Hitchhiker

Erzählung zum Thema Hilfe/ Hilflosigkeit

von  Mutter

Ich stolpere voran, versuche, die größten Menschentrauben zu umgehen. Gelingt mir nicht immer. Ich rempele jemanden an, hinterlasse blutige Spuren auf beigefarbener Windseide, auf weißen Pants oder an Handtatschen aus hellem Leder. Die aufgeregten Schreie ignoriere ich, blende ich weg.
Sind die Bullen hinter mir her? Beobachten sie mich, oder haben sie bloß hektisch Fotos gemacht?
Keine Ahnung, kann mir vollkommen egal sein. Ich muss weiter, darf nicht stehen bleiben. Wie ein alter Diesel-Schlepper am Berg - gehst Du vom Gas runter, oder gibst zu viel Stoff, säuft Dir die Karre ab.
Ich spucke helles Blut aufs Pflaster. Noch ist die Lunge frei.

Ein, zwei Mal denke ich kurz darüber nach, mir andere Klamotten zu besorgen. Sie von Ständern links oder rechts wegzureißen, mir überzuwerfen, bin nicht sicher, ob mir das viel bringen würde. Alle Shops haben Security-Kerle vor der Tür, zu viele Scanger wie ich in der Innenstadt unterwegs. Die Penner würden mich schneller zu Boden reißen als ich 'Fuck!' sagen könnte. Denen ist das Blut egal - haben alle Handschuhe an. Stehen die drauf, so einen kaputten Typen wie mich plattzumachen.
Käme ich nicht weit.
Ich taste mich weiter, bin mir im Klaren darüber, dass ich eine blutige Spur hinterlasse, der leicht zu folgen ist. Viel zu leicht.
Seitlich von mir, rechts auf der Straße, nehme ich einen Wagen wahr. Bleibt auf gleicher Höhe, begleitet mich wie ein treuer Hund, der seinem Herrn mit großen Augen beim Sterben zusieht.
Ich stütze mich auf einem Mülleimer auf und drehe den Oberkörper zur Seite. Kneife die Augen zusammen, um meinen verschwimmenden Blick auf das Auto zu zwingen. Um zu erkennen, wer mein Jagdhund ist.
Die Beifahrertür wird aufgestoßen. Ein helles Gesicht lehnt sich zu mir rüber, einladend oder neugierig kann ich nicht sagen. Mir fällt auf, dass der Wagen weiter rollt. Nicht unkompliziert, das mit der Tür zu bewerkstelligen, ohne Unfall.
'Komm schon, du dämlicher Idiot', zischt eine helle Stimme. Eine Frau.
'Huh?', sage ich und stütze mich mit der zweiten Hand ebenfalls ab, um auf dem Metall nicht wegzurutschen. Die blutverschmierten Hände sind rutschig.
'Steig ein. Mach zu.'
Ich starre vor mir auf die Pflastersteine, als könne ich mich auf diese Weise besser konzentrieren. Klappt nicht. Ich raff nichts. Alles, was ich noch hatte, was mir noch geblieben ist nach dem Fight im Klo, ist mein Momentum. Das hat mir mein Begleiter genommen. Jetzt stecke ich fest, komm nicht weiter. Antrieb ist weg, oder ist da, aber nichts greift. Durchdrehende Räder.
'Hey, Arschloch, ich rede mit dir!'
Schnaubend hole ich Luft und stoße mich vom Mülleimer ab. Taumele in Richtung des Wagens, greife mit feuchten Krallen nach dem Türrahmen. Beuge mich keuchend nach unten, sehe ins dämmrige Innere. Muss grinsen, als ich Anne erkenne.
'Hey ...', stoße ich hervor.
Sie verzieht das Gesicht, wirkt ungeduldig. 'Los.'
Ich richte mich noch mal auf, als müsste ich mich umsehen. Sammele Kraft. Lasse mich dann, mit beiden Händen oben am Türrahmen, langsam ins Innere des Wagens herab. Anne macht mir Platz, damit ich nicht auf sie falle, als meine Finger am Blech abrutschen.
'Schaffst du ...', will sie wissen, vollendet den Satz aber nicht. Tritt stattdessen voll aufs Gas. Die Beschleunigung knallt meine Tür zu. Drückt mich in den Sitz und das Blut aus meinen Adern.
'Tut mir leid wegen der Polster ...', drücke ich heraus. Ich ahne, wie sie den Kopf schüttelt, sich aufs Fahren konzentriert.
Während ihre Fahrweise, viel zu schnell für die Innenstadt, mich hin und her wirft, schließe ich die Augen. Kurz, nur fünf Minuten, Mutti.

