Warum werden Kinder als Tyrannen empfunden?

Erörterung zum Thema Erziehung

von  Hoehlenkind

Das Wort "Tyrann" war ursprünglich eine griechische Bezeichnung für Herrscher allgemein. Später bekam es die spezielle Bedeutung von Gewaltherrscher aus persönlicher Willkür. Was sind das nun für Kinder, die von Winterhoff als "Tyrannen" bezeichnet werden? Sehen wir uns mal ein Fallbeispiel  genauer an. Erstmal aus der Sicht einer Lehrerin:

"Normalerweise fordere ich die Kinder einmal auf, ihre Mappen aus dem Schulranzen zu holen und auf den Tisch zu legen, damit ich mir die Aufgaben anschauen kann. Bei Philipp klappt das so gut wie nie nach der ersten Aufforderung. Kürzlich schaute er mich nach der Wiederholung meiner Bitte an und fragte nur ,Warum?‘, woraufhin ich geduldig erklärte: ,Weil wir jetzt die Hausaufgaben kontrollieren.‘ Passiert ist in diesem Moment gar nichts, keinerlei Reaktion des Siebenjährigen. Naturgemäß wird man in so einem Moment leicht ungeduldig, da ich solche Situationen kenne, bitte ich ihn aber noch ein drittes Mal, nun endlich die Mappe aus dem Tornister zu holen. Was antwortet mir dieses Kind? ,Nö, keine Lust!‘ Da ich diese Verweigerungshaltung nicht akzeptieren will, versuche ich also weiter, Philipp dazu zu bewegen, mir seine Hausaufgaben zu zeigen. Das Resultat ist, dass das Kind aufsteht und sich ohne einen weiteren Kommentar unter den Tisch setzt. Er hat sich dann die komplette Stunde nicht dort wegbewegt, ich konnte ihn nicht dazu bringen, sich wieder hinzusetzen und in der Klasse mitzuarbeiten."

Also ein Kind, das nach Sinn und Begründung einer Aufforderung an ihn fragt, darauf eine völlig unzureichende Antwort bekommt und sich daraufhin weigert, der Aufforderung nachzukommen. Doch was sagt Winterhoff dazu?

"Der Siebenjährige ist erkennbar in einer Phase des frühkindlichen Narzissmus gefangen, er kennt nur sich selbst, seine Bedürfnisse im jeweiligen Moment, und ist völlig außerstande, auf Anforderungen der Außenwelt zu reagieren."

Erkennbar ist hier, dass es Winterhoff nicht um das Kind geht, sondern um seine Vermutung, dass Kinder, die nicht unauffällig und bedingungslos gehorchen, psychisch zurückgeblieben sind. Natürlich reagiert Philipp auf Anforderungen der Außenwelt, nur eben nicht so wie es gewünscht wird. Nach meinem Empfinden ist er zumindest in puncto Mut und Selbstbewusstsein weiter als seine Mitschüler, sonst würde er die Auseinandersetzung mit der Lehrerin nicht wagen.

"Seine Verweigerungshaltung gegenüber der Lehrerin ist also keine gewollte Bösartigkeit, um diese zu verletzen, sondern Philipp erkennt schlicht in seiner Lehrerin kein Gegenüber, das für ihn von irgendeiner Bedeutung wäre."

Darin steckt die Anklage, dass er die Lehrerin verletzt hätte, obwohl er nichts getan hat außer sich zu verweigern.  Gnädigerweise spricht Winterhoff ihn zumindest von der gewollten Bösartigkeit frei, doch um den Preis, dass er ihm den Willen abspricht und ihm krankhafte Unfähigkeit unterstellt.

Hier zeigt sich auch Winterhoffs Grundeinstellung gegenüber Kindern. Er sieht sie nicht als Subjekte mit eigenem Willen und eigenen Vorstellungen, sondern als beliebig programmierbare Objekte. Wenn sie nicht reibungslos funktionieren, sind sie defekt, weil falsch programmiert. Das erspart ihm, sich um Verständnis zu bemühen, zu überlegen, warum das Kind nicht blind gehorchen will.

Von der gesamten Situation der gestörten Beziehung zwischen Philipp, seiner Lehrerin und dem Schulsystem sieht er nur das Kind als gestört und beziehungsunfähig. An der Lehrerin kritisiert er nur, dass sie sich nicht genug Respekt verschafft, wie, das lässt er offen. Das ganze System von Schule, Hausaufgaben, Gehorsam und Kontrolle wird als selbstverständlich vorausgesetzt und ist völlig außerhalb des Blickfelds, nicht nur unantastbar, sondern auch undiskutierbar.

