Bei den Kyklopen

Text

von  ManMan

„Der apollinische Homer ist der Fortsetzer jenes allgemein menschlichen Kunstprozesses, dem wir die Individuation verdanken.
Friedrich Nietzsche







Ithaka liegt doch im Meer





Ein Odysseus-Roman
von Manfred Volbers




im meer des odysseus

die abgehetzten blicke fallen
durch die ufersträucher
in das meer

höher als olivenbäume
ragen die zypressen:
ungebeugt

in das wasser gießt der himmel
all sein blau
die sonne leuchtet weiß

gerne ließe ich mich hier zurück



















Erster Teil
















1. Bei den Kyklopen
Es war eine finstere Nacht, die Sterne verbargen sich hinter ungewöhnlichen Wolken. Hätten die Männer im Boot sich darauf verstanden, solche Zeichen zu deuten, wäre vielleicht alles anders verlaufen. Aber sie schliefen.
Dann dämmerte es, und es war Odysseus, der in südöstlicher Richtung Land entdeckte. Waren es zunächst nur Tupfer am Horizont, so schälten sich bald die Umrisse einer bergigen, bewaldeten Insel aus dem Dämmerlicht heraus.
Odysseus sah sich um. Er entdeckte Eurylochos am Heck, winkte ihn herbei und wies auf die Insel.
„Sieh nur, mein Lieber, sieh nur! Wir können an Land gehen. Rasch! Weck die Männer auf.“
Eurylochos nickte wortlos. Bald quietschte und rasselte die Kette, dann warfen zwei Männer sie mit Schwung über die Reling. Mit einem scharfen, hellen Geräusch rollte sich ein weiteres Stück der Kette ab, bis der Anker im Meeresboden stecken blieb.
Eos, die Göttin der Morgenröte, färbte den Himmel. Das Meer war ruhig.
Während die Männer getrocknete Feigen und Datteln aßen und den unvermeidlichen Wein tranken, von dem im Laderaum noch mehrere Schläuche lagerten, wählte Odysseus die Bootsbesatzung aus. Er hatte den drei anderen Seglern durch Flaggensignal bedeutet, dass sie nichts unternehmen sollten. Nach den jüngsten Ereignissen musste das allen recht sein.
Vier Männer von seinem Schiff sollten das Land auskundschaften, unter ihnen Nestios und Eurylochos.
„Fahrt vorsichtig!“, mahnte der Schiffsführer, der an Land ein König war. Er wollte nicht noch mehr Männer verlieren.
„Es sieht nach Riffen unter der Wasseroberfläche aus.“
Bald war das Beiboot zu Wasser gelassen und bewegte sich in Richtung Küste, angetrieben von kräftigen Männerarmen. Odysseus stand an Deck und beobachtete die Gefährten. Mittlerweile hatte ein tiefes Blau das Morgenrot abgelöst. Die See lag ruhig und friedlich vor ihm. Die Voraussetzungen für einen Tag, der besser sein würde, ohne weiteren Verlust an Gefährten, wie er ihn bei den Lotophagen hatte hinnehmen müssen, waren also gegeben. Aber ein unbestimmtes Gefühl sprach dagegen, Er sah den langsam entschwindenden Männern daher mit Besorgnis nach. Es war ein ähnliches Gefühl wie er es vor zwei Wochen verspürt hatte, als sie den kikonischen Kriegern mühsam und mit viel Glück entkommen waren. Damals hatte er es ignoriert. Ihre Stellung in Ismaros schien nicht angreifbar. Wer sollte sie gefährden? Und doch war es den Kikonen gelungen, Verstärkung aus dem Landesinneren herbeizuholen, Krieger, die im Kampf vom Wagen herab ebenso geübt wie im Nahkampf waren, und sie brachten Odysseus und seine Gefährten in arge Bedrängnis. Zwar schafften es die Griechen, sich zu den Schiffen zurückziehen, aber erst im Schutze der Dunkelheit und dann unter großen Verlusten. So etwas durfte sich nicht wiederholen! Zumal seit jenem denkwürdigen Tag noch vier Schiffe übrig waren, vier statt jener zwölf, mit denen sie vor zehn Jahren gen Troja gezogen waren.
