Kirke

Text

von  ManMan

Dass die Insel, die das Schiff dann ansteuerte, den Namen Aiaia trug, dass hier Kirke wohnte, Zauberin, Göttin mit menschlicher Stimme, eine Schwester von Aietes, dem zauberkundigen Vater von Medea: Odysseus wusste es nicht. Und wäre es ihm bekannt gewesen, hätte er sich auch nicht abschrecken lassen, denn er und seine Männer befanden sich im Zustand totaler Erschöpfung. Zwei Tage und zwei Nächte ruhten sie am Strand. Am Morgen des dritten Tages erhob sich Odysseus als erster. Die Sonne schien, das Meer leuchtete ungewöhnlich blau und die Sicht war gut. Kaum dass Eos vom Morgenhimmel verschwunden war, stieg der Ithaker auch schon auf einen Hügel hinter den Dünen, nur um erneut in der Ferne Rauch aufsteigen zu sehen. Er setzte sich, ließ Sand durch die Finger rinnen und überlegte. War es nicht besser, mit möglichst vielen Männern dorthin zu gehen und nur eine kleine Wache am Schiff zurück zu lassen? So etwas wie bei den Laistrygonen sollte nicht noch einmal passieren.... Aber wenn ihnen das Schiff abhanden kam? Eine schwierige Abwägung. Er entschied, erst einmal Späher auszusenden. Auf dem Weg zum Schiff lief ihm ein großer Hirsch über den Weg. Odysseus hatte seinen Speer bei sich und zögerte nicht. Er war ein geübter Speerwerfer und traf das Tier zwischen den Schulterblättern. Es brach zusammen und war auf der Stelle tot. So band er die Füße mit Weidenruten zusammen und schleppte den Kadaver zum Schiff. Dort wurde er von seinen Leuten, die gerade aufgestanden waren, freudig begrüßt. Sie waren hungrig. Hatten sie nach all den Strapazen nicht ein Festmahl verdient? Als die Sonne hoch am Himmel stand, saßen sie zusammen am Feuer und aßen die ersten Fleischstücke. Es dauerte bis zum Einbruch der Dunkelheit, bis alles verzehrt war. Sie legten sich zur Ruhe.
Am Morgen teilte Odysseus die Männer in zwei Gruppen auf. Eine würde er selber befehligen, die andere Eurylochos. Das Los sollte entscheiden, wer auf dem Schiff zurück blieb. Es wählte Odysseus. Eurylochos zog mit einem Dutzend Männern los. Wieder diente der Rauch als Wegweiser, und es dauerte nicht lange, bis sie gefunden hatten, was sie suchten. Ein steinernes Haus, von allen Seiten zu sehen. Um das Haus herum streiften Bergwölfe und Löwen, die aber, als die Männer näher kamen, freundlich mit dem Schwanz wedelten wie man es von Hunden kannte, anstatt sich auf die Ankömmlinge zu stürzen. Aus dem Hause war Gesang zu hören. Eine helle Frauenstimme. Polites schlug vor, das Weib heraus zu rufen.
„Ob sie nicht vielleicht eine Göttin ist?“ fragte Xenaios ängstlich.
„Und wenn schon!“ beschied Eurylochos. „Wir sind genug Männer.“
Später, als er Odysseus von dem Vorfall erzählte, wollten es alle gewesen sein, die gerufen hatten, denn was war schon Besonderes dabei! Aber in Wirklichkeit spürten sie, dass etwas nicht stimmte und überließen es Eurylochos allein. Auf sein eindringliches Rufen hin öffnete sich schließlich die Tür. Der Anblick der Frau, die heraustrat, machte die Männer sprachlos. Besonders auffallend waren ihre Haare, dunkelrot, zu vielen Locken gerollt. Alles an ihr machte einen vollkommenen Eindruck. Für eine Frau war sie groß, selbst Eurylochos überragte sie kaum. Sie trug ein blaues Gewand, das um die Taille zusammengebunden war.
„Wer seid ihr, Fremde? Was führt euch zu mir? Kommt ihr in friedlicher Absicht?“
Ihre Stimme klang dunkel und angenehm. Ein Wolf und ein Löwe hatten sich an ihrer Seite niedergelassen. Die Frau streichelte beide, während sie redete. Polites fasste sich als erster. Er trat vor und verbeugte sich.