"Aus diesem Grunde hat auch die Aufforderung, seine Hausaufgaben vorzulegen, für ihn keine Bedeutung, denn er ist nicht in der Lage, die Lehrerin als Respektsperson zu erkennen."

Was ist eine Respektsperson? Anscheinend eine Person, der ohne Rückfrage zu gehorchen ist. Kein Wunder, dass "Respekt" und "Respektlosigkeit" in beiden Büchern zwar häufig vorkommt, dabei jedoch nie von Respekt gegenüber Kindern oder von gegenseitigem Respekt die Rede ist. Das respektlose "kein Gegenüber erkennen" im Anderen, das er bei Kindern immer wieder als "Tyrannei" und psychischen Defekt gebrandmarkt, wird im umgekehrten Verhältnis als selbstverständlich und normal angenommen.

Dabei ist Respekt genau das, was Philipp von seiner Lehrerin einfordert. Er möchte nicht einfach als Automat gesehen werden, der zu funktionieren hat, sondern als Wesen, das ein Recht hat auf Begründungen und Sinnzusammenhänge für das, was es tun soll. Wenn an mich jemand Forderungen stellt, will ich sie auch begründet sehen, und dann erst entscheiden, ob ich sie erfülle. Und wenn das nicht respektiert wird, hätte ich auch "keine Lust".

"Darüber hinaus überzeugt er sich wieder und wieder davon, dass er die Lehrerin in der Hand hat mit jedem weiteren Versuch, ihn zu etwas zu bewegen, stellt diese sich seinen Steuerungsversuchen zur Verfügung ..."

Wer will hier eigentlich wen steuern? Eigentlich müsste doch klar sein, dass es hier die Lehrerin ist, die die Kinder steuern will, sie in diesem Fall dazu bringen will, ihre Mappen vorzulegen. Natürlich nicht so sehr aus persönlicher Machtgier, sondern weil sie es als ihre gesellschaftliche Aufgabe sieht. Ihr Dilemma ist, dass sie die Verweigerung als nicht hinnehmbare persönliche Niederlage empfindet, eben weil sie es als völlig normal ansieht, Kinder steuern zu können.

Philipp weigert sich, sich steuern zu lassen, sich der Macht zu unterwerfen. Würde er sich denn unter dem Tisch verkriechen, wenn es sein Interesse wäre, die Lehrerin "zu steuern"? Dort hat er die Lehrerin nicht im Blick, und  angenehm ist weder der Ort noch die ständigen Versuche der Lehrerin, ihn zurückzuholen. Wenn er schon nicht respektiert wird, will er wenigstens in Ruhe gelassen werden. Dabei ist einzige Befriedigung für ihn das Gefühl, zu sich selbst zu stehen.

Wie kommt es nun angesichts eines Kindes, das nichts weiter tut, als sich zu verweigern, zu der Assoziation eines verletzenden Gewaltherrschers? Nehmen wir mal an, die Lehrerin ist normal im Winterhoff'schen Sinne erzogen. 

Zweifellos bringt Philipp sie in Schwierigkeiten. Doch die Macht, von der sie unter Druck gesetzt wird, ist eine andere, die verdrängte gesellschaftliche Macht ihrer eigenen Erziehung. Ihr wurde diskussionlos immer wieder eingeprägt, was richtig und was falsch ist, was sein muss und was nicht sein darf. Schule muss sein, Hausaufgaben müssen sein, Kontrolle muss sein. Darüber wird nicht diskutiert, das darf nicht infrage gestellt werden.

Es muß auch sein, dass Kinder den Lehrern gehorchen. Die Situation der Verweigerung ist in ihrem Weltbild nicht vorgesehen, damit kommt sie nicht zurecht, sie empfindet es als ihr persönliches Versagen. Im Konflikt zwischen Philipp und der verdrängten Macht kann sie sich von der Macht nicht abgrenzen. Also bleibt nur das Kind als mögliche Ursache ihrer unangenehmen Lage, sie fühlt sich von ihm angegriffen und verletzt.

Bei den anderen Fallbeispiele ist das Prinzip ähnlich. Kinder sind anders als sie sein sollten, zu Engstirnigkeit erzogene Erwachsene haben Probleme damit und erklären sie deshalb zu Tyrannen, auch wenn sie eigentlich nur Verweigerer oder Rebellen sind. Hier ist der Begriff "Projektion" wirklich angebracht, sogar in seinem Extremfall, dem Prinzip Sündenbock.