Dann die Erlebnisse bei den Lotophagen: Seine Männer hatten ihren Auftrag glatt vergessen und waren schließlich so berauscht, dass sie nicht mehr heimkehren wollten. Er und Eurylochos hatten mehrere Gefährten aneinander fesseln und gewaltsam zu den Schiffen zurückschleppen müssen!
Während seine Augen den Männern an Land folgten, nahmen seine Gedanken einen anderen Weg. War es denn wirklich der Wille der Götter, dass so viele und so herausragende Männer sterben mussten? Dass in Troja viele ihr Leben verloren, verstand er, das war Schicksal, Moira, von den Göttern gewollt und unabwendbar. Wer in Troja kämpfte, hatte nicht nur einen der Götter auf seiner Seite, sondern mindestens einen weiteren gegen sich. Aber der Kampf um Troja war längst entschieden, die Kämpfer heimgekehrt. Nur ihm und den bei ihm Verbliebenen stellten sich immer neue Hindernisse in den Weg. Dabei war die Hinfahrt nach Troja zügig und ohne Probleme verlaufen. Die Göttin Athene sei an der Seite der Griechen, hatte es doch immer geheißen. Sollte sich das geändert haben?
Odysseus atmete tief durch. Die vier Männer waren an Land gegangen. Während er sie entschwinden sah, musste er mehrmals gähnen. Er war müde und fragte sich, ob er es sich leisten konnte, ein wenig zu ruhen. Es würde ja eine Weile dauern, bis die Kundschafter heimkehrten. Er setzte sich hin, verschränkte die Arme über den Knien und legte den Kopf darauf. Bald war er fest eingeschlafen.

Die Höhle hatte riesige, ja: gewaltige Ausmaße. Wer am Eingang stand, konnte die dunkle Decke kaum erkennen. Und dann dieser Mann, ein Riese von gewaltigen Ausmaßen, ja, seine Körpergröße übertraf die der meisten Olivenbäume auf der Insel! Er hatte nur ein Auge, und das in der Mitte der Stirn. Wenn es geöffnet war, leuchtete es weithin. Zudem ließ der Riese es rollen, was besonders schauerlich wirkte. Es schreckte jeden Widersacher ab.
Frühmorgens trieb er seine Herde, die aus Schafen und Ziegen bestand, ins Freie, damit die Tiere auf den Hängen grasen konnten. Der große Mann liebte seine Tiere, er streichelte sie zärtlich, und wie sehr die Tiere ihm vertrauten, zeigte sich daran, dass es nur weniger Worte von ihm bedurfte, um die Herde in jede gewünschte Richtung zu lenken.
Auch heute war er unterwegs. Um saftiges Gras zu finden, mussten sie ein ordentliches Stück Weges zurücklegen, denn die Hänge in der Nähe der Höhle waren kahl gefressen. Während die Tiere weideten, lag er im Gras, kaute Grashalme, blinzelte in die Sonne und ließ den Tag verstreichen. Der Riese war unglaublich hässlich. Unzählige Narben entstellten seinen Körper, auch seine Lenden, um die er ein Leinentuch geschlungen hatte, das häufig verrutschte, weil es seinen ungeschickten Händen nur schlecht gelang, die Enden zu verknoten. Das Ungeheuerlichste an ihm aber war der Kopf, groß wie eine Amphore, mit dem tellergroßen Auge auf der Stirn. Dieser hässliche Riese, dem so wenig Göttliches eigen zu sein schien, war in Wirklichkeit ein Sohn des mächtigen Poseidon. In späteren Jahren, als Odysseus wieder auf Ithaka war und Zeit fand, über das ungeheuerliche Erlebnis auf dieser Insel nachzudenken, fragte er sich bisweilen, ob er sich anders verhalten hätte, wenn er gewusst hätte, wer der Vater dieses Ungeheuers war.
