Bei Aiolos und den Laistrygonen

Text

von  ManMan

Das Wetter war, wie es sein sollte. Bei leichter Brise segelten die Griechen auf dem tiefblauen Wasser dahin, und die Mannschaften auf den nahe beieinander segelnden Schiffen hatten endlich Gelegenheit, sich auszuruhen. Odysseus machte sich Sorgen. Der Grund lag in dem Umstand, dass Poseidon der Vater dieses Ungeheuers war. Ausgerechnet Poseidon! War er auf dessen Wohlwollen nicht angewiesen? Immerhin war er der Gott des Meeres, und sie hatten noch einen weiten Heimweg. Wenn Poseidon aber hörte, dass Odysseus seinen Sohn Polyphem des Augenlichts beraubt hatte...Natürlich wüsste Odysseus sich zu rechtfertigen. Er könnte darauf hinweisen, dass er keine Wahl gehabt hätte, wenn sie dem Kyklopen entkommen wollten. Aber was zählten solche Gründe bei Unsterblichen!
Sein Blick ging hinaus auf das endlose Wasser. Wo lag Ithaka? Würde er je dorthin zurückfinden? Wie ging es seiner Familie? Telemachos musste inzwischen ein erwachsener Mann sein. Sein Vater Laêrtes war schon alt, wenn er überhaupt noch lebte. Telemachos würde seine Aufgaben übernehmen müssen. Und Penelope? Einmal, in einem Hafen unweit von Troja, war ein Seemann betrunken vom Landbummel zurückgekehrt. Er war gleich zu ihm gekommen und hatte mit lallender Stimme gefragt, ob er wüsste, was daheim auf Ithaka los sei. Odysseus wollte den Mann schlafen schicken, aber dann siegte seine Neugier. Und er hörte, auf Ithaka würde Penelope von Freiern bedrängt, die behaupteten, Odysseus sei nicht mehr am Leben, und darum solle Penelope einen von ihnen heiraten. Am nächsten Morgen konnte sich der Seemann an nichts erinnern. Wütend befahl Odysseus, ihn am Mast festzubinden und auszupeitschen, aber es brachte keinen Erfolg. Seit jenem Zeitpunkt machte sich Odysseus Sorgen.. Zwar sagte er sich, dass Penelopes Treue über jeden Verdacht erhaben war, aber war sie auch stark genug? Sie war eine Frau, und wenn sie von einflussreichen und entschlossenen Männern bedrängt wurde, konnte niemand voraus sagen, ob und wie lange sie standhalten würde... Mitten in diese Überlegungen hinein platzte Eurylochos.
„Land in Sicht, dort hinten, sehr ihr?“
Eine Insel, und sie sah interessant aus, fand Odysseus. Ob sie bewohnt war? Vielleicht sogar von freundlichen Menschen? Von solchen, die ihm mitteilten, wo sie sich befanden und wie sie nach Hause kämen...?  Als sie näher kamen, stellte sich heraus, dass die ganze Insel von einer Mauer aus Erz und Felsbrocken umgeben war. Sie mussten auf die andere Seite fahren, ehe sie die Einfahrt zum Hafen fanden, der durch eine lange Kaimauer vom Meer abgetrennt war. Odysseus gab Anweisung, außerhalb anzulegen, zumal er im Hafen zwei Schiffe ausgemacht hatte. Er wollte eben am Kai entlang zu den anderen Schiffen gehen, als einer seiner Leute laut nach ihm rief. Er wandte sich um und sah zwei Frauen, hoch gewachsen und mit glatten, jungen Gesichtern, die auf dem Kopf Körbe trugen. Trotz ihrer Größe wirkten sie kindlich. Sie kamen in ihre Richtung. Die Männer machten zweideutige Bemerkungen, bis eine Handbewegung von Odysseus sie zum Schweigen brachte. Langsam ging er den Frauen entgegen.
„Wir kommen in friedlicher Absicht“, sagte er mit lauter Stimme, so langsam, dass es begütigend wirken sollte, als ihn noch eine Ruderlänge von ihnen trennte. Er deutete eine höfliche Verbeugung an.
