

Hierin liegt auch die wesentliche Ursache ihres Hasses gegen Kinder, besonders gegen diejenigen, die ihr Selbst noch nicht aufgegeben haben. Das, was sie erlitten haben, ist am besten zu ertragen in dem Glauben, dass es anders gar nicht geht. So spüren sie einen inneren Drang, das selbst Erfahrene an Anderen zu wiederholen. Also Kinder so zu erziehen, wie sie selbst erzogen wurden, oder auch zu solcher Erziehung aufzufordern. Winterhoff nennt so etwas dann "Intuition".

Sein Einhämmern von gesellschaftlichen Normen ist eine Form von Sozialisation, der Tradierung von Kultur von einer Generation zur nächsten, doch nicht die einzig mögliche. Die andere geht über Lernen und Verstehen aus eigenem Antrieb der Kinder. Mischformen sind auch möglich, doch gerade das ist oft eine Quelle von Störungen, da die Prinzipien gegeneinander wirken. Die freie Entwicklung ist ohne Vertrauen nicht möglich, die Psychodressur nicht ohne Kontrolle. Die Dressur kann schneller Erfolge vorweisen und die Inhalte brauchen weder Sinn noch Begründung. Doch geht das nur um den Preis der geistigen Freiheit und Flexibilität. Einem Kind Höflichkeitsrituale einzuimpfen, ist Sache von wenigen Jahren. Ein sich frei entwickelndes Kind wird vielleicht erst nach der Pubertät so höflich sein, dann aber aus einem Taktgefühl heraus, das es ihm ermöglicht, auch mit anderen Kulturen zurecht zu kommen.

Bei der freien Entwicklung liegt die Sozialisation im Großhirn, sie kann durch einfaches Lernen verändert, erweitert und auch relativiert werden, gesellschaftlicher Wandel ist kein Problem. Beim Winterhoff'schen "Training" ist sie fest mit dem emotionalen Bereich verbunden, Gedanken an Änderung lösen Ängste aus, die weiteres verhindern. Außer auf Gebieten fernab der Erziehung gibt es keine geistige Freiheit mehr. 'Was sein muss', ist als Ergebnis eines Gedankengangs schon vorher festgelegt, 'was nicht sein darf' ist angstbesetztes Sperrgebiet.

Dadurch sind die Normen und Werte lebenslänglich fixiert, ähnlich den angeborenen Instinkten. Es ist eine statische Anpassung, alles wäre wunderbar, wenn alles bliebe wie es war. Doch in einer sich wandelnden Gesellschaft und Umwelt wird es zur Fehlanpassung. Die emotional fixierten Menschen finden sich mit der veränderten Realität nicht mehr zurecht, da sie immer noch die Welt erwarten, an die sie angepasst wurden. Das führt zu Frustrationen, Aggressionen und irgendwann zu reaktionären Bewegungen, zu Versuchen, die Welt wieder anzupassen an die veralteten Weltbilder.

Winterhoff selbst ist mit seinen Werken und Auftritten ein Beispiel, wohin diese Art von Erziehung führt. Ein ganzes langweiliges Kapitel seines zweiten Buches beschäftigt er sich damit, welche "Kommunikationsstörungen" sich ergeben, wenn nicht "das Kind als Kind" in seinem Sinne gesehen wird. Eigentlich ist es selbstverständlich, dass nicht jeder mit gleichen Begriffen das gleiche meint. Unterschiedliche Weltbilder sind keine Störung der Kommunikation, sondern gerade der Anfang zu wirklicher Kommunikation. Wenn alle die Welt gleich sehen würden, würde Kommunikation reduziert auf gegenseitige Bestätigung.

Sein Erfolg ist darauf zurückzuführen, dass es viele Menschen gibt, die ähnlich erzogen wurden, die Bestätigung für ihr Weltbild wollen und nicht Kommunikation, die es verändern könnte. Da gibt es einerseits eine erschreckende Gewalttätigkeit unter Jugendlichen, die manchmal wirklich tyrannisch ist. Und es gibt das Unbehagen, wenn Kinder sich anders verhalten und/oder anders behandelt werden als sie selbst in ihrer Kindheit. Auch wenn das Eine nichts mit dem Anderen zu tun hat, da die jugendlichen Gewalttäter meist autoritär erzogen sind, assoziiert Winterhoff einen solchen Zusammenhang. Und das macht seine Thesen attraktiv für Leute, die schon immer geahnt haben, dass das nicht gut gehen kann, wenn man vom einzig richtigen Weg abweicht. 

Es kann nicht darum gehen, solche Menschen zu bekämpfen, sie haben es schwer genug. Nicht gegen die Kranken, sondern gegen die Krankheit sollte etwas getan werden. Doch das ist absolut notwendig, nicht nur wegen der betroffenen Kinder, sondern auch wegen der Gesellschaft insgesamt. Es mag sein, dass durch solche Erziehung viele kleine Katastrophen wie unaufgeräumte Zimmer, schwarze Fingernägel oder geschwänzte Schulstunden vermieden werden können. Doch große Katastrophen wie der Nationalsozialismus und der zweite Weltkrieg wurden nicht nur nicht verhindert, sondern geradezu durch das reibungslose Funktionieren erst ermöglicht. Die allererste Forderung an Erziehung von Adorno, "dass Auschwitz nicht noch einmal sei", erfüllt sie jedenfalls nicht, sie ist mit der Erziehung vor Auschwitz identisch.

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Kommentare zu diesem Text


 MagunSimurgh (04.07.09)
Besser, viel besser – hier wird endlich klar, gegen was für eine Art von Erziehung du eigentlich argumentierst.
Das ist klar, das ist sachlich, ohne sinnfreie Seitenhiebe, das ist untermauert mit Zitaten und Ansichten anderer Wissenschaftler und es ist klar strukturiert.
Dieser Abschnitt ist argumentativ wieder große Klasse. Hier radikalisierst du nicht, sondern legst dar, deinen Standpunkt.

Was du dir wiederum allerdings hättest schenken können, ist der Schluss, wo du dann wieder darauf eingehst, dass Winterhoff selbst doch der Geschädigte sei, das ist argumentativ nicht sinnvoll, weil du damit deine Erkenntnisse aus der einwandfreien Argumentation für den falschen Zweck einsetzt, nämlich nicht, den Leser zu überzeugen, sondern den, gegen den du argumentierst, in ein schlechteres Licht zu rücken.

Und "Menschen wie..." ist die gleiche Form der Pauschalisierung, die du dem Herren vorwirfst im ersten Teil.

Die Stelle mit dem Taktgefühl hat mich sehr beeindruckt und von deinem Standpunkt durchaus überzeugt.

Ich denke, wie du ja im Ansatz schon zum Thema Kommunikation sagst, dass die "Wahrheit" bzw. das Ideal eine Verständigungsmitte, eine angemessene Mitte zwischen beiden Erziehungsansätzen wäre. Eingeschüchtert sollten Kinder meines Erachtens natürlich nicht werden, aber gewisse Normen sollten schon klar sein, die eben nicht aus reinem Taktgefühl einfach so entstehen, wenn sie nicht anerzogen werden. Von Anfang an. Und Tellerwegräumen oder eine gewisse Sauberkeit halten, sollte schon drin sein, zu mal es dem Kind wirklich helfen wird, denn mit ein bisschen Ordnung kann man besser arbeiten (nicht nur für die Gesellschaft, auch ganz ursprünglich, wenn du es so betrachten willst: auch als Jäger und Sammler kann ein bisschen Struktur im Zelt nicht schaden. ;) )

Liebe Grüße,
Magun
NachtSchwärmer (57)
(29.08.09)
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