Als die Sonne unterging, machte Polyphem sich mit der Herde zurück auf den Weg zur Höhle, wobei er unterwegs Holz für das Feuer einsammelte. Mühelos schulterte er dabei ganze Baumstämme und Äste. Wenn auch sein Verstand nicht besonders ausgebildet war, so hatte ihn doch die Erfahrung gelehrt, dass es sich lohnte mitzunehmen, was greifbar war. Schließlich durften seine Vierbeiner nachts nicht frieren.
Die griechischen Kundschafter waren mit der Botschaft zurückgekehrt, das Land sei fruchtbar. Menschen hätten sie nicht angetroffen und Weidetiere auch nicht.. Allerdings schlossen sie die Möglichkeit, dass es trotzdem welche auf der Insel gab, nicht von vornherein aus, zumal sich ein Stück landeinwärts eine große Höhle befand... „Seid ihr nicht hineingegangen?“ hatte Odysseus verwundert gefragt. Nein, sagten sie, das Risiko sei zu groß gewesen. Es fehlte nicht viel und Odysseus hätte laut aufgelacht. Was war in diese Männer gefahren, die schon so oft ihre Unerschrockenheit unter Beweis gestellt hatten?
„Also gut! Dann bleibt ihr eben auf dem Schiff zurück. Wir nehmen einen Schlauch von dem Wein mit, den uns der Apollopriester Maron aus Ismaros geschenkt hat.“ Dann war er mit zwölf anderen Männern zur Höhle aufgebrochen. Jetzt befanden sie sich vor dem Eingang. Ihre Sinne waren bis zum Äußersten gespannt. Vorsichtig robbten sie heran. Es war nichts zu sehen und zu hören. Odysseus erhob sich und gab den Gefährten ein Zeichen. Da gingen sie in die Höhle hinein.
Der Anblick war überwältigend. Sie sahen einen Raum, so groß wie das Innere eines Tempels. Am Eingang glühte noch Asche von einem Feuer, an den Seitenwänden lagen Äste und Zweige, weiter hinten befand sich ein aus Holzstäben und Baumrinde zusammengebundenes Regal, auf dem mehrere große Käsestücke lagerten.. Hinter zaunartigen Absperrungen Lämmer und Zicklein, die laut meckernd die Ankömmlinge begrüßten.
„Los, wir nehmen uns Käse und zwei, drei Tiere, und dann machen wir uns wieder auf den Weg zum Schiff!“ schlug Antiphos vor. Er war ein fülliger, kleiner Mann, eher für gute Ratschläge bekannt als für mutige Taten. Diesmal fanden seine Worte Gehör. Schon griffen sich zwei Krieger die ersten Käsestücke, und ehe Odysseus Einhalt gebieten konnte, hatte einer bereits einem Lämmlein das Messer an die Kehle gesetzt. Wütend haute er es ihm aus der Hand. Zu spät. Das Blut tropfte aus der Kehle und nach einigen Zuckungen war das Tier verendet.
„Verdammt! Was soll das?! Wir müssen vorsichtig sein.“ Er stellte sich direkt vor den Eingang. „Wir bleiben und warten auf den, der hier wohnt.“
Er wandte sich an Antiphos:
„Du hältst draußen Ausschau und sagst uns Bescheid, wenn er kommt.“
                        Als Antiphos die Höhle verlassen hatte, wies er auf das Lamm.
„Wir wollen es Athene opfern.“
Bald war die Glut wieder entfacht und das Tier zerlegt. Die Männer ließen sich um das Feuer herum nieder und begannen, Opfergebete zu murmeln.
Da stürmte Antiphos wieder herein.
