Nacht, Vater

Kurzgeschichte zum Thema Vater/ Väter

von  RainerMScholz

Er starrt mich an. Seine glasigen Augen blicken durch mich hindurch an einen toten Fleck an der Wand hinter mir. Sein Gesicht wimmelt von Maden, Leichenwürmern; er ist bereits eine ganze Weile tot; irgendwie scheint er auf diese Weise doch noch zu leben. Blanke weiße Knochen schimmern durch das tote Fleisch an Kinn, Wangen und Stirn. Seine Nase ist weg. Ein schwarzes Loch, das in seinen Schädel führt. Nur diese verschleierten blinden Augen starren weiter aus seiner Totenfratze.
Ich stehe vom Tisch auf, um mir in der Küche einen weiteren Kaffee einzuschenken, der lauwarm in der Kanne absteht. Es ist später Mittag, doch der Tag ist immer noch trüb und grau, konturlos fast. So wird es sein, bis die Nacht sich abermals vor das Fenster senkt, an dem ich stehen werde und hinausschaue auf die graue Straße, die braunen Felder und den verschwimmenden Horizont jenseits des verdorrten Waldrandes. Wie der Beginn des Grauen Stars, wenn der Nebel wie ein Leichentuch die Seelen bedeckt. Novembertristesse. Fallende, im Absterben schimmernde Blätter. Sturmhimmel. Feldgrau.
Mit dem Abschleppseil aus der Garage habe ich ihn am Sessel festgebunden, damit er nicht umkippt, und ihn in die Ecke des Zimmers geschoben, neben das Fenster. Er sieht so besser auf die Straße. Das Bleirohr, das ihn hinter dem rechten Ohr traf und seine Schädeldecke zertrümmerte, liegt noch da, wo ich es fallen ließ. Das Blut ist angetrocknet. Das Loch im Kopf ist nicht zu sehen, da er mir sein Gesicht zuwendet, die Wunde also zur Zimmerwand gerichtet ist. Die Blutlache habe ich so gut es ging vom Boden aufgewaschen. Es war auf das verkratzte Linoleum gespritzt.
Eine Latte aus dem Vorgartenzaun ist vertikal mit einem Stück Draht in seinem Nacken bis hinunter zum Ende der Wirbelsäule befestigt, damit sein Kopf nicht zur Seite fällt und er eine halbwegs gerade Stellung beibehält. Ich habe überlegt, ob ich ihm vielleicht seine obligatorische Pfeife in den Mund schieben soll, damit es echter wirkt, doch dann habe ich sie lediglich mit schwarzem Isolierband zwischen den Fingern der rechten Hand befestigt. Es hätte ihm bestimmt gefallen. Vorhin rauchte der Pfeifenkopf noch, ich habe ihn mit dem Bunsenbrenner entzündet.
Krähen fliegen über die umgepflügten, kahlen braunen Felder von jenseits des Horizonts heran, schreien krächzend in den Winterhimmel, hinter dem die Sonne weggesperrt ist.
Ich weiß nicht genau, wie lange es jetzt her ist, dass ich zugeschlagen habe. Zehn oder elf Tage vielleicht. Um die Frage der zukünftigen Lagerung habe ich mir ebenfalls noch keine Gedanken gemacht. Sein Körper wird vermutlich irgendwann quasi verschwinden, sich auflösen, zersetzen. Seine Gebissprothese kann ich dann mit dem Hammer bearbeiten und in den Müll werfen. Wegen des viehischen Gestanks habe ich mir eine ganze Kiste Raumspray besorgt, von Veilchenduft bis Hoch-auf-der-Alm-Odeur. Keine Ahnung, ob ihn das amüsiert hätte. Bei mir funktioniert es jedenfalls. Jodeldidö.
Wir führen tolle Gespräche nun, vielleicht sollte ich sagen: mittlerweile. Endlich gewinne ich eine Ahnung von dem, wozu er nie in der Lage war zu sprechen oder sich in irgendeiner Form auszudrücken. Jedenfalls nicht so. Schön, dass das so ist, Vater. Ja, Sohn, ich bin immer stolz auf dich gewesen, und habe immer versucht, dich vor Unbill und Missgeschick zu bewahren. Scheiße, nein, das klingt zu sehr nach Seifenoper. Vielleicht denke ich mir noch etwas anderes aus.
Seine Augen starren so unbarmherzig wie früher durch mich hindurch.
Der graue Himmel, die Schwärze, das Schreien der Krähen. Das Bleirohr in der Ecke des Zimmers, in der ich es fallen ließ, das Blut. Die Würmer und der Gestank. Das verwesende Fleisch.
Es gab keinen bestimmten Grund. Er war mein Vater. Nicht mehr und nichts weniger. Das ist alles.
Ich glaube, er hat wieder etwas gesagt. Er hatte etwas gesagt. Das weiß ich doch.


© Rainer M. Scholz

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Kommentare zu diesem Text

janna (60)
(04.09.09)
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 RainerMScholz meinte dazu am 05.09.09:
Ja, igitt. Vielleicht ist es auch ein wenig übertrieben.
Grüße,
R.
The_black_Death (31)
(08.09.09)
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 RainerMScholz antwortete darauf am 13.09.09:
Schön. dass ich dich inspirieren konnte.
Grüße,
R.
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