Es war einmal ein Mann, der am Wegesrand ein wunderschönes Apfelbäumchen sah. Es blühte so üppig, und die Bienen summten darin so eifrig, dass er gebannt stehen blieb, lauschte und sich an dem erfrischenden Anblick erfreute. Das Bäumchen war so lieblich anzuschauen, dass es dem Mann ganz warm ums Herz wurde. Er dankte dem Himmel, der ihm die Augen für dieses Wunder geöffnet hatte, und ging dann still seines Weges.
Doch zu Hause überkam ihn ein solches Verlangen, einen Zweig von diesem Bäumchen sein eigen nennen zu können, dass er sofort wieder aufbrach, um das Bäumchen zu suchen. Er fand es auch ohne Umschweife, denn es war in der kurzen Zeit noch schöner geworden und leuchtete ihm in hellem Weißrosa schon von Ferne entgegen.
Voll Freude brach er einen blühenden Zweig ab und trug ihn stolz nach Hause.
Dort stellte er ihn in eine goldumrandete Porzellanvase, die kostbarste, die er hatte, und setzte sich an den Tisch, um den Zweig in Ruhe zu betrachten.
Kaum waren einige Minuten verstrichen, keimte erneut die Sehnsucht nach dem Apfelbäumchen auf, und er wünschte sich, dass ein weiterer Zweig sein Zimmer schmückte.
Er eilte zu dem Bäumchen, das inzwischen noch begehrenswerter aussah, brach einen Zweig und sogleich einen zweiten, weil er sich kaum satt sehen konnte an der Blütenpracht. Ein wenig zaghaft streichelte er die raue Rinde des Stammes, fühlte dessen Wärme und fand Zutrauen zu dem Baum.
Zu Hause kam ihm sein Schatz so edel vor, dass er dachte, Wasser sei für die Zweige nicht gut genug, er müsse es gegen Wein tauschen. Also holte er aus dem Keller einen edlen Tropfen und füllte ihn anstelle des Wassers in die Vase. Einen Schluck schenkte er sich selbst in ein Glas ein und trank sich zum Gelingen dieser Verschönerung seines Lebens selber zu. Zudem fand er, dass er den Tisch mit kostbaren Steinen schmücken könne, um die Anmut der Apfelblüten noch zu unterstreichen. Er suchte die schönsten aus und gruppierte sie um die Vase herum. In seinem Herzen jubelte es, aber er war dennoch voller Unruhe. Was, wenn das Apfelbäumchen seine Schönheit verlor, während er hier in solch beschaulicher Andacht saß? Er konnte diesen Gedanken kaum ertragen, und so trieben ihn Sehnsucht und Liebe immer wieder zu dem Baum. Zweig um Zweig holte er zu sich, berührte den Stamm und die Äste, und war so angetan davon, dass er sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen konnte.
Erst im Morgengrauen fiel er in einen tiefen Schlaf. Er träumte von seinem Baum, dem reifen Blättergrün des Sommers, den Äpfeln, die er im Herbst an den Ästen finden werde, von der Winterruhe des Baumes und freute sich im Traum schon auf den nächsten Frühling. Alle Jahreszeiten erlebte er träumend mit dem Baum und jede erfreute ihn.
Am nächsten Morgen erwachte er und stellte mit Erstaunen fest, dass sich alles um ihn herum verändert hatte. Es nebelte vor seinem Fenster, die Frühlingsblumen waren verblüht, die Blätter hatten sich verfärbt und an den Ästen reiften die ersten Früchte. Ein Schrecken durchfuhr seine Glieder, als er die Zweige seines Apfelbäumchens sah. Traurig steckten die kahlen Äste in der Vase, der Wein war verdunstet, die Blüten und Knospen abgefallen und vertrocknet, nur die Steine umsäumten den traurigen Anblick. Es war Herbst geworden. Verwundert fragte er sich, wie es dazu kam, dass er den Sommer verschlafen habe, ohne nach dem Apfelbäumchen gesehen zu haben. Er besann sich aber nicht lange, sondern machte sich eilig auf den Weg.
Kaum beachtete er unterwegs die herbstliche Pracht der Bäume, die ihm ihre Äste mit den bunten Blättern und ihren Früchten entgegenstreckten. Er hatte keine Zeit dafür, sondern zwang sich zur Eile. Je näher er seinem Ziel kam, desto unruhiger wurde er.