„Es kkkommt einer“, stotterte er aufgeregt, „ein Rrriese, so groß wwwwwie ein Bbbaum!“
Sie stutzten einen Augenblick, aber nach dem, was sie bisher erlebt hatten, schien alles möglich. So sprangen sie auf und begannen, wild durcheinander zu rennen. Nur Odysseus behielt einen klaren Kopf.
„Rasch! Versteckt euch hinten!“
Der Riese betrat die Höhle. Mit ihm kamen Schafe und Ziegen. Sie schnüffelten, meckerten und gaben alle möglichen Laute von sich. Er selbst trug eine gewaltige Ladung Scheitholz auf den Armen. Donnernd ließ er sie neben dem Feuer zu Boden fallen.. Dann nahm er einen Steinbrocken und schob ihn trotz seiner gewaltigen Ausmaße mühelos vor den Eingang. Das Feuer brannte noch und daneben lagen Fleischstücke. Und das in seiner Höhle! Er stieß grunzende, zornige Laute aus, ergriff ein Stück und verschlang es gierig. Dann baute er sich neben dem Feuer auf, stemmte die Arme in die Seiten.
„Wer ist bei mir eingedrungen?“
Seine Worte hallten schaurig von den Höhlenwänden wider und verstärkten bei den Griechen die Furcht. Dazu kam Ekel, denn, wenn er sprach, tropfte aus seinen Mundwinkeln eine gelbliche Flüssigkeit auf den Boden. Keiner getraute sich, etwas zu sagen, bis Odysseus vortrat und sich, nur wenige Meter entfernt, vor den Riesen stellte.
„Wir kommen in friedlicher Absicht“, sagte er mit lauter, fester Stimme. Der Kopf des Riesen zuckte nach vorne, das Auge rollte, aber er blieb stehen.
„Wer bist du? Wo sind die anderen?“
Odysseus wandte sich nach hinten.
„Kommt her und zeigt, dass wir friedlich sind und niemanden bedrohen!“
Zwei von den Männern, Patros und Eusebios, kamen aus dem Dunkel der Höhle nach vorne zu Odysseus. Der wandte sich an den Riesen:
„Wir sind Griechen und kommen aus dem fernen Troja. Auf dem Heimweg sind wir in schwere Stürme geraten und jetzt suchen wir Hilfe. Wir flehen Euch an, uns Gastfreundschaft zu gewähren. Der Hunger quält uns. Gebt uns zu essen –und vielleicht ein kleines Geschenk, wie man es Gästen zukommen lässt.“
Der Riese behielt sein finsteres und mürrisches Gesicht. Sein Auge stierte unverwandt auf den kleinen, fremden Mann.
„Wo seid ihr mit dem Schiff gelandet?“
„Unser Schiff?“ Odysseus rang in gespielter Verzweiflung die Hände. „Wir haben es verloren! Es ist an den Klippen zerschellt! Nur uns hat Poseidon das Leben geschenkt...
„Was?“ unterbrach ihn der Riese wütend. „Du wagst es, von Poseidon zu sprechen?“
Er stieß ein schauerliches Lachen aus und bewegte sich langsam nach vorne. Odysseus sprang schnell zur Seite. Dann packte das Ungeheuer blitzschnell Patros und Eusebios, riss sie hoch und schleuderte sie mit weit ausholender Bewegung und ungeheurer Wucht zu Boden wie leichtgewichtige Stoffpuppen. Odysseus sah die Schädel aufplatzen. Blut ergoss sich aus den Ohren. Er beobachtete entsetzt, wie der Kyklop sie Glied um Glied zerstückelte und mit gewaltigen Zähnen zermalmte.
Welch grauenhafter Anblick! Sie mussten hier heraus!
