Schwerkraftbeschleuniger

Kurzgeschichte zum Thema Psyche

von  RainerMScholz

Illustration zum Text
(von RainerMScholz)
Vollgepumpt mit Tranquilizern sitze ich hier an die weiße Raufaserwand gelehnt und sehe zu, wie die Zeit in Schlieren am regennassen Dezemberfenster hinabtropft. Nichts bewegt sich nirgendwo. Alles ist in grauen Nebel getaucht, unbeweglich und starr, erfroren und zerstäubt. Das Öffnen und Schließen der Augenlider kostet schier unüberwindliche Anstrengung. Quälend langsam gelingt es meiner Hand, sich zu dem Aschenbecher zu bewegen, damit sich Mittel- und Zeigefinger spinnerig um die halbgerauchte Zigarette schließen können, die ich vor einer unbestimmten Zeit entzündet haben muss.
Das Zimmer riecht nach Urin und Erbrochenem. Der Weg zum Abort in meiner ruinenhaft erscheinenden Behausung ist durch umgeworfene Möbelstücke versperrt. In der klebrigen, zähen, unbeweglichen Masse meines Körpers sitze ich gebeugt am Tisch nun, der überquillt von Flaschen und Scherben, verbeulten Dosen und zerknüllten leeren Zigarettenpackungen. Über allem liegt eine tote Staubschicht und kalte verstreute Asche. Herausgerissene Bücherseiten, zerknitterte und verblichene leere Papierseiten und möglicherweise Rattenkot bedecken den Boden. Eine obskure Müllhalde, auf der ich mich nicht mehr zurechtfinde.
Seit Tagen muss ich mich inmitten alldessen schon befinden. Ich weiß es nicht mehr. Ein konkretes Zeitbewusstsein ist mir abhanden gekommen. Vielleicht seit Wochen. In den blinden Spiegelscherben zwischen den zerschnittenen Polstern des explodierten Sofas vermag ich mich nicht länger zu erkennen. Das wird mir in den lichteren Momenten klar. Dass ich mich frage, wie ich eigentlich aussehe. Oder wer ich bin. Jetzt. Nach dieser ganzen Zeit. Hier drin. Ich. Was das bedeuten könnte. Und die Zeit. Wie lange läuft schon die immergleiche Musik immer und immer wieder, dieses dumpfe Dröhnen, die grelle Stimme, das Stakkato der Trommeln. In endloser Schleife. Vielleicht höre ich das nur in meinem Kopf.
Tag und Nacht wechseln einander ab, ohne dass etwas geschieht. Die monotone Lethargie eines grauen Ineinanderübergehens hat alle Außenreize aufgesogen. Belange, Umstände und Begebenheiten irgendeiner Art spielen keine Rolle mehr. Es ist eine Art von phlegmatischer Gefangenschaft in einem dimensionsübergreifenden imaginären Spinnennetz ohne Spinne. Das Opfer, das längst aufgehört hat, fliehen, geschweige denn fliegen zu wollen, ist durch seine spasmodischen und irrwitzigen Bewegungen, die wie das ungelenke Tanzen einer Gliederpuppe wirken, nur noch fester, bis zur völligen und unkenntlichen Bewegungslosigkeit, in das Netz verwoben.
Wie von weit her klingt ein Schellen in mein zerrissenes Bewusstsein, in den Nebel aus weißem Rauschen. Auf eine seltsam unbewusste Weise identifiziert etwas im Innern meines Kopfes dieses Klingeln und Läuten als möglicherweise von einem Telefon stammend, das gegen die wattierten unbezwingbaren Wände einer eingebildeten Gummizelle anschrillt, mich weckt aus Nichts und Schwarz, aus den Abgründen, Schluchten und Spalten einer unerbittlichen Dämmerwelt, ein akustisches Fenster aufreißt in einem stummen Vakuum. Das Schrieken des Eises tief unter dem Gletscher, der erstarrte, bevor etwas oder jemand zu leben sich anschickte in diesen verlorenen stillen Äonen.
Ich reiße das Kabel aus der Wand.
Nun hüllt mich Dezemberregen ein. Und meine Augen sind so grau und leer wie sibirische Straßen in einer Gulagnacht.
Über der Zigarettenglut zwischen Mittel- und Zeigefinger glüht regenbogenfarben das mähliche Sterben der Welt.


© Rainer M. Scholz

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Kommentare zu diesem Text

Elvarryn (36)
(22.05.09)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 RainerMScholz meinte dazu am 22.05.09:
Das war aber eine ziemliche schnelle Empfehlung. Danke schön.
Wenn ich wieder depressiver bin, gibt es mehr davon.
Grüße,
R.
Elvarryn (36) antwortete darauf am 22.05.09:
Diese Antwort ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 Mutter (22.05.09)
Sehr cool gemacht ...
Gefällt mir gut.

 RainerMScholz schrieb daraufhin am 22.05.09:
Danke, Mutter.
Grüße,
R.
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