Ich wache auf, als der Wagen knirschend zum Stehen kommt, auf Kies parkt. Groggy schüttele ich den Kopf, sehe zu, wie Anne auf ihrer Seite aussteigt. Kurz darauf meine Wagentür öffnet und mich an der Jacke packt.
'Komm, ich will kein Aufsehen.'
Zusammen schaffen wir es, mich aus dem Wagen zu bugsieren. Schwach halte ich mich am Dach fest, und sehe mich benommen um. Wir stehen auf einem Parkplatz hinter einem riesigen Condo-Komplex, fünfzehn oder zwanzig Stockwerke. Vor uns liegt ein Eingang, vermutlich der Service-Aufzug.
Sie zieht sanft am Stoff, und ich folge ihr auf das Gebäude zu.
Wir nehmen den in gebürstetem Chrom gestylten Aufzug nach oben. Die rasante Geschwindigkeit hat kaum Zeit, sich in meinem Magen bemerkbar zu machen, bevor uns der Aufzug mit einem soften 'Pling' in einen hellen Flur entlässt. Die gesamte rechte Wand besteht aus Glas, und ich bin versucht, mich auf der anderen Seite abzustützen. Leichter Schwindel, obwohl ich eher nicht unter Höhenangst leide. Ich kann mich bremsen: Die eierschalenfarbene Wand würde mir meine verschmierten Pfoten vermutlich nicht verzeihen. Anne wäre eventuell ebenfalls weniger nachsichtig als bei ihrem Wagen.
Sie tippt einen Code in eine der Türen aus dunklem Edelholz, die sich mit einem leisen Klicken öffnet. Die junge Frau betritt die Wohnung vor mir und hält die Tür einladend auf.
Drinnen ist es genauso hell wie draußen - die gesamte Front des Condos besteht aus Glas und bietet einen unglaublichen Blick über die Industrie-Anlagen von Belfast und den Hafen. In der Ferne kann ich Harland & Wolff erkennen. Das Appartement ist riesig uns erstreckt sich über die gesamte Fläche des Stockwerkes.
'Willst du was trinken? Setz dich!' Sie deutet mit der Hand auf den Wohnbereich vor den großen Fenstern. Ich nicke schwach und schlurfe hinüber. Bevor ich mich matt auf eines der Sofas sinken lassen kann, berührt mich ihre Hand an der Schulter. Mit einem entschuldigenden Lächeln breitet sie eine dunkle Decke mit Tartan-Muster über den Polstern aus.
Ich nicke und lasse mich fallen.

'Hey Baby, what's cookin‘?', weckt mich Mollys Stimme abrupt auf. Ich fahre aus der Couch hoch - der heiße Schmerz in meiner Seite lässt mich sofort wieder zurücksinken.
'Fuck!' stöhne ich, während sie sich neben mich setzt.
Sie legt mir eine kühle Hand an die Stirn. Unwillkürlich schließe ich die Augen.
'Du glühst, Sweetie!'
No shit, Sherlock! Dabei fühle ich mich wie der gesunde Morgen. Ich rolle mit den Augen und beantworte ihr Lächeln mit zusammen gezogenen Augenbrauen.
'Was baust du für Scheiße, Kleiner?', sagt sie und erhebt sich. 'Bringst du mir den Melissengeist?'
Anne antwortet nicht - oder wenn, stumm. Ich schließe die Augen. Hatte mir das Ende meines ersten Jobs als Hitman anders vorgestellt, als sich zerfetzt auf dem Designer-Sofa von zwei high-class Lesben gesund pflegen zu lassen. Ich muss grinsen.
Auf der anderen Seite - warum eigentlich nicht?
Das Lächeln vergeht mir schlagartig. Ich bin mir nicht sicher, welche Scheiße genau ich dort im Kino gebaut habe - gut gelaufen ist der Job nicht, soviel steht fest.
Mit einem Seufzer lehne ich mich zurück und lasse den Blick über den grauen Himmel und die genauso graue Bucht da drunter wandern. Von Norden, aus dem Atlantik, zieht ein Sturm mit dichten Wolken auf.
'Du hast einen Hit durchgezogen, oder?', will Molly wissen, während sie mir die Stirn mit dem Alkohol abtupft. Der anfängliche, kalte Schmerz verdunstet sofort auf meiner Haut und nimmt einen Teil der Hitze aus meinen Schläfen mit. Ich möchte mich zur Seite kippen lassen und meinen Kopf auf Mollys Schoß betten. Die Augen schließen, einschlafen und im Leben nicht mehr aufwachen.
Stattdessen kommt Anne dazu, und die beiden fangen an, mich auszuziehen. Nicht so, wie ich mir das bereits ein Dutzend Mal vorgestellt habe. Entschlossen, sachlich und ohne gebührend auf meine protestierenden Schmerzlaute einzugehen.
Molly verzieht das Gesicht, als sie meine Seite sieht – der Stoff blutdurchtränkt.
'Schöne Scheiße', kommentiert Anne.
Molly schüttelt den Kopf. 'Der Kerl ist ganz andere Sachen gewöhnt. Du solltest mal den Rest seines Körpers sehen.'
Anne wirft mir einen schnellen Blick zu. Ich bekomme ein lüsternes Grinsen hin, sie schüttelt den Kopf.
Kurze Zeit später sitze ich mit frischen Verbänden, die sich stramm um meinen Oberkörper ziehen, auf dem Sofa, diesmal ohne dunkle Decke. Molly setzt sich gegenüber hin und reicht mir ein Glas mit Single Malt.
Zeitgleich nehmen wir einen Schluck von dem bernsteinfarbenen Getränk. Ich sehe sie an, warte darauf, dass sie etwas sagt.
Anfängt, mir den ganzen Dreck zu erklären. Und an welcher Stelle sie da mit drinhängt.
Sie nippt ein weiteres Mal, nickt. Ist bereit, loszulegen.

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Kommentare zu diesem Text

Kitten (36)
(22.09.09)
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 Mutter meinte dazu am 22.09.09:
Schön ... :)

Danke.
Alegra (41) antwortete darauf am 16.11.09:
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