Auch die anderen Gefährten hielt es nicht länger im Verborgenen. Einige versuchten, unbemerkt zum Eingang zu gelangen, gingen ein paar Schritte nach vorn, sprangen aber gleich zurück ins Dunkel, als sie sahen, dass der Riese sich bewegte. Eine Zeitlang verharrten sie dort, während der Riese immer wieder versuchte, sie in den dunklen Ecken zu entdecken. Es gelang ihm nicht, und darüber schien er wütend zu sein. Er gab unverständliche Laute von sich. Keiner der Männer rührte sich vom Fleck, auch Odysseus nicht, der sich zu ihnen begeben hatte, während der Riese sie belauerte. Unendlich lange schien es den Männern und ihre Verzweiflung wuchs. Schließlich bemerkte Odysseus, wie die Bewegungen des Riesen langsamer wurden. Er gähnte mehrmals und zeigte seine großen, weißen Zähne. Und dann erlosch die Glut in seinem Auge. Mit mühsamer Bewegung schlang er noch hinunter, was er fressen wollte. Dann sank sein mächtiger Oberkörper nach hinten. Kurz darauf zeigte lautes Schnarchen an, dass er eingeschlafen war.
Odysseus überlegte. Sollte er hingehen und den Riesen mit dem Schwert töten? Es könnte gelingen, aber was würde geschehen, wenn es nicht gelang? Wenn er noch einmal zu sich kam, war er verloren. Und selbst wenn es gelänge, ihn mit einem Hieb in den Hades zu befördern: wie sollten sie aus der Höhle herauskommen? Es war ausgeschlossen, dass sie den schweren Felsbrocken beiseite schieben konnten, auch nicht mit vereinten Kräften.
Odysseus begab sich zu den Gefährten, die sich in den äußersten Winkel zurückgezogen hatten und dort zwischen ein paar besonders zutraulichen Schafen auf dem Boden hockten. Sie beratschlagten das weitere Vorgehen, nicht ohne sich zwischendurch immer wieder davon zu überzeugen, dass der Riese noch schlief.
„Wir können es schaffen“, meinte Antiphos mit gedämpfter Stimme, „und nachher besänftigen wir Poseidon mit einem Dankopfer.“
Der hoch gewachsene Chilion, der aus Thrakien stammte und als besonders mutig galt, bezweifelte, dass es möglich sei, den Riesen zu besiegen.
„Wir können ihn allenfalls überlisten.“
Odysseus nickte beifällig. Wenn es darum ging, eine List zu ersinnen, fühlte er sich angesprochen. Und er hatte bereits eine Idee...
Der Kyklop erwachte, als es draußen dämmerte. Er schenkte den Männern keine Beachtung. Hatte er sie vergessen? Er nahm ein großes Stück Käse vom Regal, schürte das Feuer und ließ sich auf einem Stein nieder, um zu essen. Die Schafe und Ziegen drängten zu ihm. Er melkte sie. Dabei stellte er sich geschickter an, als Odysseus, der ihn genau beobachtete, es sich ausgemalt hatte. Obwohl er groß und plump war, besaß er eine erstaunliche Fingerfertigkeit. Als er fertig war, legte er die Kleintiere bei den Muttertieren an und beobachtete, ob jedes von ihnen genug zu trinken bekam. Anscheinend war er zufrieden, denn er nahm den Felsbrocken und schob ihn mit einer unfassbaren Leichtigkeit beiseite. Er trieb die Tiere hinaus und schob den Stein wieder vor den Eingang.
Für die Männer im Innern der Höhle bedeutete das: sie waren wieder gefangen! Aber diesmal hatten sie damit gerechnet und diesen Umstand zum Bestandteil ihres Planes gemacht. Sie nahmen einen Olivenbaum, den der Kyklop am Vorabend in die Höhle geschleppt hatte. Auf Odysseus’ Geheiß machten sie sich an die Arbeit. Sie trennten einen Stamm von zwei Spannbreiten ab und begannen, ihn zu glätten. Er selbst übernahm es, die Spitze zu schärfen. Dann härtete er sie im Feuer. Als er mit dem Ergebnis zufrieden war, verbarg er die neue Waffe unter dem Stallmist, der knöcheltief auf dem Boden herumlag. Die Männer warfen Lose. Mastos gewann. Also würde er Odysseus beistehen.
