Tempora

Kurzgedicht zum Thema Betrachtung

von  Isaban

Die alte Katze Zeit holt dich stets ein:
Milliardenmal zur Mörderin geworden
ist sie geübt, sie schleicht auf Samtakkorden,
leckt über Haut und Haar, frisst Jugend und
verdaut Vergänglichsein.

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Kommentare zu diesem Text

Caty (71)
(16.05.09)
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 Isaban meinte dazu am 16.05.09:
Och!

 ManMan (16.05.09)
Ein gutes Gedicht. Das Bild von der Zeit als Katze gefällt mir: unbemerkt schleicht sie sich heran, schleimt sich ein und lässt einen ihre mörderische Natur vergessen, wenn sie nicht gerade dabei ist, eine Maus zu erlegen.
Allerdings gilt auch: Tempora mutant et nos mutamur in illis. {Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns mit ihnen]
LG Manfred

 Ingmar antwortete darauf am 16.05.09:
"Ein gutes Gedicht. Das Bild von der Zeit als Katze gefällt mir: unbemerkt schleicht sie sich heran, schleimt sich ein und lässt einen ihre mörderische Natur vergessen, wenn sie nicht gerade dabei ist, eine Maus zu erlegen."

hm. ich versteh deine bemerkung nicht ganz. die katze schleicht sich an, schreibst du, schleime sich ein und lasse einen ihre mörderische natur vergessen. warum sollte sie sich anschleichen? sie überfällt ja niemanden, sie will bloss kuscheln... hingegen: "sie lässt einen ihre mörderische Natur vergessen, wenn sie nicht gerade dabei ist, eine Maus zu erlegen" finde ich eine schöne, kluge sichtweise. ich finde nicht, dass isabans gedicht so zu verstehen, zu interpretieren ist. aber ich finde, das wäre eine richtige richtung jedenfalls, ein gedanke, der tatsächlich viel mit der 'zeit' zu tun hat, wenngleich eher in diesem sinn: man lebt in dieser zeit dahin, gutbürgerlich, behütet, und vergisst ihre mörderische natur: anderswo ist krieg, anderswo verhungern menschen, anderswo explodiert gerade jetzt eine bombe...

grüsse,
ingmar
(Antwort korrigiert am 16.05.2009)

 Isaban schrieb daraufhin am 16.05.09:
Vielen Dank, lieber Manfred, für die Rückmeldung und deine Gedanken zum Text. Eine spannende Interpretation und beide Aussagen schließen einander ja nicht aus, nicht wahr?

Liebe Grüße,
Sabine

Lieber Ingmar,

es gibt keine richtigen oder falschen Interpretationen, Interpretationen sind schon per Definition immer subjektiv, d.h., jeder kann und darf in seinen eigenen Assoziations- und Erfahrungsschätzen wühlen und dabei seine ganz eigene finden, ganz gleich, wie nah oder fern diese dann den Intentionen des Autors sind. Manfreds finde ich im übrigen recht stimmig und auch deine obige Auslegung sehr interessant. Es ist immer wieder spannend, wie viel Assoziationsspielraum Verse enthalten können.

Liebe Grüße,

Sabine

 Ingmar äußerte darauf am 16.05.09:
Liebe Sabine,

das hat jetzt nichts mit manmans kommentar zu tun, sondern bezieht sich allein auf deine aussage: "es gibt keine richtigen oder falschen Interpretationen" - schreibst du. nun ja, sabine. das ist schnell und leicht gesagt, und klingt einleuchtend. ist aber deswegen noch lange nicht wahr. es sei denn, interpretieren bedeute, irgendeinen quatsch verzapfen zu können, und das habe, quatsch hin, quatsch her, seine gültigkeit und müsse ernst genommen werden.

hätte uns george w. bush erklärt, er habe (nachdem sein vater, bush sen., ebenfalls einen krieg gegen saddam hussein geführt hat) auch einen krieg begonnen, und zwar aufgrund einer inspiration beim lesen des evangeliums, wo es an einer stelle heisse, man solle auch stets auch noch die andere wange hinhalten - so würden wir wohl denken, bush habe das Neue Testament auf eine weise interpretiert, die zumindest, zumindest sehr sehr seltsam ist.

ich stimme zu insoweit: es ist ein balanceakt, das verhältnis zwischen text und interpreten. einerseits werden freiräume eröffnet, aber - und das scheint mir schon wichtig - andererseits erlegt jeder text dem interpreten immer auch zwänge auf.