„Das haben wir erwartet“, entgegnete eine der Frauen trocken. Es war jene, die ein langes, blaues Gewand trug und sehr selbstbewusst wirkte. Sie nahm den Korb vom Kopf und stellte ihn zu Boden. Die andere Frau, die mit einem roten Gewand bekleidet war, sah ihrer Begleiterin sehr ähnlich, hatte jedoch herbere Gesichtszüge.. Sie folgte ihrem Beispiel. Beide Körbe waren bis oben mit Weintrauben gefüllt.
„Bedient Euch, Herr!“
Odysseus, der solche Trauben, die in Ithaka in großer Zahl zu finden waren, lange entbehrt hatte, griff zu.
„Köstlich!“ befand er und reichte Eurylochos, der hinzugekommen war, einige hinüber. „Sagt Ihr uns, wie diese Insel heißt und wer hier der Gebieter ist?“
„ Die Insel heißt Aiola, und der König trägt den Namen Aiolos. Wir sind zwei seiner sechs Töchter.“ Ihr singender Tonfall änderte sich: „Und wer seid Ihr?“
Odysseus stellte sich und die Seinen vor, erzählte kurz, dass sie von Troja kämen und auf der Heimreise nach Ithaka seien, aber nicht wüssten, wo die Insel liege.
„Da kann Euch unser Vater helfen“, kam es bereitwillig von der Frau in dem roten Gewand, die sich mit dem Namen Thynia vorgestellt hatte. „Begleitet uns nur bis zum Königspalast.“
Der Weg führte über einen parkähnlichen, großen Platz, bewachsen mit riesigen, alten Bäumen und einem Rasen, auf dem Schafe weideten. Die Frauen führten Odysseus und Eurylochos zu einem Tor und öffneten es. Bald standen sie vor einer Mauer aus dicken Felssteinen. Erneut ein Tor, diesmal bewacht von zwei Kriegern, großen und kräftigen Männern, die sich auf lange Speere stützten. Auf einen Wink Thynias hin öffneten sie einen Torflügel, um die Königstöchter und die fremden Männer einzulassen. Thynia führte die Griechen in einen hellen Saal, der sein Licht von vier Maueröffnungen erhielt. An einem langen Tisch saßen junge Frauen, einige kleine Kindern und einige junge Männer. Der ältere am Tischende musste der König sein. Er erhob sich, als sie den Saal betraten.
„Vater, ich bringe dir friedliche Gäste!“
„Willkommen auf meiner Insel!“ Aiolos eilte auf sie zu. „Wir haben selten Gäste hier, daher freuen wir uns umso mehr.“
Odysseus spürte neugierige Blicke auf sich gerichtet. Ihm fiel auf, dass die Frauen und Kinder auf der einen und die Männer auf der anderen Seite des Tisches saßen. Er verneigte sich tief.
„Wir sind Griechen auf der Heimfahrt von Troja. Zehn Jahre haben wir gebraucht bis zum Fall der Stadt. Jetzt wollen wir wieder zu unseren Frauen und Kindern, aber die Götter meinen es nicht gut mit uns.“
„Woraus schließt Ihr das?“
Odysseus berichtete in knappen Worten, was sie bei den Kikonen und bei Polyphem erlebt hatten.
„Ein Sohn Poseidons? Und ihr habt ihn geblendet?“ Aiolos war entsetzt.
„Ich hatte keine Wahl“, verteidigte sich Odysseus, „er wollte mich töten.“
Aiolos deutete mit dem Kopf an, dass er daran zweifelte, ob das bei Poseidon Gewicht hatte.
„Ihr seid meine Gäste“, sagte er dennoch, laut genug, dass die Frauen und Männer, die dem Gespräch neugierig gefolgt waren, es hören konnten.
„Wie viele Schiffe und Gefährten habt Ihr?“ wandte er sich an Odysseus.
„Vier Schiffe sind es noch und über 150 Gefährten.“
„Dann holt sie herbei.“
Er gab Anordnungen, die sicherstellen sollten, dass jeder eine Schlafgelegenheit hatte und befahl dem Koch, Schafe und Rinder zu schlachten. Odysseus aber machte sich auf den Weg.