Der Tag zog sich in die Länge. Obwohl alle erschöpft und müde waren, tat keiner von ihnen ein Auge zu. Pünktlich mit Einbruch der Dunkelheit kam der Riese mit der Herde zurück. Während er den Felsbrocken beiseite schob, fuhr Odysseus der Gedanke durch den Kopf, dass er keine Hilfe erwarten durfte, wenn es zur Entscheidung kam. Nicht von Göttern und nicht von Menschen. Aber diese Erkenntnis machte ihm keine Angst. Wenn es zu kämpfen galt, kam es auf einen selbst an.
Inzwischen waren die Schafe und Ziegen in der Höhle und der Riese schob den Felsbrocken wieder vor den Eingang. Odysseus staunte noch immer über seine Kraft. Er schätzte, dass ihm auch mit zwei Maultieren nicht gelingen würde, was dieses Ungeheuer mühelos bewältigte.
Der Kyklop reckte sich, gab einige Laute von sich und griff nach dem Holz, das die Männer griffbereit neben das Feuer gelegt hatten, damit er nicht etwa nach dem Baum suchte und ihre Waffe entdeckte. Wieder verspeiste er ein großes Stück Käse. Danach reckte er sich, als wollte er ihnen seine imposante Größe zeigen.
Die Tiere traten an, um sich melken zu lassen. Ein rührendes Bild. Man konnte sehen, wie wohl sich die Schafe in seiner Nähe fühlten.
Dann die unerwartete Wendung. Als er fertig war, machte der Riese eine rasche Drehbewegung und sprang geradewegs in das Innere der Höhle. Dort ergriff er einen der Männer –es war Antiphos- und warf ihn wie eine Puppe auf den Boden. Er gab keinen Laut mehr von sich. Als ob es für die schockierten Gefährten noch nicht reichte, ergriff er dann ein großes Messer, schnitt die Leiche in Stücke und begann sie zu verspeisen.
Odysseus musste alle Kraft aufbringen, um sich zu beherrschen. Langsam trat er aus dem Dunkel der Höhle hervor und wandte sich an den Menschenfresser. Er habe einen mit Wein gefüllten Schlauch dabei. Ob Polyphem nicht davon trinken wolle...? Hahaha! lachte der Riese, und sein Auge auf der Stirn rollte unheimlich. Da wolle ihn wohl jemand friedlich stimmen, nicht wahr? Aber ein Schlückchen Wein? Odysseus goss rasch einen Krug voll. Und der Riese widerstand nicht länger, sondern ergriff den Krug und trank. Nein, so etwas hatte er noch nie getrunken. Noch einen Schluck nahm er, dann noch einen... Die Rechnung ging auf. Odysseus sah es mit Genugtuung. Als der Krug zum vierten Mal aufgefüllt und ausgeleert worden war, fragte der Riese Odysseus mit schwerer Zunge, wie denn sein Name sei.
„Ich heiße ‚Niemand’“, behauptete der schlaue Mann aus Ithaka, und der Riese war es zufrieden. „Du kommst als letzter dran“, versprach er dem angeblichen ‚Niemand’. „Vor dir werde ich alle anderen zu mir nehmen“, lallte er, „dich zuletzt...“
Kaum hatte er diese Worte hervorgebracht, da warf es ihn um. Mit lautem Getöse fiel er nach hinten. Aus seinem Mund ergoss sich Wein, vermischt mit unverdauten Brocken. Den Zuschauern würde übel. Aber Odysseus behielt seine Kaltblütigkeit. Er wusste, dass der Zeitpunkt günstig war.