zu diesem thema empfehle ich dir vielleicht, falls es dich interessieren sollte, den umberto eco zu lesen, die 'grenzen der interpretation'. ähnlich dir mißtraut eco den forderungen nach definierter klarheit. aber, wie es der titel seiner werks schon sagt, misstraut er ebensosehr den forderungen nach unbegrenzter interpretatorischer freiheit und zeigt in abgrenzung von den verschiedenen formen von interpretationsskeptizismus, -anarchismus und -nihilismus anhand plausibler beispielanalysen, daß nicht jede beliebige interpretationshypothese berechtigt ist.

es erscheint mir wichtig und richtig, zum einen zwischen der interpretation eines textes und seinem gebrauch zu unterscheiden, zum anderen klarzustellen, dass es interpretationen gibt, die entschieden zu weit gehen, und die deshalb durchaus 'falsch' genannt werden können, und wohl auch sollten.

grüsse,
ingmar

 Isaban ergänzte dazu am 16.05.09:
Lieber Ingmar, deine eigene Interpretation ist doch das beste Beispiel, dass es da nicht nur Freiräume gibt, sondern dass jeder bei einem Text seine ganz eigenen Bilder "erlesen" und erfühlen kann, ganz gleich, ob diese den Intentionen des Autoren auch nur ansatzweise nahekommen, dass zum Beispiel jemand Mäuse und Vögel sieht, auch wenn die im Text nicht erwähnt werden - oder ein Fluchtverhalten impliziert sieht, dass in keinem Wort beschrieben wird, dass jemand aus dem Begriff Katze eine haus- und Schmusekatze macht, weil das besser in seine Vorstellungswelt passt - und dass jemand "die alte Katze Zeit" nicht nur einmal personifiziert, sondern gleich zweimal, nämlich als Katze als Akteur und als Zeit als Akteur.
Keine Bange, ich denke dennoch nicht, dass deine Interpretation falsch sei, sondern habe durchaus erfasst, dass du mit dem Text, so wie er da steht nicht viel anfangen kannst, dass er für dich nicht rund ist - eine Rückmeldung, die ich wichtig und interessant finde, auch wenn deine Auslegung meiner Verse mich von der Bandbreite des Assoziationaspielraumes überzeugt hat und die nachfolgende Argumentation (zumindest mir) auch eher erstaunlich als durchweg logisch erscheint.

Bleiben wir dabei: Für dich ist der Text nicht ganz rund und das liegt an mangelndem Fluchtverhalten, an Mäusen und Vögeln und Katzenfutter und daran, dass die alte Katze Zeit nur zur Katzenhälfte die Mörderin ist.

 Ingmar meinte dazu am 16.05.09:
"Bleiben wir dabei: Für dich ist der Text nicht ganz rund und das liegt an mangelndem Fluchtverhalten, an Mäusen und Vögeln und Katzenfutter und daran, dass die alte Katze Zeit nur zur Katzenhälfte die Mörderin ist."

wer katze sagt, sagt auch, weil das zur katze gehört: beute. tote mäuse, tote vögel. katzenfutter. fluchtverhalten. katzendreck. so funktioniert sprache, was kann ich denn dafür.

 Ingmar (16.05.09)
"Die alte Katze Zeit holt dich stets ein:
Milliardenmal zur Mörderin geworden
ist sie geübt, sie schleicht auf Samtakkorden,
leckt über Haut und Haar, frisst Jugend und
verdaut Vergänglichsein."

liebe sabine

meines erachtens ein unstimmiges gedicht, wenigstens inhaltlich. die zeit als katze ist ein bild, für das ich mich sofort interessiere, von daher, wie ich finde, ein gelungener einstieg, eine spannende idee bzw. prämisse. aber was du daraus machst, überzeugt mich weit weniger:
1. die alte katze zeit holt dich stets ein, dies evoziert die vorstellung eines fliehenden. in meiner jugend zumindest bin ich, glaub ich, noch nicht vor der zeit geflohen.
2. die katze als mörderin, da kommen maus und vogel als katzenopfer unweigerlich ins spiel. das anschleichender raub-katze beschreibst du folgerichtig und überzeugend: sie ist geübt, diese katze, sie schleicht auf samtakkorden. doch statt vom anspringen, von krallen, vom zupacken, schreibst du, sie lecke "über Haut und Haar". die jägerin, die die katze eben noch war, wird nun dargestellt als anschmiegsame hauskatze, als kuscheltier. maus und vogel sind vom text gleichsam, scheints, verschluckt.
3. katzen essen katzenfutter. katzen fressen vögel und mäuse. in deinem gedicht: die katze frisst jugend. heisst das, die jugend ist 'eine maus'?

liebe grüsse,
ingmar

 Isaban meinte dazu am 16.05.09:
Ja, lieber Ingmar, wenn ich diese Interpretation zugrunde legte, wäre für mich der Text vermutlich auch nicht so ganz stimmig.

