Augendealer

Kurzgeschichte zum Thema Existenz

von  RainerMScholz

Ich wusste nicht, wo ich war. Ich hatte mich verfahren. Irgendwo in dieser miesen Kleinstadt hatte ich die falsche Abzweigung genommen und befand mich nun in einer Gegend, die ich nie zuvor gesehen hatte, die zudem keinen besonders einladenden Eindruck machte. Die Räder ratterten über plumpes Kopfsteinpflaster, Müllberge quollen am Straßenrand und die Häuserwände zogen sich immer schwärzer und dreckiger die Straße entlang, zerfressen von geborstenen Fensterscheiben, gestützt scheinbar von angenagelten Holzlatten, Teer und Mörtel. Backsteinfassaden leerer Fabrikgebäude am Ende dieser öden leeren Stadt, in der ich die Niederlassung einer obskuren Firma zu suchen hatte, die gebrauchte Zahnprothesen nach Indochina recycelt, um sie dann für teures Geld zu reimportieren. Warum mein Boss ausgerechnet mir diesen Auftrag übertragen hatte, blieb mir schleierhaft. Er hatte wohl ebenfalls ein paar Dinge gratis und von der Steuer absetzbar in die ärmeren Regionen der Welt abzugeben. Eigentlich müsste vielmehr er selbst entsorgt werden, dachte ich, als die Straße aufhörte. Es ging nicht weiter. Ich stand vor einer Wand, die das Ende des Weges besiegelte, in einer Sackgasse. Schilder oder Hausnummern – ebenfalls Fehlanzeige.
Ich werde hier nie wieder wegkommen, dachte ich, ich werde einfach ein Zelt aufschlagen und den Rest meines Lebens damit zubringen, weggeworfene Konserven auszukochen, Ratten zu fangen und zu grillen und glücklich im Zölibat leben, um irgendeinem toten Propheten nachzueifern.
Ich stieg aus und trat in eine Ölpfütze.
Das Straßenpflaster schimmerte im Regenbogen. Alles schwamm im blauschwarzen Ölbad, leere Bierdosen und Damenschlüpfer, Zeitungsfetzen, Börsenberichte, Tampons, Präservative, Gummibärchen, Skalps, Fußnägel, Verlobungsringe, Filterkippen, Bonbonpapier, Luftfilterkappen, Fahrradketten, Sonnenbrillen, Fensterrahmen, Klositze, Schweinefüße ohne Schweine dran, Biberfellmützen, Polizeikellen, Klistiere und alles, was man so mit sich herumschleppte im normalen Leben oder sich in Damenhandtaschen fand.
Irgendwie gelangte ich durch diesen Mülldschungel an den Bordstein, ohne dass etwas aus diesem unerfindlichen Loch heraus nach mir schnappte. Ich spähte in die Richtung, aus der ich ursprünglich gekommen war, doch das andere Ende der Straße war durch die hereinbrechende Dämmerung schon nicht mehr richtig zu erkennen, zumal ich ohnehin ziemlich kurzsichtig bin, was das anbelangt. Straßenlaternen gab es auch nicht. Jedenfalls keine, die brannten.
Die grob zusammengehauene Backsteinmauer wies an der rechten Seite einen schmalen Durchgang in Form eines zackigen Risses auf, durch den ich kurzerhand schlüpfte, um zu sehen, was dahinter los war. Vielleicht war es auf der anderen Seite besser.
Nichts zu machen. Hier führte ein gewundener Pfad in ein zerzaustes Waldstück, das ebenfalls keinen einladenden Eindruck vermittelte. Doch da ich keine andere Wahl zu haben schien, machte ich mich auf den Weg zur nächsten bewohnten Siedlung, zur nächsten Tankstelle, einem Informationsstand, einem Eisstand oder was auch immer, nur menschlich sollte es in irgendeiner Form anmuten und es sollte sprechen können.
Es war nur ein kurzes Waldstück, unheimlich auf eine Weise, totenstill war es, keine Vögel, nichts Lebendiges. Ich machte, dass ich da 'raus kam.
Eine Anhöhe in naher Ferne versprach einen Überblick über meine Position. Ich fragte mich, ob dies noch zu der verwünschten Kleinstadt gehörte, oder ob ich bereits den Planeten gewechselt hatte. Eine Art düsterer Müllplanet.