Sechs Söhne hatte die Gattin des Königs Aiolos zur Welt gebracht, aber auch sechs Töchter. Sohn und Tochter wechselten sich in schöner Regelmäßigkeit ab, zuerst der Sohn, dann die Tochter, und das solange, bis die jüngste Tochter zur Welt kam. Nachbarskinder gab es allerdings nicht, jedenfalls keine von Stand, so dass Aiolos kurzerhand festlegte, dass sie eben einander zu heiraten hatten. Inzwischen waren die ersten Enkelkinder da, und Aiolos und seine Gattin liebten sie über alles.
Die Gäste ließen es sich in den ersten Tagen des Aufenthaltes gut gehen. Sie hatten reichlich zu essen, abends gab es Musik und manchmal Tanz. Die Männer tanzten hier mit Männern, die Frauen mit Frauen. Als ein griechischer Mann eine Frau zum Tanze aufforderte, hörte der Musiker erschrocken auf zu spielen. Die Kinder, die zwischen den Tischen herumtollten, blieben stehen und warteten neugierig ab, was geschehen würde. Aber der Grieche merkte rasch, dass hier andere Sitten herrschten. Also zog er sich zurück und die Musik setzte wieder ein. Alles blieb so wie immer, darauf legten die Königsfamilie und die anderen Personen bei Hofe großen Wert.
Die Tage vergingen. Zunächst war es erholsam, aber dann begann sich die Stimmung zu ändern. Die griechischen Männer waren Kämpfer. Sie hatten andere Bedürfnisse als nur zu essen. Was sollten sie hier? Die Frauen waren für sie tabu, und Wettkämpfe nicht erlaubt. Ein Tag verlief wie der andere. Es wurde langweilig. Einige sprachen offen davon, dass sie nach Hause wollten. Sie fanden Zustimmung, aber noch änderte sich nichts. Dreißig Tage vergingen. Dann war es Odysseus, der Aiolos um ein Gespräch ersuchte. Er glaubte, seinen Wunsch nach Heimkehr behutsam vortragen zu müssen, doch Aiolos hatte gleich Verständnis für den Wunsch.
„O ja, das verstehe ich“, entgegnete er, „schließlich ist es die Heimat!“
Odysseus atmete auf. Als er es den Männern mitteilte, brachen sie in Jubel aus. Die Vorkehrungen zur Abreise waren bald getroffen. Zum Abschied bekamen die Griechen von Aiolos einen großen Schlauch geschenkt. Als er ihn Odysseus übergab, nahm er ihn zur Seite:
„Ihr müsst wissen, dass Zeus mir die Herrschaft über die Winde anvertraut hat, so dass ich sie nach Belieben wehen lassen kann. Auch in diesem Schlauch befinden sich Winde. Sie sollen euch nützen, wenn ihr sie braucht. Aber Vorsicht! Lasst sie nur hinaus, wenn ihr sie wirklich benötigt!“
Sein Gesicht war ernst geworden. Er fügte noch hinzu:
„Und keiner Eurer Gefährten darf über den Inhalt Bescheid wissen!“
Odysseus versprach es. Aiolos ließ Westwinde wehen, und die Griechen wussten das Geschenk zu schätzen. Neun Tage kamen sie so gut voran wie lange nicht. In der zehnten Nacht entdeckten sie in der Ferne mehrere Feuer. Das konnten nur jene von Ithaka sein... Endlich! Odysseus’ Herz machte einen Sprung. Doch was war das? Anstatt sich zu freuen, kam ausgerechnet jetzt bei ihm Verbitterung auf über die Zeit, die sie gebraucht hatten, um dieses Ziel zu erreichen. Warum nur, grübelte er, haben wir uns in die Irre führen lassen und von wem? Seine Anspannung war wie fort geblasen. Unendlich müde fühlte er sich, so erschöpft, dass er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Es dauerte alles so lange...Irgendwann legte er sich einfach am Bug des Schiffes an der Seite nieder. Er schlief sofort ein.
Ithaka war also fast erreicht und Odysseus schlief. Wer das liest, wird sich denken, wie diese Geschichte weitergeht: die Gefährten werden ihn geweckt haben, als es so weit war. Sie verließen die Schiffe zusammen mit den Schätzen, die noch übrig waren und dann...halt!