Er rief Mastos herbei. Gemeinsam ergriffen sie den Pfahl und hielten die Spitze so lange in die Glut des Feuers, bis sie glimmte. Währenddessen sprach Odysseus seinem Gefährten mit leiser Stimme Mut zu. Dann war es so weit. Gemeinsam und unter Aufbietung aller Kräfte stießen sie die glühende Waffe dem Monstrum direkt ins Auge. Heißes Blut spritzte zischend hervor, das furchtbare Brüllen war weithin zu hören. Schließlich gelang es ihm, sich aufzurichten und um sich zu schlagen, aber da waren Odysseus und Mastos längst in eine Ecke der Höhle zurückgewichen. Als er merkte, dass er ohne Auge keine Chance hatte, die Angreifer zu fassen, schleppte sich der verletzte Riese zum Höhleneingang und stützte sich auf den Stein. Mit letzter Kraft schrie er hinaus in die dunkle Nacht. Und er erhielt Antwort.
„Brauchst du Hilfe, Polyphem?“ donnerte es von einer der umliegenden Inseln. „Warum brüllst du so? Wer will dir etwas antun?“
„’Niemand’ ist hier und will mich ermorden“, schrie der Riese, dann verließ ihn das Bewusstsein. Die Griechen aber hörten von ferne ein lautes Lachen herüberschallen. Was er nur wieder haben mochte, dieser Polyphem...!
Das Bewusstsein kam bald zurück, aber die Schmerzen waren so groß, dass er sich darüber kaum freuen würde. Noch immer rann Blut das Gesicht hinab. Dabei dämmerte es bereits. Und die Tiere warteten auf ihn...
Polyphem räumte den Felsen beiseite und ließ sich neben dem Eingang nieder. Die ersten Schafe kamen. Der Riese betastete sie argwöhnisch, als wüsste er um die Möglichkeit, dass sie nicht alleine hinausgingen. Große Widder waren es mit dichtem Fell und Odysseus wusste sich diesen Umstand zunutze zu machen. Aus Reisigzweigen, die er der Lagerstätte Polyphems entnahm, drehte er Ruten und band die Tiere damit fest aneinander. Sein Plan: der mittlere Widder musste einen Mann tragen, während der linke und der rechte ihn verbargen. Er selber wollte sich als letzter an einem besonders großen Widder anklammern.
Die Böcke drängten zur Weide, hinten im Stall der Höhle blökten die ungemelkten Jungtiere, deren Euter von Milch strotzten. Obwohl Polyphem sorgfältig tastete, bemerkte er nichts Ungewöhnliches. Dabei kam mit jedem Tier, das er den Eingang passieren ließ, auch ein Grieche ins Freie. Bis zu guter Letzt Odysseus an der Reihe war. Der Riese streichelte ein Tier und sagte verwundert:
„Du kommst erst jetzt? Sonst bist du einer der ersten...“
Er hielt inne.
„Nicht wahr, es geht dir nahe, dass der Bösewicht deinem Herrn das Augenlicht zerstört hat. Ach, könntest du mir doch helfen! Wir würden 'Niemand' schon bestrafen!“
Damit ließ er das Tier hinaus, und so kam auch Odysseus aus der Höhle ins Freie. Endlich! Er wartete, bis das Tier sich ein Stück weit entfernt hatte, ließ von ihm ab und beeilte sich, die Gefährten zu befreien. Leise flüsternd gab er ihnen den Auftrag, die fetten Böcke zu den Schiffen zu treiben.