Endlich auf dem Hügel angelangt, denn mehr war es dann doch nicht, blickte ich zurück auf die Stadt. Flackernde Neonlichter, Straßenzüge, keine Menschen. Wo waren die nur alle. Der Pfad, den ich durch den verwilderten Wald genommen hatte, schlängelte sich weiter in die Ebene hinein, die sich zu meinen Füßen in einer schilfbewachsenen grünen Heide verlor. Nichts als Sträucher, Gras und Moos.
Und ein Mann, der alleine dort unten seines Weges ging. Ich beeilte mich zu ihm zu gelangen, schien er doch weit und breit die einzige Hoffnung auf einen Ausweg zu sein.
Er hatte mich anscheinend schon bemerkt, als ich auf ihn zutrat, um mich nach dem Weg zu erkundigen, nach irgendeinem Weg. Nein, er kenne die Firma nicht, die ich suchte. Ja, er sei aus der Gegend hier. Ich könne ihn begleiten, wenn ich wollte. Ich wollte. Er sei auf dem Weg zu einigen Kunden, wie er sich ausdrückte.
„Ach, sie sind auch Vertreter?“, fragte ich ihn, um eine Konversation in Gang zu bringen.
„Man könnte es wohl so nennen.“
„Was verkaufen sie, wenn ich das fragen darf?“
„Augen.“
„Augen?“
„Augen - zum Sehen.“
Ich hatte mich wohl verhört und versuchte scherzhaft überzuleiten.
„Na klar, in dem Geschäft war ich auch 'mal. Ist da noch etwas rauszuholen?“
„Sozusagen. Ich lebe. Wollen sie sehen?“
Er griff in seine Manteltasche und brachte eine Handvoll Augen zum Vorschein, die aussahen wie Glasaugen, nur das sie mit Sehnen und winzigen Adern und Muskeln versehen waren, die blutig zwischen seinen Fingern hindurch glitten. Ein schwarzer Blutfaden zog sich klebrig von seinem schwarzen Handschuh zu Boden. Ich hielt das irgendwie immer noch für einen Scherz, einen schlechten, recht geschmacklosen zwar, aber immerhin. Eines der Augen schien mich anzustarren.
„Tolle Imitation. Wie halten sie die Dinger frisch?“
Die Augen sahen mich leblos an.
„Ich kühle sie. Sie sind noch taufrisch. Eisgekühlt. Wollen sie ein Paar ausprobieren?“
Er grinste auffordernd unter seinem breitkrempigen Hut hervor. Allmählich kam mir die Sache grotesk vor. Aber ich wollte ihm nicht den Spaß verderben.
„Klar. Wieso nicht.“
Das ganze Leben muss ein Missverständnis sein. Er zückte einen ordinären Teelöffel und schälte, kaum das ich mich versah, meine Augäpfel aus ihren Höhlen. Die Sehnen und Muskeln zerrissen. Blut strömte schwarz aus meinem Kopf. Doch blitzschnell, bevor ich mich überhaupt zur Wehr setzen konnte, hatte er das neue Paar Augen schon eingesetzt.
„Wie fühlen sie sich?“, fragte der Mann mit dem mysteriösen Erscheinen und seinem verfluchten Mantel.
„Kalt. Sehr kalt. Alles ist so hell und irgendwie verzerrt.“
„Das liegt daran, dass sie direkt aus dem Eis kommen. Das vergeht. Auch die Zerrung vergeht, wenn sie sich erst daran gewöhnt haben.“
Alles war irgendwie heller. Bläulich hell. Kalt. Gepresst wie unter einem gewaltigen Druck.
„O.K., was macht das?“, stammelte ich.
„Gratis. Ein Werbegeschenk. Nur für sie.“
„Vielen Dank. War nett, Geschäfte mit ihnen zu machen.“
Ich sah, wie er meine Augen in seiner Tasche verschwinden ließ. Meine alten Augen. Die, die er mir aus dem Kopf geschält hatte.
„Auf Wiedersehen.“
„Ja, leben sie wohl.“
Ich drehte mich um und verschwand in der Eiswüste jenseits der Stadt.

© Rainer M. Scholz

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Kommentare zu diesem Text

kontext (32)
(08.07.09)
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 RainerMScholz meinte dazu am 09.07.09:
Ist immer ein bisschen Glückssache mit den Stichpunkten, unter denen etwas laufen soll. Hier eben Existenz. Deine Vorschläge schaue ich mir an. Danke für den wohlwollenden Kommentar.
Ich dachte eher an Hoffmann als an King.
Grüße,
R.
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