„Ja, Herrin, wir kommen in friedlicher Absicht. Wenn Ihr bereit seid, uns gastlich aufzunehmen, sind wir Euch dankbar. Wir haben zuletzt viele Schiffe und viele Gefährten verloren und...“
„Seid mir willkommen“, unterbrach die Frau ihn freundlich, ohne weitere Fragen zu stellen, und alle gingen mit. Nur Eurylochos hatte ein schlechtes Gefühl. Es hatte etwas Merkwürdiges, wie diese Männer der Frau so fügsam nachliefen. Er blieb lieber draußen.
Im Haus waren prächtige Sessel, bestickt mit Motiven aus der Tierwelt, ringsum Blumen und Körbe mit Obst, auf dem Tisch ein großer Krug mit Wein und mehrere Becher. Polites wunderte sich darüber. Es war, als hätte sie mit ihrem Besuch gerechnet. Sie nahm den Weinkrug, goss zwölf Becher voll und forderte sie zu einem Willkommenstrunk auf. Jeder nahm einen kräftigen Schluck. Und dann...was war das auf einmal? Was war nur mit den Männern geschehen? Männern? Wo waren sie geblieben?  Grunzlaute waren zu hören, aber keine menschlichen Stimmen! Tatsächlich: außer der Frau befanden sich nur noch Schweine im Raum! Die Frau aber öffnete, ehe sie sich’s versahen, eine Tür, die sich hinter dem Stall befand und trieb die Schweine mit ihrem Stab hinein. Es war just dieser Moment, in dem Eurylochos die Außentür öffnete. Er erstarrte. Nur Schweine! Wo waren die Gefährten?  Was hatte das zu bedeuten? War die Alte eine Zauberin? Rasch schloss er die Tür wieder. Wobei er nicht verhindern konnte, dass die Nymphe ihn bemerkte. Auch das noch! Jetzt fürchtete er um sein Leben und rannte, so rasch er konnte, zum Schiff und zu Odysseus. Dort angelangt, vermochte er zunächst kein Wort herauszubringen, so unglaublich, so schlimm war das, was er zu berichten hatte. Aber Odysseus blieb gelassen. Er runzelte nur die Stirne und wartete, die Hände in die Seiten gestemmt.
„Eine Zauberin“, stammelte Eurylochos, „sie ist eine Zauberin!“
„Wer ist eine Zauberin?“
„Eine Hexe! Eine Hexe! Sie hat alle Männer in Schweine verwandelt!“
Odysseus schaute ihn prüfend an. Hatte Eurylochos den Verstand verloren? Er drängte ihn, alles in Ruhe zu erzählen. Es dauerte eine Weile, bis dieser dazu in der Lage war. Als er den Bericht beendet hatte, verstand Odysseus seine panische Angst. Dennoch hängte er sich das Schwert um, nahm den Bogen und drängte Eurylochos, ihm den Weg zu zeigen. Aber der weigerte sich.
„Nein“, meinte er, „zu dieser Hexe kehre ich nicht zurück, bei allen Göttern!“
Er blieb bei seinem Entschluss, trotz aller Versuche von Odysseus, ihn umzustimmen. Schließlich ließ er sich den Weg erklären und erlaubte Eurylochos, auf dem Schiff zurück zu bleiben.

Die Insel war wirklich wunderschön. Während Odysseus zügig voranschritt, wurde er immer wieder von Pflanzen, Blumen, Sträuchern oder Vögeln abgelenkt. Er war entzückt. Einerseits. Doch ihm war auch bewusst, dass er einen Plan brauchte, sollte es ihm nicht so ergehen wie den anderen. Wenn es zutraf, was Eurylochos erzählt hatte, war die Frau entweder eine Göttin oder eine Sterbliche, die über magische Kräfte verfügte. Was sollte er da mit seinem Schwert ausrichten? Wenn er sie tötete, würden die Gefährten Schweine bleiben. Er musste sie zu der Einsicht bringen, dass es auch ihr Vorteile bringen würde, wenn sie die Verzauberung rückgängig machte. Aber wie? Er blieb vor der Grotte stehen und rief. Es dauerte nicht lange, bis die Gerufene vor das Haus trat.
„Wer seid Ihr, Fremder? Was führt Euch zu mir? Kommt Ihr in friedlicher Absicht?“ fragte sie auch diesmal.
