Köln Hauptbahnhof, Punkt Mitternacht

Alltagsgedicht zum Thema Außenseiter

von  Isaban

Da steht noch der Mann
mit den hungrigen Augen.
Er hat gelbe Flecken
an Fingern und Lippen
und ist, wie die Tauben,
sehr leicht zu erschrecken.
Die Hand wühlt im Abfall
nach trockenen Kippen,

nach Resten von Bratwurst,
nach Pommes und Pfand.
Seine Beute verbeult ihm
schon vier Plastiktaschen.
Pro Abend versucht er,
zehn Euro zu schaffen.
Heut fehlen noch drei für die
zwei Weinbrandflaschen.

Die braucht er zum Schlafen;
dann wird’s in ihm still,
dann schweigt alles das,
was er nicht hören will,
dann ist wohl auch endlich
sein Tagwerk vollbracht.
Er steht ganz allein dort
in Köln, Bahnsteig 8.

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Kommentare zu diesem Text

managarm (57)
(14.07.09)
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 Isaban meinte dazu am 14.07.09:
Vielen Dank, Frank, für deine Rückmeldung.
Dein Lob freut kmch sehr.

Liebe Grüße,

Sabine
Gedankenstaub (35) antwortete darauf am 29.12.10:
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Max (43)
(14.07.09)
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 Isaban schrieb daraufhin am 14.07.09:
Danke, Max.

Liebe Grüße,

Sabine

 ManMan (14.07.09)
Ein gutes Gedicht, erschreckend durch seine Sachlichkeit und berührend durch seine Empathie. Es ist dir gelungen,dich zu diesem Mann hin zu begeben, ohne dich ihm hinzugeben. Dadurch wirkt es ungemein poetisch.
LG Manfred

 Isaban äußerte darauf am 14.07.09:
Ein Vorbeifahren im ICE, nur ein Streifen mit Blicken.
Hab vielen Dank, Manfred, für das "Hinfühlen" und deine Rückmeldung.

Liebe Grüße,

Sabine
Albertina (56)
(14.07.09)
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 Isaban ergänzte dazu am 14.07.09:
Hallo Albertina,
vielen Dank für deine Rückmeldung. Es freut mich sehr, dass mein Text dich berühren konnte.

Liebe Grüße,

Isaban
Caty (71)
(14.07.09)
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orsoy (56) meinte dazu am 14.07.09:
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 Isaban meinte dazu am 14.07.09:
Hallo Caty,

vielen Dank für den Hinweis auf den Rechtschreibfehler, wurde natürlich sofort behoben.
Zu den Hintergründen: Die gehen doch keinen was an. Sie würden aus dem Protagonisten nur ein Einzelschicksal machen. Wir alle sind "Einzelschicksale". Aber darum geht es bei diesem Text nicht. Da muss auch niemand angeklagt werden. Es geht nicht um Schuldfragen.

Liebe Grüße,

Sabine

@ Konni:

Hi, du Liebe!
Schön, dich mal wieder zu lesen.

Herzliche Grüße,

Sabine
(Antwort korrigiert am 14.07.2009)

 sundown (14.07.09)
Eine Ankunft weit nach Mitternacht...man hastet eilig zur Rolltreppe und wirft noch einen letzten Blick zurück..auf den vermeintlich leeren Bahnsteig....gerade die Wiederholung von der ersten Zeile ( da steht noch ein Mann ) in der letzten ( er steht ganz allein dort ) gefällt mir hier sehr gut. Das Bild wird dadurch eingebunden und noch intensiver. Anfangssequenz, dazwischen die Geschichte seines Tages..Endsequenz. Sehr gut beobachtet. Auch der Lesefluss ist hier sehr stimmig.
Lg sundown

 Isaban meinte dazu am 14.07.09:
Hallo sundown,

es freut mich sehr, dass mein Text diese Bilder in dir hervorrufen konnte - und beinahe noch mehr, dass dieses dort angewendete stilistische Mittel erkannt wurde und so zu wirken scheint, wie ich es mir vorgestellt habe. Hab vielen Dank für deine Rückmeldung und das Vertiefen in meine Verse.

Liebe Grüße,

Sabine

 Jorge (14.07.09)
Hallo Isaban, ich finde die Abhängigkeiten gut dargestellt,zuerst die vom Nikotin, dann die vom Alkohol und letztlich die von der Gesellschaft. Revolutionäre Denkansätze, wie z.T. von Caty eingefordert ( um zu den gesellschaftlichen Hintergründen zu gelangen) würden den Rahmen dieser sehr guten Ad-hoc-Studie sicher sprengen. Ich schwanke in solchen Momenten zwischen
HINGUCKEN - WEGGUCKEN - HELFEN und IGNORIEREN.
Übrigens in Z. 2 hat der Mann hungrige Augen, sein Tagesziel sind aber zwei Weinbrandflaschen - da wären doch mal durstige Augen auch keine schlechte Metapher.