1. die alte katze zeit holt dich stets ein, dies evoziert die vorstellung eines fliehenden. in meiner jugend zumindest bin ich, glaub ich, noch nicht vor der zeit geflohen.

Wer sagt, dass die Beute prinzipiell auf der Flucht ist? Dazu muss sie doch erst mal merken, dass sie gejagt wird, nicht wahr?

2. die katze als mörderin, da kommen maus und vogel als katzenopfer unweigerlich ins spiel. das anschleichender raub-katze beschreibst du folgerichtig und überzeugend: sie ist geübt, diese katze, sie schleicht auf samtakkorden. doch statt vom anspringen, von krallen, vom zupacken, schreibst du, sie lecke "über Haut und Haar". die jägerin, die die katze eben noch war, wird nun dargestellt als anschmiegsame hauskatze, als kuscheltier. maus und vogel sind vom text gleichsam, scheints, verschluckt.

Maus und Vogel kamen in dem Text überhaupt nicht vor, lieber Ingmar, nur in deiner Interpretation, erinnerst du dich.

Hast du schon mal gesehen, wie Katzen jagen und was sie mit der Beute machen, die sie nicht sofort hungrig vertilgen? Nun,am Ende ist die Beute tot, aber dazwischen sieht das Spiel oft beinahe zärtlich aus, bis die Krallen wieder zum Vorschein kommen, ein Spiel, das die Katze entweder spielt, bis sie des Spielens überdrüssig ist - oder bis die Beute zu sehr beschädigt ist, um zumindest noch kräftig zu zucken.

3. katzen essen katzenfutter. katzen fressen vögel und mäuse. in deinem gedicht: die katze frisst jugend. heisst das, die jugend ist 'eine maus'?

Stimmt, Katzen fressen Katzenfutter. Woraus dieses Futter besteht hängt allerdings von der Katze (Art, Größe, Lebensraum, Fressgewohnheiten u.s.w.) ab. Großkatzen z.B. können zwar auch Mäuse fressen und tun das ganz gewiss ab und an, das heißt allerdings nicht unbedingt, dass alles, was sie fressen Maus heißt - und ich denke, wenn die Zeit eine Katze wäre, wäre sie eine verdammt große Katze.

Liebe Grüße,

Sabine
(Antwort korrigiert am 16.05.2009)

 Ingmar meinte dazu am 16.05.09:
danke für deine antwort, sabine.
natürlich lege ich deinem text nicht diese interpretation zugrunde, sondern glaube, ich erkenne die intention durchaus. unstimmig ist von dir bitte auch und gerade in dem sinn zu lesen, dass es keine harmonie erreicht, dein gedicht, so wie ich es erlebe, es eckt und kantet, statt rund zu sein. das wollte ich mit meinem kommentar zeigen.

"Die alte Katze Zeit holt dich stets ein": ja, das kannst du schreiben, und hättest du geschrieben: die zeit holt dich stets ein, dann hätt ich das eine glückliche, eine gelungene, eine gute formulierung gefunden. du schreibst aber nicht, die zeit holt einen ein, sondern: die alte katze zeit holt einen ein. das ist etwas ganz anderes. und unschön gesagt, weil es nicht präzise ist, weil das bild schräg ist. ich stell mir eine katze vor, die etwas einholt. was könnte das sein, was die katze einholen möchte? du schreibst: "Wer sagt, dass die Beute prinzipiell auf der Flucht ist?" niemand. du schreibst: "Dazu muss sie doch erst mal merken, dass sie gejagt wird, nicht wahr?" richtig. aber dein vers, deine formulierung evoziert eben ein anderes bild. eine katze holt eine beute ein, wenn die beute auf der flucht ist, oder, wenn die beute nicht merkt, dass sie gejagt wird, ist die formulierung, dass sie von einer katze eingeholt werde, unglücklich.

eine weitere winzigkeit, die ich nicht genannt habe, die den eindruck eines nicht eben ausgereiften texts verstärkt, wäre übrigens: "Die alte Katze Zeit holt dich stets ein: Milliardenmal zur Mörderin geworden..."

auch hier: die zeit ist zur mörderin geworden, willst du sagen. ok. das kann ich akzeptieren, diese aussage. es ist nur so: du machst eine andere aussage. bei dir ist nicht die zeit, sondern die katze zeit zur mörderin geworden. eine katze kann allerdings nicht zur mörderin werden. katzen sind tiere. sie sind räuber, keine mörder. diese menschliche, moralische kategorie auf ein tier anzuwenden, ist - nicht falsch, nein. aber auch nicht eine denkerische glanzleistung.

ingmar

 Isaban meinte dazu am 16.05.09:
Hm. Und du meinst nicht, dass all das, was du da grade aufführst in deiner ganz, ganz eigenen Interpretation begründet ist?