Um seine Friedfertigkeit zu beweisen, nahm er das Schwert aus der Scheide und legte es zusammen mit dem Bogen auf den Boden. Aber es gelang ihm nicht, sich völlig zurück zu nehmen.
„Wollt Ihr mich ebenfalls in ein Schwein verwandeln?“
Das klang herausfordernd, aber die Frau lächelte nur.
„Ein Schwein? Wie kommt Ihr darauf?“ fragte sie unschuldig.
Odysseus schwieg.
Sie musterte ihn. Dann meinte sie mit einem verführerischen Lächeln:
„Nein, Ihr gefallt mir als Mann besser!“
„Aha“, meinte er trocken. „Und meine Gefährten? Sinddas keine Männer?“
„Eure Gefährten?“ gab sie sich erstaunt.
„Ihr sprecht von Euren Gefährten?“
Wie sie ihn ansah! Dann seufzte sie.
„Ach, lassen wir das doch! Kommt ins Haus und trinkt einen Becher Wein mit mir!“
Bald saßen sie in denselben prächtigen Sesseln, in denen zuvor die anderen gesessen hatten. Es fiel Odysseus schwer, ruhig zu bleiben. Kirke stellte zwei Becher mit Wein auf den Tisch. Es muss dieser Wein sein, überlegte Odysseus. Die Zauberin hatte etwas hineingetan, man kannte das ja von dieser Sorte Frauen...
„Bevor ich mit Euch trinke, möchte ich Eure Schweine sehen, ich höre sie ja grunzen.“
„Meine Schweine?“ Sie lachte, als hätte er einen guten Witz gemacht. „Na schön! Warum nicht?“ Sie ging zur Tür, während Odysseus blitzschnell die Becher vertauschte. Es gab dem Mann von Ithaka einen Stich ins Herz, als er das Dutzend sah, das sich aneinander drängte. Welche Macht war dieser Frau gegeben! Sie stand da mit verschränkten Armen und betrachtete die Schweine zu ihren Füßen, die gestern noch tapfere Krieger waren. Dann schloss sie die Stalltür. Sie kehrten zu den Sesseln zurück. Die Zauberin nahm ihren Becher.
„Trinken wir auf unser beider Wohl und auf das der Schweine.“
Und dann, kaum dass er getrunken hatte, folgte mit scharfer Stimme das Kommando: „Ab in den Stall!“
Dabei bewegte sie sich auf die Tür zu, öffnete sie und wartete. Aber der, der sich langsam auf sie zu bewegte, war weiterhin ein Mann, derselbe wie zuvor. Wie war das möglich? Und was wollte er? Er blieb vor ihr stehen. Sie war groß. Ein Kopf größer als Penelope, dachte er, und wie gut sie aussieht! Was mache ich mit ihr? Einerseits verspürte er den Wunsch, sie zu bezwingen, anderseits wusste er nicht, ob das seinem Anliegen dienlich sein würde. Wie sie ihn ansah!bUnd dann ging alles wie von selbst. Als er nach ihr griff, entzog sie sich seinen Händen nicht. Er presste sie an sich. Überwältigt von lange entbehrten Gefühlen ließ er alle Bedenken fahren und kannte nur noch das Ziel, diese Frau zu nehmen, jetzt gleich und auf der Stelle! Und sie schlang bereitwillig die Hände um seinen Leib. Ihre Lippen verschmolzen. Die Nymphe zog die Tür zum Stall zu und den bereitwilligen Odysseus zu ihrem Lager hinüber. Sie waren so erregt, dass das Scharren und Grunzen, das aus dem Stall herüber klang, ihrer Leidenschaft keinen Abbruch zu tun vermochte. Erstmals seit langer Zeit gelang es Odysseus, alle störenden Gedanken beiseite zu schieben und sich gänzlich der Lust hinzugeben. Auf dem Höhepunkt schoss es ihm durch den Kopf, ob er nur träume, wieder einmal. Der Gedanke verstärkte seine Lust. Später, als sie ermattet nebeneinander lagen, fragte Kirke:
„Wer bist du, dass du dem Zaubertrank widerstehst?“
„Und wer bist du, dass du Männer in Schweine verzaubern kannst? Bist du keine Sterbliche?“
„Kann sein“, war alles, was sie zur Antwort gab. Nach einer langen Pause nannte sie ihren Namen und fügte hinzu:
„Mir ist vorhergesagt worden, nur ein Sterblicher würde meinem Zaubertrank widerstehen. Nicht wahr, du bist Odysseus?“
„Ja“, sagte er und seine Augen blitzten, „ich bin Odysseus, und die Männer, die du in Schweine verwandelt hast, sind meine Gefährten, mit denen ich um Troja gekämpft habe.“
Seine Stimme klang empört, und er hatte sich vom Lager erhoben
„Eine Schande! Du musst sie zurückverwandeln! Sofort!“
Kirke blieb ruhig liegen, gestützt auf einen Arm, den Zeigefinger nachdenklich zum Kinn gestreckt. Ihr Gesichtsausdruck wirkte listig auf ihn.