Dort herrschte große Freude darüber, dass die Gefährten heil zurückgekommen waren. Bis sie erfuhren, dass wieder einige ihr Leben lassen mussten. Und unter welchen Umständen! Der schreckliche Tod von Antiphos: mussten sie den nicht rächen?! Oder war das zu gefährlich? Einige von ihnen bekamen es insgeheim mit der Angst zu tun. Eurylochos, der für solche Stimmungen ein Gespür hatte, meinte aufmunternd: „Gemeinsam werden wir den Riesen schaffen!“
Die meisten nickten zustimmend. Aber diesmal wehrte Odysseus ab:
„Er hat überall auf den umliegenden Inseln seinesgleichen. Wir sollten sehen, dass wir schnell fortkommen!“
Er war es, der das Sagen hatte. So setzten sich schon bald die Schiffe in Bewegung. Die Männer waren erleichtert und legten sich mächtig in die Riemen. Dann kam Wind auf, und Odysseus ließ die Segel hissen. Das Schiff, das er befehligte, fuhr als letztes auf die See hinaus. Während die Männer mit den Segeln beschäftigt waren, drehte er sich um. Der Wind zauste an seinen Haaren und er atmete die frische Seeluft ein. Aber was war das! Der Riese! Er stand hoch oben an der Spitze des Felsens, bereits weit weg, aber noch in Hörweite. Der Ithakesier spürte, wie ihm das Blut zu Kopfe stieg. Er holte noch einmal Luft, als könnte er es so wieder zurückdrängen. Dann rief er, so laut es ging:
„Hör zu, Riese! Das war die Strafe dafür, dass du die heiligen Gesetze der Gastfreundschaft missachtet hast. Zeus war eben doch auf meiner Seite!“
Die Männer hatten aufgehört zu arbeiten und warteten gespannt. Ein furchtbares Brüllen und Wüten ertönte. Odysseus’ Herausforderung zeigte Wirkung. Wahllos griff der Riese nach größeren Steinen in seiner Nähe und warf einen nach dem anderen ins Meer, so dass sie hart aufplatschten und Wellen erzeugten, aber sonst keinen Schaden anrichteten. Dann aber glaubten sie ihren Augen nicht zu trauen. Sie sahen, wie er die Spitze des Felsens mit den Armen umschlang, sie mit einem gewaltigen Ruck abriss und hinabschleuderte, als handelte es sich um ein Kieselsteinchen. Einige Seemänner duckten sich. Welch ein Brocken! Wie ein Stern fiel er von oben herab und krachte vor dem Bug des letzten Schiffes ins Wasser. Wie die Wellen schäumten! Die Wassermassen fluteten landwärts, so kraftvoll, dass alle Schiffe weit zurückgetrieben wurden. Wieder mussten sie die Segel raffen, ständig bedroht von neuerlichen Steinwürfen. Bis der Riese  mit seiner Kraft am Ende schien. Endlich! Die Griechen mussten lange Stangen zur Hilfe nehmen, um aus dem seichten Gewässer wieder herauszukommen. Als es gelungen war, mühten sich die Männer erneut nach Kräften an den Rudern und feuerten sich gegenseitig an, als gelte es, in einem Wettkampf zu bestehen. Bald waren sie erneut auf See. In Sicherheit, könnte man glauben...
Doch der König von Ithaka meinte den Sohn Poseidons noch einmal herausfordern zu müssen. Mit Entsetzen sahen die Gefährten, wie er sich aufstellte und die Arme in die Seiten stemmte. Sie wollten ihn daran hindern, den Riesen weiter zu reizen, zumal er geschwächt war und dadurch besonders gefährlich. Sie riefen ihm zu, er solle aufhören, während sie mit unverminderter Kraft weiter ruderten, um dem Einflussbereich des fürchterlichen Monsters zu entfliehen. Vergebens. Er gab ihnen zu verstehen, dass er es war, der die Befehle gab, und er ließ es sich nicht nehmen, dem Widersacher noch einmal seinen Triumph kundzutun:
„Ich bin Odysseus, der Städteverwüster von Ithaka“, rief er, so laut, dass sie sich in den Felswänden verfingen und zurückgeworfen wurden. „Hast du schon von mir gehört?“
Die Antwort des Riesen ließ nicht auf sich warten. Er hätte sich einen anderen, größeren Mann vorgestellt, sagte er, aber ein Odysseus sei ihm einst angekündigt worden.
„Komm doch zurück“, lockte er, „ich bewirte dich und verschaffe dir ein sicheres Geleit von meinem Vater Poseidon.“
Odysseus lachte, und es war viel Erleichterung in diesem Lachen. Wer sich so zahm geben musste, war keine Bedrohung mehr! Dennoch spornte er die Gefährten an. Diesmal meinte der Wind es gut mit ihnen, und so waren der Kyklop und seine Insel bald ihren Blicken entschwunden.

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