 Ingmar meinte dazu am 16.05.09:
nein, sondern begründet vor allem in deinem text, auf den sich meine 'interpretation' bezieht.
(am rande, nochmals: ich habe versucht zu zeigen, wo dein text stolpert, meines erachtens. die angebliche interpretation, die ich vorgenommen haben soll, habe ich nur implizit vorgenommen. weil ich eine interpretation habe, konnte ich textkritik ausüben. mein kommentar ist weniger interpretation als textkritik. interpretation geht anders. ich zeigs dir kurz...

 Ingmar meinte dazu am 16.05.09:
"tempora

Die alte Katze Zeit holt dich stets ein:
Milliardenmal zur Mörderin geworden
ist sie geübt, sie schleicht auf Samtakkorden,
leckt über Haut und Haar, frisst Jugend und
verdaut Vergänglichsein."

interpretation dieses textchens, für sabine.

die zeit beschreibt die abfolge von ereignissen, hat also im gegensatz zu anderen physikalischen größen eine eindeutige richtung. diese richtung wird im text genannt, sie läuft richtung: du. die zeit ist in der menschlichen wahrnehmung wie in der physik als fortschreiten der gegenwart von der vergangenheit kommend zur zukunft hin beschreibbar. das 'du' wartet folglich in der zukunft darauf, von der zeit eingeholt zu werden. in der philosophie fragt man seit jeher nach dem wesen der zeit, was auch themen der weltanschauung berührt. indem die zeit als katze beschrieben wird, wie es das textchen der isaban tut, und die katze wiederum als wesen, das tötet, wird über die zeit ausgesagt, dass sie auch und gerade tod bedeutet. in den sprachwissenschaften bedeutet „Zeit“ die grammatische form der zeitwörter, das tempus. das tempus, das die autorin wählt, ist das präsens: die zeit findet für das aussagende subjekt stets im augenblick statt. wie eine katze ist die zeit, sagt das textchen und beschreibt den erhabenen prozess, in dem die katze ihr opfer (um)fängt, frisst und verdaut und jemand das betrachtet, was sich als steigerung einer mystischen gedankenfigur bis zur dreieinigung der widersprüche rezipieren lässt: die tat, das opfer und die beobachtende erkenntnis vereinigen sich auf einen punkt, der ewigkeit und momenthaftigkeit einschliesst. die ewigkeit ist tod. die zeit ist eine jägerin: sie "frisst Jugend und verdaut Vergänglichsein". nach der relativitätstheorie bildet die zeit mit dem raum eine vierdimensionale raumzeit, in der die zeit die rolle einer dimension einnimmt. dabei ist der begriff der gegenwart nur in einem einzigen punkt definierbar, während andere punkte der raumzeit, die weder in der vergangenheit noch der zukunft liegen als „raumartig getrennt“ von diesem punkt bezeichnet werden. es ist bezeichnend, wie das gedicht von isaban - unmerklich wie das tun der katze auf samtakkorden - diesen punkt anvisiert, aber weitet, dehnt, das töten der katze als langsamen prozess schildert, als fressen und verdauen, fressen der jugend, verdauen des vergänglichseins. kurz und knapp: die zeit kriegt jeden, wie eine katze eine maus, und hinterlässt am ende nichts als scheisse.

i.
Martok (44)
(17.05.09)
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Martok (44) meinte dazu am 17.05.09:
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 Isaban meinte dazu am 19.05.09:
Danke für dein Gefallen, Oli.

Zum Eddit: Hm?

Liebe Grüße,

Sabine
elvis1951 (59)
(19.05.09)
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 Isaban meinte dazu am 19.05.09:
Nicht, wenn sie lesen können, Klaus.

Liebe Grüße,

Sabine
Misanthrop (31) meinte dazu am 20.05.09:
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kyl (57) meinte dazu am 21.05.09:
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janna (66)
(13.02.15)
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 Isaban meinte dazu am 03.03.15:
Keine Ahnung, was da in mich gefahren ist.
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