„Habe ich dir schon gesagt, dass ich euch einlade, meine Gäste zu sein?“
„Zu Gast sein? Bei dir?“ I
n seinem Gehirn arbeitete es fieberhaft. Was hatte die Zauberin vor?
„Etwa als Schweine? Das kann nicht dein Ernst sein.“
„Na ja“, sagte sie gedehnt, „nicht für immer, aber...“
Er unterbrach sie:
„Wir sind auf der Rückfahrt von Troja, wir wollen endlich nach Hause!“
Auf seine Heftigkeit reagierte sie kühl.
„Warum sollte mir dann einfallen, wie ich deinen Gefährten ihre menschliche Gestalt wiedergebe?“
So ein hinterlistiges Weib! Odysseus war kaum imstande, seine Wut zu unterdrücken. Am liebsten hätte er... Ach, Unsinn! Damit würde er sich aller Hoffnungen berauben. Er wusste, dass er ohne ihre Hilfe keine Chance hatte.
„Wie soll ich wissen, dass du nicht eine neue List planst, wenn ich dir zustimme? Vielleicht wartest du eine Woche, und dann verwandelst du wieder Männer in Schweine, wenn ich nicht aufpasse, auch mich.“
Sie sah ihn lange an. „Steh auf!“ 
Odysseus zögerte. Schließlich erhob er sich. Er ging auf Kirke zu, um sie bei den Armen zu fassen.
„Trau dich nicht!“ kam es von ihr mit scharfer Stimme. „Ich habe, wenn ich will, auch andere Möglichkeiten als den Zaubertrank.“
„Aber was willst du von mir? Was soll ich tun?“
Sie umfasste seine Hüften, warf sich wieder auf das Lager und zog den Mann mit sich. „Dich will ich“, sagte sie, „Dich, nur dich! Ich habe dich schon immer gewollt!“
Sie zog ihm das Gewand von den Schultern.
„Komm, zeig mir noch einmal, dass du ein Mann bist, komm, zeig es mir!“
Obwohl keine Frau jemals so mit ihm gesprochen hatte, erregte es ihn sonderbar, wie sie mit ihm umging. Und als er ihrem Wunsche nachkam, geschah es mit einer Lust, die größer war als alles, was er sich bisher vorgestellt hatte.
„Du gehörst mir!“ rief sie immer wieder und er bestätigte, vom Rausch übermannt, ihre Worte.
„Ja, ja, ich gehöre dir! Ja, ich bin dein!“
Es war, als hätte sie ihn bereits verzaubert, und später, als sie wieder nebeneinander lagen, schämte er sich dessen und wollte zurücknehmen, dass er sich ihr versprochen hatte, aber sie ließ es nicht zu.
„Ich will dich haben!“ sagte sie und schmiegte sich an ihn. „Und jetzt, wo ich dich habe, werde ich dich nicht wieder gehen lassen.“
Da löste er sich von ihr.
„Nein“, sagte er entschieden. „Ich habe eine Gattin, die in Ithaka auf mich wartet.“
Kirke lachte auf.
„Die auf dich wartet? Glaubst du daran? Was glaubst du, wie oft sie sich von anderen Männern vernaschen ließ, während ihr um Ruhm und Ehre gekämpft habt?“
„Woher willst du das wissen?“ fragte er zornig. „Ich glaube dir nicht.“
„Ich weiß es, weil ich eine Frau bin“, sagte sie und bewegte sich aufreizend mit den Hüften. „Eine Frau will nicht immer warten.“
Obwohl er stark erregt war und kurz davor stand, ihr erneut zu Willen zu sein, behielt diesmal sein Verstand die Oberhand..