Was war mit dem Schlauch, den Aiolos ihnen mitgegeben hatte? Sollte der einfach auf dem Schiff liegen bleiben? Natürlich hatte sich keiner getraut, nachzusehen, was er enthielt, denn Odysseus hatte es strikt verboten. Aber neugierig waren alle und Odysseus schlief wie ein Murmeltier. Weshalb also nicht wenigstens einmal kurz nachschauen? Und  wenn er gerade dann aufwachte?
„Seht nur, wie tief er schläft!“ sagte der junge Petros halblaut. „Wer weiß? Vielleicht ist er gefüllt mit Gold und Silber. Er ist doch ein König. Muss er noch mehr Schätze haben...?“
Eurylochos unterbrach ihn.
„Schweig, Petros! Was du vorhast, kann als Meuterei bestraft werden.“
Xanthis mischte sich ein:
„Nein, nehmen dürfen wir uns natürlich nichts. Aber nachschauen?“
Er stand neben dem Schlauch und bückte sich.
„Nur den Verschluss abziehen, mehr nicht!“
Ach, man möchte sie am liebsten warnen, diese Männer, die so tapfer gekämpft haben und nun durch leichtfertige Neugier alles aufs Spiel setzen, aber es hätte kaum  etwas bewirkt. Xanthis warf einen schnellen Blick auf den tief schlafenden Odysseus. Die anderen schwiegen, auch Eurylochos.... Petros war es, der sich ein Herz fasste, den Stöpsel zog und den Schlauch prüfend schüttelte. Eine kleine Bewegung nur, aber durch sie lösten sich alle Träume von einer schnellen Heimkehr im Wortsinne in Luft auf. Denn aus dem Schlauch brausten die Winde hervor, als hätten sie auf diesen Moment gewartet. Sie heulten und wirbelten, sammelten sich hoch oben und stürzten als Fallwinde heulend wieder nach unten.
Odysseus fuhr aus dem Schlaf empor. Zunächst wusste er nicht, ob es Traum oder Wirklichkeit war. Alles drehte sich, überall flogen Holz- und Stoffteile durch die Luft. Es gelang der Mannschaft nicht, die Segel zu raffen, auf keinem der Schiffe. Bald waren da, wo sich zuvor Segel im Wind gebläht hatten, nur noch umgeknickte Masten.
Entsetzt sah Odysseus, wie einer der Männer vom Sturm erfasst und ins Meer geschleudert wurde. Mit aller Kraft hielt er sich an der Reling fest. Ein Schiff hatte bereits bedenklich Schlagseite, Ständig fluteten neue Wellen an Deck, das Schiff schaukelte hin und her, neigte sich immer weiter und wurde schließlich mit einem gurgelnden Geräusch in die Tiefe gezogen. Dann brach sich auch auf dem Schiff, auf dem Odysseus sich befand, eine riesige Woge und riss mehrere Männer über Bord. An Rettung war nicht zu denken. Wer sich festgeklammert hatte, tat gut daran, nicht wieder loszulassen, wenn die Kraft es erlaubte. Odysseus sah, dass der Sturm die verbliebenen drei Schiffe in eine Richtung trieb, in die niemand wollte: wieder dorthin, wo sie aufgebrochen waren. Erst als die Nacht zu Ende war, ließ der Sturm nach. Odysseus erkannte, dass es sich bei der Insel, auf die sie zu trieben, erneut um Aiola handelte.
Diesmal fiel den Männern der Weg zum Palast schwer. Odysseus hatte überlegt, ob sie nicht einfach absegeln sollten, ohne sich im Palast zu melden, aber die Hoffnung, noch einmal Hilfe zu erhalten, war stärker als die Scham über ihre Schande. Odysseus tat dem Herrn der Insel gegenüber sein Bestes, um glaubhaft zu machen, dass im Grunde niemanden die Schuld an der Entwicklung traf, sondern unglückliche Umstände sich gewissermaßen von allein verkettet hätten mit fataler Wirkung: seine eigene Müdigkeit, die Neugier der Männer...Doch Aiolos dachte gar nicht daran, den Griechen erneut zu helfen, und er sagte es unverblümt:
„Verschwindet von dieser Insel! Ich will euch nicht um mich haben, euch und die Rache der Götter!“
Sein Gesicht war rot und wer es ansah, wusste, dass Widerspruch zwecklos war.Traurig und niedergeschlagen zogen sie wieder ab und bestiegen die Schiffe. Das Wetter hatte sich gebessert. Als sie erneut von der Insel wegsegelten, wehte ein leichter Wind, so dass die erschöpften Männer wenigstens nicht zu rudern brauchten. Odysseus war froh darüber. Er sah, dass sich die Stimmung in der Mannschaft verschlechterte. Xenophilos hatte die Äußerung von Aiolos gehört und später den Gefährten die Frage gestellt, ob jener Inselherrscher nicht vielleicht Recht hatte. Waren sie nicht wirklich von den Göttern verfolgt? Wie sollte das weitergehen?An diesem Punkt war Odysseus eingeschritten. Wer so rede, wolle andere aufhetzen, sagte er in scharfem Tonfall. Xenophilos solle vorsichtig sein.