 Isaban meinte dazu am 14.07.09:
Hallo Jorge,

ich glaube, wir schwanken alle zwischen diesem peinlich berührten Wegsehen und dem Bedürfnis, zu helfen und wieder "Ordnung" herzustellen. Wahrscheinlich ist beides nicht 100%ig richtig oder falsch. Wirklich helfen kann man nur jemandem, der wirklich Hilfe braucht, will und sucht, wobei auch die beiden letzten Aspekte nicht zu missachten sind.
Zu deinem Vorschlag

Übrigens in Z. 2 hat der Mann hungrige Augen, sein Tagesziel sind aber zwei Weinbrandflaschen - da wären doch mal durstige Augen auch keine schlechte Metapher.

Nein, ich glaube nicht, das würde die Wirkung nehmen, es wäre dann nämlich keine Metapher mehr, sondern eine Einschränkung, ein Vorwegnehmen und von Anfang an gezielt auf den Alkoholbedarf hinweisen. Der Protagonist sucht zwar auch nach Nahrung, bzw. nach Essensresten, "hungrige Augen" kann man allerdings auf mehr als eine Weise auslegen, z.B. als suchend und sehnend, als Not leidend, eventuell sogar als wild/verwildert/ungezähmt - während "durstige Augen" im Kontext mit dem Alkohol doch eher vorverurteilend wirken und den Taubenvergleich verschwimmen lassen.

Hab dennoch vielen Dank für deine Rückmeldung, die intensive Beschäftigung mit dem Text, das Hinterfragen und das Hineinspüren.

Liebe Grüße,

Sabine

 Didi.Costaire (14.07.09)
Liebe Sabine,

das Elend und die Traurigkeit hast du gut dargestellt mit lapidaren Worten und einer Melodie, die passend zur Verfassung des dargestellten Mannes etwas leierig wirkt.

Bei der Wiederholung des Wortes "noch" (V1 und V15), der englischen Aussprache von Burgern und der Rhythmusunterbrechung in V 11 (Seine Beute XxXx) bin ich leicht irritiert.

Liebe Grüße aus dem beschaulichen Ort mit den sieben Bahnsteigen.
Dirk

 Isaban meinte dazu am 14.07.09:
Ein Daktylos mit unbetontem Auftakt im ersten Vers (ähnlich einem Amphibrachys), lieber Dirk und ansonsten konsequent (und daher leiernd) durchgezogen, passend zum Inhalt und ungeachtet neuer Versanfänge.

erkalteten Burgers, nach
xXxx Xx x
Pommes und Pfand.
Xx x X
Seine Beute verbeult ihm
xx Xx xX x
schon vier Plastiktaschen.
x X xxXx


Zu den Burgers: Wie würdest du den Plural bilden?

Zu der Wortwiederholung des "noch": Das zweite ist die Erklärung für das erste - ich hoffte, das sei zu erkennen. Schitte aber auch, war wohl zu weit gedacht.


Hab vielen Dank für deine Auseinandersetzung mit Text und Form und für das Hinterfragen der angesprochenen Stilmittel, lieber Dirk.

Liebe Grüße,

Sabine
(Antwort korrigiert am 14.07.2009)

 Didi.Costaire meinte dazu am 14.07.09:
Die Wiederholung des Wortes "noch" auch vom Inhaltlichen habe ich erkannt - somit passt es. Die erste Silbe von "Seine" nach einem Punkt und am Anfang eines neuen Verses fällt mir schwerer. "Burgern" fände ich gängiger als "Burgers" - oder halt "kalte Buletten", falls die nach Köln passen sollten, bzw. ein anderes Fast-Food-Produkt.

 Isaban meinte dazu am 14.07.09:
Hm, Burger sind ein Kapitel für sich. Eigentlich als Hamburger ausgedeutscht, über Amerika wieder eingeschleust und inzwischen halbgar zurückverdeutscht.
Wenn man es englisch ausspricht, dann ist das Plural-S am Ende korrekt. Wenn man es deutsch ausspricht, fragen sich alle, was das sein soll, dann würde allerdings ein N ans Ende gehören, wie bei den Leuten aus Hamburg. Hmpft. Und völlig daneben wäre es, wenn man das Zeug als " Börger", im Plural "Börgern" verdeutschlicht. Nee, heute gibt's Bratwurst.

Danke, Dirk.

Lieb grüßt

Sabine

 Bohemien (14.07.09)
ich habe das gefühl immer mehr menschen im müll wühlen zu sehen...erschrocken war ich als in der nähe vom hamburger hbf ein junger mann in einem abfalleimer griff und eine weggeworfene milch im tetrapak herausholte..daraus trank...allerdings gibt es auch menschen die das flaschensammeln als hobby betreibeb...25centx10=ein pack kaffee von lidl mit auszeichnung stiftung warentest gut und ökotest sehr gut...bei ald nur ökotest..grins...ein tolles gedicht, daß es rüber-und nahebringt das leben außerhalb unserer "tollen und feinen" gesellschaft...lieben gruß bo

 Isaban meinte dazu am 14.07.09:
Vielen Dank, Bo.
Es freut mich sehr, dass der Text seine Bilder so gut rüberbringen konnte.
Liebe Grüße,

Sabine
janna (60)
(14.07.09)
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 Isaban meinte dazu am 14.07.09:
Danke Janna.
Deine Rückmeldung ist mir ein besonderes Lob.