„Was ist mit meinen Gefährten?“
„Denen geht es gut. Sie haben Futter und fühlen sich wohl. Hör nur, wie sie grunzen!“
So kam er nicht weiter. Er musste seine Strategie ändern. Nicht umsonst galt er als ein listiger Mann.
„Gut“, meinte er und streichelte dabei ihr Gesicht aufmunternd, „aber danach verwandelst du sie wieder, nicht wahr?“
„Aber ja! Und jetzt komm endlich!“
Kirke öffnete die Stalltür weit, nahm einen Stab und trieb die Schweine hinaus. In einer Reihe mussten sie sich aufstellen, und Odysseus sorgte dafür, dass sie auch stehen blieben. Nun bestrich die Nymphe jedes der Schweine mit einem Zaubermittel. Dann nahm sie den Stab und berührte sie damit. Und siehe da: Die Borsten fielen ab. Aus Schweinebeinen wurden Hände und Füße, aus Schweineköpfen wurden solche von Menschen, aus Schweinekörpern menschliche Leiber. Sie freuten sich unbändig. Sie redeten aufgeregt durcheinander und waren sich nicht einig, ob sie während ihrer Verwandlung wie Schweine oder wie Menschen gefühlt hatten.
„Seid ihr Kirke dankbar dafür, dass sie euch wieder zu Menschen gemacht hat?“ erkundigte sich Odysseus nicht ohne Hintergedanken, und als die Gefährten eifrig zustimmten, seufzte er und meinte: „Es hat aber seinen Preis!“
Was er denn damit meine? Die Frage kam von Xenaios.
„Ganz einfach: Dass wir eine Zeitlang auf der Insel bleiben werden. Ihr könnt hier jagen und Wettkämpfe veranstalten.“
Sogleich umringten die Männer Kirke, denn es war klar, dass es sich um eine Bedingung von ihr handelte. Sie verhielten sich dabei so respektvoll, dass es auf Odysseus eher den Eindruck machte, eine Schar Kinder sei um die Zauberin versammelt als eine Gruppe gefürchteter, kampferprobter Krieger. Hatte die Verwandlung ihr Wesen verändert? Immerhin versicherte die Nymphe nun, sie werde alle heimkehren lassen, und zwar als Menschen. Die Männer glaubten ihr, selbst der kritische Xenaios, der allerdings zu Recht darauf hinwies, dass Eurylochos noch fehlte, und die anderen Gefährten, die auf dem Schiff zurückgeblieben waren, ebenfalls.
„Dann hol sie herbei!“ befahl Odysseus, und Kirke ergänzte:
„Wir wollen ein üppiges Mahl einnehmen. Es soll an nichts fehlen. Sagt das den anderen Männern.“
Die auf dem Schiff Zurückgebliebenen zögerten mitzukommen. Umso größer war ihre Freude, als sie die Angaben mit eigenen Augen überprüfen konnten. Selbst Eurylochos war in aufgeräumter Stimmung und hatte nichts dagegen, einige Zeit hier zu bleiben. Bald waren auch die Neuankömmlinge frisch gebadet, gesalbt und neu eingekleidet. Kirke bat zu Tisch und forderte die Männer auf, sich beim Essen und Trinken zu stärken und neuen Mut zu gewinnen.
Es wurde ein ausgedehntes Mahl, eines von vielen in der Folgezeit. Das Wetter war gleich bleibend schön, Die Männer maßen ihre Kräfte in Wettkämpfen und erholten sich anschließend bei köstlichem Wein. So ließ es sich aushalten, viele Monde lang, vielleicht gar für immer? Doch es kam der Tag, an dem die Stimmung umschlug, unvermutet wie ein Wetterwechsel, aber ebenso unvermeidlich. Wie es dazu kam, konnte der Mann aus Ithaka weder sich selbst noch der göttlichen Nymphe erklären.