Sechs Tage lang setzten die drei Schiffe ihre Fahrt fort ohne zu wissen, wo sie sich befanden. Odysseus hatte eine östliche Richtung vorgegeben, mehr wusste auch er nicht. Alle Inseln, an denen sie vorüber segelten, schienen unbewohnt zu sein. Erst am siebten Tag kam eine in Sicht, die einen von hohen Felsen umgebenen Hafen hatte. Ähnlich der Insel Aiola gab es auch hier eine schmale Einfahrt. Im Hafen war kein Seegang möglich, daher konnten die zwei Schiffe, die hinein fuhren, ohne Risiko aneinander gebunden werden. Nur Odysseus blieb außerhalb des Hafens und ließ die Männer sein Schiff mit Tauen und Haken am Felsen befestigen. Dann ging er an Land, voller Hoffnung.
Was er indes sah, ließ Zweifel aufkommen. Nirgendwo Häuser oder Hütten, keine Felder, denen man ansah, dass sie von Menschen bearbeitet waren. Stattdessen dichte Wälder mit Steineichen, die er auf einer so felsigen Insel nicht erwartet hatte. Am Himmel waren dünne Wolken, und vor ihrem Hintergrund entdeckte Odysseus endlich in südlicher Richtung Rauch, der in den Himmel stieg.
„He! Kommt mal her!“ rief er drei Männern zu, die ihn, über die Reling des Schiffes gebeugt, beobachteten. Er wies auf den Rauch und befahl ihnen, in die angegebene Richtung zu gehen.
Keinos hatte die Leitung der Gruppe inne. Er wählte einen Weg, der zunächst unbequem, eng und voller dornigem Gestrüpp war. Dann erweiterte er sich. Am Rande lagen aufeinander geschichtete Zweige, es waren Feuerstätten mit erkalteter Asche zu sehen. Keinos mahnte die beiden anderen Männer zur Vorsicht. Sie gingen langsamer. Plötzlich lautes Knirschen von Kies und das Knacken von Zweigen. Ehe es den Griechen gelang, sich zu verbergen, kam jemand aus der Richtung, in der der Weg abbog, auf sie zu. Es war ein Mädchen mit einem leeren Krug in der Hand, aber was für eines! Es war größer als alle Männer auf dem Schiff, und der Krug war so hoch wie ein Wagenrad. Es trug ein rotes Gewand, das bis auf den Boden reichte und unterhalb des Kinns mit gelben Stickereien besetzt war. Das riesige Mädchen war noch einige Schritte entfernt. Die Männer sprachen es an, ohne die Hand vom Griff des Schwertes zu nehmen.
„Wir kommen in friedlicher Absicht“, beteuerten sie. Das Mädchen warf ihnen nur einen gleichgültigen Blick zu. Koinos sagte:
„Wir sind Griechen und auf der Heimfahrt von Troja. Wo sind wir hier? Wie heißt diese Insel?“
„Telepylos, Telepylos“.
Sie wies mit der Hand in die Richtung, in der Rauch aufstieg.
„Ist das der Name der Stadt?“ fragte Keinos und nahm, um seine Friedfertigkeit zu beweisen, die Hand vom Schwert. Das Mädchen nickte.
„Wer herrscht in Telepylos?“ wollte Keinos wissen, und als sie ihn verständnislos ansah: “Wer ist König?“
Jetzt verstand sie.