Liebe Grüße,

Sabine

 Omnahmashivaya (17.07.09)
Hallo Isaban,

jetzt sind die passenden Worte schon gleich wieder weg, die ich dir schreiben wollte. Sie fehlen mir einfach.

Das ist wirklich ein sehr trauriges, berührendes Gedicht. Alltagsgedicht trifft es auf den Punkt. Das sehe ich hier in Düsseldorf auch jeden Tag.

Darüber hinaus gefällt mir der Schreibstil. Es liest sich sehr flüssig.

Es ist traurig, was draußen so passiert. Ich habe eine Zeit lang mal Kontakt zu einer Obdachlosen gehabt. Sie ist aber dann in die Rhea gekommen. Eine andere junge Frau ohne Obdach aus dem Stadtteil ist gestorben. Es gibt zwar einige Anlaufpunkte für die Nacht + Versorgung und Beratungsstellen, aber diese helfen nur oberflächlich. Die Seele jedoch schreit weiter.

Das hast du gut rübergebracht in dem Gedicht. Besonders in der letzten Zeile.

Was das "Tagwerk" betrifft. Sammeln und Schnorren ist sicherlich auch sehr mühselig. Ein Obdachloserhat es immer "arbeiten" genannt. Mir fällt gerade auf, dass ich ihn auch lange nicht mehr gesehen habe.

Manchmal sieht man Menschen gar nicht mehr im Alltag, weil es so alltäglich ist oder weil sie wahrscheinlich für alle so unbedeutend und unbekannt sind, dass man erst einmal gar nicht bemerkt, dass sie fehlen.

LG Sabine

 Isaban meinte dazu am 02.08.09:
Hab vielen Dank für deine Rückmeldung und natürlich dafür, dass du dich so auf den Text einlassen mochtest, liebe Sabine.

Herzliche Grüße
und hoffentlich bis bald mal,

Sabine

 Bergmann (17.07.09)
Der letzte Vers ist der Achllesvers dieses Gedichts... an der reimlich erzwungenen Bahnsteignummer scheitert die Form-Inhalt-Beziehung.
Herzlichst: Uli

 Isaban meinte dazu am 17.07.09:
Köln Hauptbahnhof, Gleis 8 war der Ausgangspunkt, lieber Uli.

Eine Alternative wäre eventuell noch:

Köln Hauptbahnhof, Gleis 8

mit den hungrigen Augen.
Er hat gelbe Flecken
an Fingern und Lippen
und ist, wie die Tauben,
sehr leicht zu erschrecken.
Die Hand wühlt im Abfall
nach trockenen Kippen,

nach Resten von Bratwurst,
nach Pommes und Pfand.
Seine Beute verbeult ihm
schon vier Plastiktaschen.
Pro Abend versucht er,
zehn Euro zu schaffen.
Heut fehlen noch drei für die
zwei Weinbrandflaschen.

Die braucht er zum Schlafen;
dann wird’s in ihm still,
dann schweigt alles das,
was er nicht hören will,
dann ist wohl auch endlich
sein Tagwerk vollbracht.
Er steht ganz allein dort,
nach Mitternacht.

Herzliche Grüße in dein (hoffentlich schönes) Sommerwochenende,

Sabine
asche.und.zimt (24)
(31.07.09)
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 Isaban meinte dazu am 02.08.09:
Lieber Weltenwandler,

bei dem Text handelt es sich um einen - ungeachtet der Versansätze und Strophengrenzen - konsequent bis zum Schluss durchgezogenen Daktylos mit unbetontem Auftakt im ersten Vers, von mir angewendet, um einerseits eine möglichst ruhige, melancholische, absichtlich etwas leiernde Melodie hervorzurufen und andererseits auch durch die äußere Form (auch durch das unregelmäßige Versmaß) die inhaltliche Ausweglosigkeit zu bebildern - vielleicht ungewohnt, bzw als Stilmittel gewöhnungsbedürftig, aber deshalb metrisch dennoch nicht unkorrekt. Man passt sich beim Lesen (und das scheint auch, wenn man liest, ohne das Metrum zu hinterfragen ganz gut zu funktionieren) erstaunlich leicht an die zuerst kaum wahrnehmbare und dennoch beherrschende Melodie an, hat sie, wenn man nicht gezielt auf metrische Tücken achtet sofort und ungeachtet der Vers- und Strophenschaltung im Kopf und wird vom Sog (zumindest war es so angedacht) erfasst, wie das lyrische Ich.

Ich danke dir für deine Auseinandersetzung mit dem Text, den ausführlichen Kommentar, für das Lob und natürlich auch für dein Hinterfragen.

Liebe Grüße,

Sabine
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