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Kommentare zu diesem Text


 MagunSimurgh (04.07.09)
Also nach diesem Artikel kann ich nun auch die Problematik des Buches erkennen. Mit der du dich hier wieder sehr sachlich und sehr textorientiert auseinandersetzt und deine eigene Meinung daran belegst.
Geschickt gemacht und stimmt mich sehr nachdenklich.

Was das Beispiel angeht:

Sowohl der Herr Winterhoff als auch du unterstellt mir dem Kind zu viel.
Herr Winterhoff widerspricht sich übrigens selbst: einerseits unterstellt er dem Kind frühkindlichen Narzismus (zu dem Kinder in der Form meines Erachtens gar nicht fähig sind, so weit sind sie in ihrer Ich-Entwicklung gar nicht – unter Narzismus verstehe ich eine freiwillige Selbstbezogenheit, also keine aus Unfähigkeit andere zu erkennen – darin steckt der erste Widerspruch), andererseits sind sie aber frei programmierbare Objekte? Ich sehe da Widersprüche.

Ob das "Warum?" nun ernsthaft war oder eine reine Provokation, um die Grenzen zu testen (die, wie ich finde, doch gesetzt werden müssen, um eben einer Willkür vorzubeugen und zu zeigen, dass es noch andere Personen gibt), oder was auch immer, wage ich vom Hörensagen nicht zu beurteilen – aber ich stimme dir zu, dass Lehrer nicht genügend ausgebildet werden, angemessen darauf zu reagieren.

"Dabei ist Respekt genau das, was Philipp von seiner Lehrerin einfordert.", an dem Punkt unterstellst du mir zu sehr, dass das Kind das und das gewollt hat – so vom Hörensagen ist das meines Erachtens nicht so klar einzuschätzen, man hätte dabei gewesen sein müssen.

Am Ende deines Artikels stehe ich ein bisschen ratlos dar, einerseits verstehe ich deine Argumentation und glaube auch, dass es falsch ist, Kinder als Automaten zu behandeln, andererseits frage ich mich: Wie soll unsere Gesellschaft funktionieren, wenn jede Verweigerung okay ist. Klar, niemand sollte gegen sein Gewissen zu irgendwas gezwungen werden (steht auch im Grundgesetz).
Aber was ist mit genereller Arbeitsverweigerung zum Beispiel, die ja vielen Hartz-IV-Empfängern unterstellt wird. Wenn nun jemand nichts für diese Gesellschaft tun will, nicht zu ihr gehören will – darf die Gesellschaft ihn dann nicht fallen lassen? Sollte sie nicht sogar? Denn ein freier, taktvoller Mensch sollte doch ein Verständnis für Geben und Nehmen haben? Sollte er nicht die Notwendigkeit von Arbeit erkennen?

Ich stimme dir aber zu, in einem Punkt voll und ganz: Das Land / die Welt / wer auch immer, braucht keinen starren Menschen mehr, davon gibt es zu viele.

Danke für den Denkstoff, werde mich sicher noch eine Weile damit auseinandersetzen. Im Moment stellt es für mich mal wieder alle Fundamente unserer Gesellschaft aus neuer Perspektive in Frage.

Liebe Grüße,
Magun
Mitternachtslöwe (27)
(16.07.09)
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 Ganna meinte dazu am 02.10.09:
Du scheinst keine gute Meinung von den Menschen zu haben, ich glaube, das Gute und Schlecht existiert geichermassen und es ist gut, Gutes im Kinde zu sehen, zu erwarten, denn was ich erwarte wird auch eher eintreffen als das, was ich nicht erwarte.

Leider ist es verloren gegangen, "Kinder zu erziehen", d.h. die guten Eigenschaften im Kind zu fördern, denn das kann man immer nur, wenn man selber als Vorbild moralisch handelt. Heute wird alles in Frage gestellt, ein Lehrer, der bestraft, gerät allzu schnell, in den Verdacht, kein guter Lehrer zu sein, ein Schüler, der revoltiert, dem wird auch Aufmerksamkeit geschenkt, wenn er einfach nur sein Ego ausleben will. Es ist für Schüler und Lehrer nicht einfach.

auch nur ein paar Gedanken
lG ganna

 Dieter_Rotmund (06.07.19)
Der ursprüngliche Kommentar wurde am 06.07.2019 um 09:10 Uhr wieder zurückgezogen.
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