„Ah, König! Antipathes, mein Vater.“
Erneut wies ihre Hand in die angegebene Richtung. Keinos sagte leise zu den Gefährten:
„Sie holt Wasser, denke ich, lasst uns auch dorthin gehen!“
Erneut wandte er sich der Königstochter zu, versuchte zu lächeln und winkte freundlich. Dann machten sie sich rasch davon, bevor das träge Riesenmädchen ihnen etwas antun konnte.
Als sie einige Zeit in der angegebenen Richtung weitergegangen waren, sahen sie Fußspuren im Sand, Abdrücke von riesigen Füßen. Die drei Griechen hatten ein mulmiges Gefühl, und dieses verstärkte sich, als sie kurz darauf die Burg vor sich liegen sahen. Sie wirkte menschenleer. Eine Zeitlang verharrten sie unschlüssig vor den Mauern. Schließlich fassten sie sich ein Herz und betraten das Innere. Die Räume waren hoch und machten einen düsteren Eindruck. Mehrmals huschten Frauen und Männer vorbei, aber niemand nahm sie zur Kenntnis. Keinos fiel auf, dass sie kleiner waren als das Riesenmädchen, das ihnen begegnet war. Vielleicht Sklaven, dachte er. Sie stiegen mühsam eine Treppe mit riesigen Stufen hoch. Als sie fast oben waren, erschien aus dem darüber liegenden Raum eine Frauengestalt, noch größer als das Mädchen, das ihnen den Weg gewiesen hatte: mit Händen wie Schaufeln und weit ausladenden Hüften; ihre Brüste ragten so weit vor, dass sie die kleinen, fremden Männer kaum zu sehen vermochte.
„Was wollt ihr hier?“
Keinos erklärte stammelnd, sie wollten zu König Antipathes. Die Riesin verzog die Lippen.
„Antipathes? Was wollt ihr von ihm?“
Ihre Stimme dröhnte laut, und auch derjenige, von dem die Rede war, fühlte sich gleich angesprochen und eilte herbei. Er überragte seine Frau um einiges und war noch weniger redselig als sie. Einen Augenblick lang stand er an der Treppe, die Ellbogen in die Hüfte gestemmt, mit den Händen den mächtigen Kopf abstützend, als könne dieser sonst hinabstürzen. Doch dann beugte er sich vor. Blitzschnell griff er nach Keinos, nahm ihn hoch wie eine Puppe und schleuderte ihn mit großer Wucht gegen die Wand. Danach setzte er sich hin, als sei nichts Besonderes geschehen und legte sich den toten Mann zurecht, offenbar in der Absicht, ihn zu verspeisen. Doch die Riesin nahm ihm übel, dass er sie nicht teilhaben ließ. Also versetzte sie ihm einen Hieb. Der boxte zurück, und bald entstand ein heftiger Schlagabtausch, der aber keine ernsten Folgen für die beiden hatte. Alle Schläge und Hiebe prallten scheinbar wirkungslos an ihren Leibern ab.
Die beiden Männer nutzten die Gelegenheit und liefen davon. Das fiel zunächst keinem auf, doch dann entstand ein höllischer Lärm. Wer laufen konnte, rannte hinterher, Männer, Frauen und Kinder. Es gelang den Flüchtigen, die kleiner und wendiger waren, durch das Schlagen von Haken die Verfolger bis zu den Schiffen auf Distanz zu halten. Sie hofften, sich retten zu können, aber diese Hoffnung trog. Denn jetzt kamen von überall her riesige Männergestalten herbeigelaufen mit Schultern, breiter als Wagenachsen. Sie schleuderten Steine herab, Unmengen von Steinen. Ein Schiff war bereits zerschmettert, als es Odysseus endlich gelang, die Haltetaue mit einem gewaltigen Hieb durchzuhauen. Sie ruderten davon und Todesangst beflügelte sie. Odysseus beobachtete mit starrem Gesicht, wie die Riesen ertrunkene oder erschlagene Männer aufspießten. Als wären es tote Fische! Immerhin kam es so nicht mehr dazu, dass die fürchterlichen Riesen das einzig verbliebene Schiff verfolgten, und vor allem diesem Umstand hatten die mit Odysseus und Eurylochos auf dem Schiff verbliebenen Männer ihre Rettung zu verdanken.


Anmerkung von ManMan:

Ab sofort erscheint jeden Sonntag ein neues Kapitel des Romans bei KV. Viele Spaß beim Lesen!

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