„Sie wollen eben nach Hause“,  sagte er Schulter zuckend. „Eurylochos und Xenaios reden seit Tagen von nichts anderem.“
Er lag auf dem Lager neben ihr. Eben noch hatte er ihr so stürmisch seine Zuneigung gezeigt, dass Kirke überrascht war. Sie schwieg und dachte nach. Warum gefiel es ihm hier auf einmal nicht mehr? Auf den Gedanken, dass die Menschen sich auf Dauer nicht gegen ihren Willen hier festhalten ließen, kam sie erst nach einiger Überlegung. Seufzend meinte sie zu dem Mann, der geduldig wartend neben ihr lag:
„Ihr Menschen wisst wahres Glück nicht zu schätzen. Immer strebt ihr danach, es zu vergrößern, und dabei geht es euch dann verloren.“
Sie stützte sich auf den Arm und schaute dem Sterblichen, noch einmal sehnsüchtig in die Augen.
„Ja“, meinte sie dann Stirn runzelnd, „auch jetzt werdet ihr noch lange brauchen, bis ihr am Ziel seid.“
„Warum?“
„Ihr müsst eine weitere Reise hinter euch bringen, ehe ihr die Fahrt nach Ithaka fortsetzen könnt.“
„Eine weitere Reise? Was soll das heißen? Sind wir nicht schon genug gereist?“
Seine Stimme klang gereizt. Die Nymphe erwiderte Schulter zuckend:
„Die Götter sind noch nicht bereit, euch die Heimfahrt zu erlauben. Sie wollen, dass ihr vorher die Unterwelt besucht.“
Die Unterwelt? Odysseus richtete sich erschrocken auf.
„Wohin?“
„Ja, du hast richtig gehört“,  sagte Kirke mit fester Stimme. „Ihr müsst in das Reich des Hades, dorthin, wo sich die Seele des Sehers Teiresias befindet. Es ist die einzige Seele, der Persephone auch nach dem Tode ihre geistigen Fähigkeiten belassen hat.“
„Ja, aber...“, setzte Odysseus an, doch die Nymphe unterbrach ihn. „Nur er kann euch sagen, wie ihr nach Hause kommt.“
Was sollte das? Was hatten die Götter diesmal mit ihm vor?
„Soviel ich weiß, hat noch kein Sterblicher je die Unterwelt betreten. Wie soll ich den Hades wieder verlassen?“
„Pass auf! Ich erkläre dir alles genau:
Ihr richtet zuerst den Mast und setzt Segel. Genug Wind werdet ihr haben, und der wird euer Schiff treiben, bis ihr Land seht. Unfruchtbare Weiden, Erlen und Pappeln werden euch die Nähe der Totenwelt anzeigen. Dort, im Hades, fließen zwei Ströme, der Kokytos und der Periphlegeton, die beide in den Acheron münden. An der Stelle, wo sie zusammenfließen, ist ein Felsen. Dort musst du eine Grube ausheben. Dann gießt du Sühneopfer ringsum für alle Toten aus, zuerst Honig und Milch, dann süßen Wein, schließlich Wasser, in das du weißes Mehl gestreut hast. Gelobe den Toten, dass du, wenn du wieder in Ithaka bist, eine Kuh opfern und für das Feuer nur edelstes Material verwenden wirst, dass du außerdem für Teiresias den größten Widder der ganzen Herde opfern wirst, einen schwarzen Widder, dessen Kopf dem Reich der Finsternis zugewandt sein muss...“
„Wenn ich wieder in Ithaka bin“,  murmelte Odysseus bitter und schwermütig. Kirke strich ihm tröstend über den Kopf, eine Geste, die etwas Mütterliches hatte.
„Dein Kopf“, fuhr sie fort, „muss zurück gewendet bleiben zu den Fluten des Stromes. Du darfst ihn nicht umdrehen, hörst du!“
Sie schaute ihn ernst an und er nickte.
„Wenn die Seelen der Toten kommen, treibe die Gefährten energisch an, dass sie zwei Schafe abziehen, sie ins Feuer werfen und dabei Hades und Persephone anbeten. Du selber musst dein Schwert ziehen, dich hinsetzen und verhindern, dass sich die Luftgebilde der Toten dem Blut nähern, bevor du Teiresias um Rat gefragt hast. Lange wird es nicht dauern, dann kommt der Seher und sagt dir, wie du in die Heimat kommst.“
Odysseus wollte aufstehen, aber sie schmiegte sich an ihn und drängte ihn, zu bleiben. „Es ist unsere letzte Nacht“,  flüsterte sie. Wie zart dieser Mann zu sein vermochte!

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