Schließlich erreichte er den Wegesrand. Doch statt eines stattlichen Baumes erblickte er nur einen dürren Stamm, der weder Blätter noch Früchte trug. Er lag umgestürzt am Wegesrand. Als der Mann mit nassen Augen ihn berührte, glitten seine Hände an einigen Stellen über kleine Zweige, die unter seinen Händen abbrachen. Der Baum hatte wohl versucht, neue Äste zu bilden, aber sie waren vertrocknet, weil ihnen das Wasser fehlte. Er kniete sich hin, umschlang den Stamm so weit er nur konnte und trauerte um sein Apfelbäumchen.
Eine geraume Zeit verharrte er so, bis er bemerkte, wie seine Finger klamm und sein Körper fast steif vor Kälte geworden waren. Tänzelnde Schneeflocken berührten sein Gesicht und flossen gemeinsam mit seinen Tränen die Wangen hinunter. Es war Winter geworden und er erhob sich, da er so nicht weiter liegen bleiben konnte. Gerade wollte er Abschied nehmen, als ihm ein Gedanke kam. Wenn nun das Apfelbäumchen schon so entwurzelt da lag, konnte er es ja ohne weiteres mit nach Hause nehmen. Dieser Gedanke gefiel ihm so sehr, dass er seine Kräfte zusammen nahm, das Bäumchen schulterte und mit großen schweren Schritten nach Hause ging.
Er legte das Stämmchen vorsichtig vor der Türe ab und ging in die Stube. Dort war es bitter kalt und dunkel. Erschöpft wickelte er sich in seine Decken, legte sich nieder und versuchte zu schlafen. Es gelang ihm jedoch nicht, denn der Mond schien durch sein Fenster, beleuchtete den Raum und streifte auch die Vase mit den dürren Zweigen. Und wie das Mondlicht so freundlich die Zweige umspielte, kam es dem Mann so vor, als ob sie ihm auffordernd zunickten. Er stand auf, nahm sie in seine Hände, und es überkam ihn auf einmal eine wundersame Wärme. Eine ganze Weile stand er einfach nur da und genoss dieses Gefühl.
Währendessen war der Mond weiter gewandert und beleuchtete den kalten Ofen so einladend, dass es dem Mann ganz natürlich erschien, die Zweige in den Ofen zu schichten und sie anzuzünden. Hell wurde es in der Stube und nach und nach auch etwas warm. Voller Freude bereitete der Mann sich über dem Feuer einen Tee, aß mit Genuss ein Brot und einen Käse dazu und gewann langsam seine Kräfte und seinen Mut zurück. Die Zweige knisterten im Feuer. Ihre Wärme tat ihm wohl. Gesättigt schlummerte der Mann tief und fest ein.
Als er erwachte, war es schon taghell. Der Schnee hatte über Nacht die Wiesen und Felder mit einem sanften Tuch bedeckt. Noch glühten die Reste der Zweige im seinem Ofen. Er betrachtete sie wehmütig. Dann erhob er sich, ging hinaus und ließ sich auf dem Stämmchen nieder. Ganz nah war ihm das Bäumchen und doch so fern. Nie wieder würde es blühen, nie wieder ihn mit seiner Helligkeit erfreuen. Er wusste, dass er in seinem Übermut alles zerstört hatte. Traurig schaute er in die Ferne und wünschte sich den Tod. Lange saß er so da. Seine Gedanken machten ihn so schwer, dass er nicht aufzustehen vermochte. Es kam die Zeit, da der Schnee schmolz. Er merkte es nicht.
Eine braun gescheckte Katze hatte sich angeschlichen und legte sich zusammengerollt neben ihn auf den Baumstamm. Ihre Wärme erweckte ihn aus seinem Dämmerzustand und er betrachtete sie versonnen. Eine Weile duldete er das Tier neben sich. Doch dann wurde sie ihm lästig. Er jagte sie mit einer unwirschen Handbewegung hinweg.
Schmetterlinge verweilten kurz auf dem Stämmchen und flatterten weiter, Wespen versuchten sich an dem Holz, eine Schar Ameisen hatte ihren Weg hierher gefunden, Pilze setzten ihre braunen, hellgrauen oder gelben Schirmchen auf. Den Mann jedoch berührte alles Leben um ihn herum nicht. Das Stämmchen wurde nach und nach dunkler und zeigte viele Furchen. Er bemerkte es mit Abscheu und vermied den Blick. Starr war er geworden. Schon lange vermochte er seinen Arm nicht mehr zu heben. Sein Rücken wurde von Tag zu Tag müder. Sein Gesicht wurde fahl, seine Haare standen wirr vom Kopf. Unbeweglich saß er da, wie aus Stein gehauen. Und eines Tages, als das morsche Stämmchen endgültig zerfiel, sah man auch ihn da liegen, von Moos überwuchert und von Brombeerranken entstellt